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Donnerstag, 9. April 2020
Jule – Eine kleine Science-Fiction zur Lücke im Evangelium für Gründonnerstag 2020
c. fabry, 13:05h
Es war fast so wie früher. Sie saßen entspannt in Karins Wohnküche, in der behaglichen Wärme, die die Anwesenden verströmten, versammelt um einen Tisch der sich unter den Leckereien bog, den frisch gekochten und den mitgebrachten.
Anja erinnerte sich an ihre Kindheit, als die Freiheit noch selbstverständlich war, die Gespräche der Erwachsenen unbefangen, Gespräche übers Wetter oder Politik ohne große Aufregung aber auch ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es herrschte überall Offenheit. Natürlich hatten schon damals viele geklagt über einen invasiven Staat, Betrug, Vertuschung und es war allen immer ein bisschen unbehaglich gewesen, wenn man im Dezember in Shorts nach draußen gehen konnte oder wenn die Faschisten mal wieder in irgendein Parlament einzogen. Aber das Leben war schön gewesen. Den eigenen Kindern gegenüber musste sie jetzt ständig den Mund halten, damit sie am Ende nichts ausplauderten. Und das Leben hatte seine Schönheit verloren mit all dem Zuchtgemüse, dem Fleisch aus der Petrischale, ganz zu schweigen von den chemischen Breis, Sirups und Pülverchen, die alles mögliche enthielten, was der Körper so zum Überleben brauchte.
Hoffentlich könnten sie bald mal wieder nach draußen gehen. Im Augenblick war das undenkbar, bei dem stetig anhalten Sturm. Da war keine frisch Luft, nur Staub, der sich in sämtlichen Körperöffnungen und vor allem in den Atemwegen festsetzte.
Die Mehrheit hatte längst aufgegeben. Der point of no return lag schon lange hinter ihnen. Aber dann hatten sie Joshua kennengelernt, bei dem interdisziplinären Forschungsprojekt zum Thema Lebensraumgewinnung. Und Joshua hatte echte Visionen. Kleine künstliche Areale, in denen man sich der Illusion hingeben konnte, einfach spontan vor die Tür gehen zu können, das hatte ihm nicht gereicht. Joshua glaubte daran, dass die Erde sich erholen könnte. Es bedurfte dafür nur einiger Anstrengung und sein Konzept war so einfach wie genial, es konnte funktionieren, aber es bedeutete auch Schluss mit Wachstum und Gewinnmaximierung und da spielten die Ansager nicht mit. Solche Umtriebe wurden gern im Keim erstickt, egal aus welcher Ecke sie kamen, sei es nun die wissenschaftliche, die politische oder gar die religiöse. Religion war ohnehin längst verboten. Wer sich beim Beten oder gar gemeinsamen spirituellen Handlungen erwischen ließ, war reif für die Zelle im Produktionszentrum. Nein, niemand nannte es beim Namen, das Arbeitslager, Euphemismen waren das Gebot der Stunde.
Aber ihre Gemeinschaft war trotzdem stärker geworden, hatte sich im Untergrund organisiert und längst heimlich mit der Umsetzung von Joshuas Konzept begonnen. Joshuas Pläne gerieten allerdings allmählich ins Unheimliche. Er machte ständig so seltsame Andeutungen, dass an einem bestimmten Punkt die Bombe platzen müsse, dann würden die Mächtigen Wind von dem Projekt bekommen und es massiv bekämpfen, das sei aber notwendig, um die Massen zu mobilisieren, deren Widerstandsgeist zu wecken, da müsse man Opfer bringen, das sei unvermeidlich.
Diese Ausführungen überforderten sie alle. Sie ahnten, dass ihr klügster Kopf sie verlassen würde. Diese mögliche Katastrophe drängten sie beiseite. Endlich gab es mit Joshua ein Fünkchen Hoffnung, daran hielten sie fest.
Und jetzt saßen sie hier in Karins Küche, Johanna kuschelte sich an Joshuas Schulter, Peter machte schlüpfrige Bemerkungen und Andreas ermahnte ihn, sich jedweder sexistischer Äußerungen zu enthalten, das sei ja sowas von letztes Jahrtausend. Peter entgegnete, seine Witze seien nicht sexistisch, nur sexualisiert, er werte Johanna nicht ab und schreibe ihr auch keine typisch weiblichen Eigenschaften zu, wenn er ihr erotische Absichten gegenüber Joshua unterstelle.
Die Stimmung war ausgelassen am Tisch, aber es lag auch etwas in der Luft, das alle spüren konnten, aber niemand wahrhaben wollte. In diese gespannte Atmosphäre hinein sagte Joshua etwas Ungeheuerliches: „Schon bald wird mich einer von Euch ausliefern.“
Alle sahen sich erschrocken an. Niemand traute irgend einem anderen so etwas zu. Sie erinnerten sich aber, wie oft Joshua von der menschlichen Unzulänglichkeit gesprochen hatte und fragten sich schließlich selbst, ob sie dazu fähig wären.
Peter stieß Johanna in die Seite und zischte ihr zu: „Frag ihn, ob er schon weiß, wer es ist.“
Johanna flüsterte Joshua in Ohr: „Weißt du schon wer?“
Joshua antwortete: „Derjenige, der gleichzeitig mit mir zusammen mit seinem Brot das Hommus vom Teller wischt.“
Alle aßen Hommus mit Brot und am Ende fiel es niemandem auf, dass es Jule war, die vollkommen synchron mit Joshua den letzten Rest mit einem Stück Brot vom Teller wischte. Aber Jule selbst fiel es schon auf. Sie erschrak heftig. Sie verehrte Joshua. Auslieferung, Verrat, das war nicht ihre Sache. Aber er sah sie an, freundlich, mit festem, ernstem Blick und sagte: „Was du tust, das tue bald.“
Einer musste es tun. Oder eine. Das hatte er ja schon so oft gesagt. Also war es jetzt an der Zeit.
