Samstag, 18. Juni 2022
Geht es hier um Gerechtigkeit?
Ein reicher Mann konsumierte bis zum Umfallen. Vor der Einfahrt seines Anwesens wartete ein völlig verarmter Mann, dessen Körper mit furchtbaren Ekzemen übersät war. In der Hoffnung, etwas Essbares im Müll zu finden, strich er täglich um das Anwesen herum, aber der Reiche hetzte die Hunde auf ihn, die scharf darauf waren, an seinen Wunden zu lecken.
Schließlich starb der arme, kranke Mann und kam in den Himmel, in Abrahams Schoß. Wenig später starb auch der Reiche, landete aber im düsteren Totenreich, wo er entsetzliche Qualen litt. Von dort sah er den Armen, der nun glücklich, leicht und beschwingt in der himmlischen Ewigkeit lebte. Er schrie zu Abraham: "Sag dem Armen, er soll meine Lippen kühlen."
Doch Abraham antwortete erbarmungslos: "Du hast Deinen Anteil am Glück schon im irdischen Leben ausgeschöpft. Lazarus hier dagegen hatte so viel Pech, das reicht auch für die Ewigkeit. Außerdem ist der Abgrund zwischen Himmel und Totenreich zu groß. Niemand kann hinüber."

Da bat der Reiche: "Dann schick den Lazarus wenigstens zu meinen Brüdern, damit er sie warnt."
"Wozu?" fragte Abraham. "Sie können in den Büchern des Mose und der Propheten nachlesen, wie sie leben sollen. Sie müssen nur darauf hören."
"Nein!", rief der Reiche. "Ich fürchte sie brauchen handfeste Beweise. Da muss schon einer von den Toten zurückkehren und ihnen sagen, wie es ist. Auf den hören sie."
Da antwortete Abraham: "Wenn sie schon nicht auf Mose und die Propheten hören, dann wohl kaum auf jemanden, der sagt, er sei von den Toten auferstanden."

In der Bibel steht diese Erzählung so:
https://www.bibleserver.com/EU/Lukas16%2C19-31

Dies ist keine Geschichte mit Historizitätsanspruch. Es ist ein Lehrmärchen, das Jesus erfunden hat, um etwas zu erklären. Vordergründig kann man folgende Schlüsse aus diesem Text ziehen:
1. Der irdische Konsumrausch ist endlich und von all dem Luxus kann man nichts mitnehmen, wenn die Reise zu Ende geht.
2. Wer im Leben leidet und niemand anderem etwas Böses zufügt, wird in der Ewigkeit für immer erlöst davon sein.
3. Wer sich im Angesicht des Leidens anderer ein schönes Leben macht und sie in ihrem Leid verhöhnt, wird am Ende bestraft und seine Packung Elend in der Ewigkeit erhalten.
4. Ist man erst einmal gestorben, ist der Drops gelutscht, dann kann man nichts mehr geradebiegen, man muss sich zu Lebzeiten beeilen, es richtig zu machen.
5. Manche verschließen einfach ihr Herz vor der Einsicht, dass ein gutes Leben mehr ist, als es sich selbst gut gehen zu lassen. Gott rennt ihnen nicht ewig hinterher und so sind sie selbst Schuld, wenn sie am Ende das Nachsehen haben.

Als Kind habe ich solche Geschichten nicht infrage gestellt. Heute geht mir dieses naive Menschenbild auf die Nerven. Die Guten kommen in den Himmel, die Bösen in die Hölle, ausgleichende Gerechtigkeit, Genugtuung? ich bin nicht sicher, ob Jesus von Nazareth solche Botschaften vermitteln wollte. Das sind doch eher niedere Motive, menschlich zwar, aber gleichzeitig Menschenverachtend, eindimensional und schlicht.

Was hat den Reichen zu so einem erbarmungslosen Menschen gemacht? Warum glaubt er, dass seine Brüder einen Boten aus dem Jenseits brauchen, um aufzuwachen? Und warum landet der arme Lazarus in dieser Geschichte nicht bei Gott sondern im Schoß Abrahams? Ist der Schoß Abrahams nicht der Ursprung der Angehörigen des jüdischen Volkes? Geht es hier am Ende um einen Neustart?

Vielleicht geht es in diesem Märchen gar nicht um die Ewigkeit sondern um das Leben, das wir alle kennen. Vielleicht gibt es eine menschliche Gerechtigkeit, die so funktioniert, dass die Sachlage sich jederzeit ändern kann, das Armen und Kranken Glück und Barmherzigkeit begegnen und Reiche und erbarmungslose in den Abgrund stürzen. Ihre Empörung, dass die, auf die sie einst herabgeblickt haben, nun in einer viel besseren Situation sind, ist anmaßend, aber wahrscheinlich. Ebenso wahrscheinlich ist, dass sie ihrerseits nicht mit menschlichem Erbarmen rechnen können. Und dass diejenigen, die bislang vom Schicksal verschont geblieben sind, unverbesserlich an ihrer Menschenverachtung festhalten, egal wer ihnen die möglichen Folgen vor Augen hält, ist ebenso realistisch.

Es ist eine Warnung an all jene, die vom Schicksal verwöhnt sind, nie zu vergessen, dass das Blatt sich wenden kann und sie selbst vielleicht eines Tages die Hilfe brauchen, die sie jetzt noch geben können.

Der Kuchen reicht für alle. Seien wir nicht so gierig. Am Ende werden wir nur fett und bekommen Stoffwechselerkrankungen.

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