Niemand verstand, was Joshua da zu Jule gesagt hatte. Sie dachten, Jule solle noch etwas einkaufen oder die Reste vom Festmahl an Bedürftige verteilen.
Sie verließ die Wohnung und ging hinaus in die Nacht.
Epilog
Später waren alle froh, dass sie es nicht gewesen waren. Jule, die Schlampe, ganz richtig, dass sie sich in ihrer Verzweiflung aufgehängt hatte.
Nur Peter fühlt sich schäbig. Er hatte nämlich behauptet, Joshua gar nicht zu kennen, als sie ihn verhört hatten, dabei hätte er ihn vielleicht mit einer geschickten Aussage retten können. Aber Peter war noch nie die hellste Kerze auf der Torte gewesen. Vermutlich wäre es ohnehin daneben gegangen.
Niemand fragte nach Jules Motiven. Sie unterstellten ihr abwechselnd Geldgier, Geltungssucht, Rache (vielleicht hatte sie Joshua Avancen gemacht und der hatte sie zurückgewiesen) oder gar, dass sie für den Staatsschutz tätig gewesen sei.
Dabei hatte sie nur getan, von dem sie vermutet hatte, dass Joshua es von ihr verlangte. So oft hatte er davon gesprochen, dass er sich für die Sache opfern müsse, damit die Bewegung ins Rollen käme. Er hatte jemanden gebraucht, der die Behörden auf ihn ansetzte und Jule hatte er als dafür passend ausgewählt. Später, nachdem sich alle von ihr zurückzogen, war sie nicht mehr so sicher, ob sie Joshua richtig verstanden hatte. Schließlich hatte sie den Druck nicht mehr ausgehalten.
Alle anderen sonnten sich im Glanz ihrer Selbstgerechtigkeit, hielten sich aber ansonsten weiterhin bedeckt. Speerspitzen der Bewegung hätten anders ausgesehen. Bis auf Peter, der hatte als Einziger das Gefühl, dass er etwas gutzumachen hätte. An Joshua. Und an Jule. An Jule ganz besonders.
Inspiriert von Johannes 13, 21-30
Anja erinnerte sich an ihre Kindheit, als die Freiheit noch selbstverständlich war, die Gespräche der Erwachsenen unbefangen, Gespräche übers Wetter oder Politik ohne große Aufregung aber auch ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es herrschte überall Offenheit. Natürlich hatten schon damals viele geklagt über einen invasiven Staat, Betrug, Vertuschung und es war allen immer ein bisschen unbehaglich gewesen, wenn man im Dezember in Shorts nach draußen gehen konnte oder wenn die Faschisten mal wieder in irgendein Parlament einzogen. Aber das Leben war schön gewesen. Den eigenen Kindern gegenüber musste sie jetzt ständig den Mund halten, damit sie am Ende nichts ausplauderten. Und das Leben hatte seine Schönheit verloren mit all dem Zuchtgemüse, dem Fleisch aus der Petrischale, ganz zu schweigen von den chemischen Breis, Sirups und Pülverchen, die alles mögliche enthielten, was der Körper so zum Überleben brauchte.
Hoffentlich könnten sie bald mal wieder nach draußen gehen. Im Augenblick war das undenkbar, bei dem stetig anhalten Sturm. Da war keine frisch Luft, nur Staub, der sich in sämtlichen Körperöffnungen und vor allem in den Atemwegen festsetzte.
Die Mehrheit hatte längst aufgegeben. Der point of no return lag schon lange hinter ihnen. Aber dann hatten sie Joshua kennengelernt, bei dem interdisziplinären Forschungsprojekt zum Thema Lebensraumgewinnung. Und Joshua hatte echte Visionen. Kleine künstliche Areale, in denen man sich der Illusion hingeben konnte, einfach spontan vor die Tür gehen zu können, das hatte ihm nicht gereicht. Joshua glaubte daran, dass die Erde sich erholen könnte. Es bedurfte dafür nur einiger Anstrengung und sein Konzept war so einfach wie genial, es konnte funktionieren, aber es bedeutete auch Schluss mit Wachstum und Gewinnmaximierung und da spielten die Ansager nicht mit. Solche Umtriebe wurden gern im Keim erstickt, egal aus welcher Ecke sie kamen, sei es nun die wissenschaftliche, die politische oder gar die religiöse. Religion war ohnehin längst verboten. Wer sich beim Beten oder gar gemeinsamen spirituellen Handlungen erwischen ließ, war reif für die Zelle im Produktionszentrum. Nein, niemand nannte es beim Namen, das Arbeitslager, Euphemismen waren das Gebot der Stunde.
Aber ihre Gemeinschaft war trotzdem stärker geworden, hatte sich im Untergrund organisiert und längst heimlich mit der Umsetzung von Joshuas Konzept begonnen. Joshuas Pläne gerieten allerdings allmählich ins Unheimliche. Er machte ständig so seltsame Andeutungen, dass an einem bestimmten Punkt die Bombe platzen müsse, dann würden die Mächtigen Wind von dem Projekt bekommen und es massiv bekämpfen, das sei aber notwendig, um die Massen zu mobilisieren, deren Widerstandsgeist zu wecken, da müsse man Opfer bringen, das sei unvermeidlich.
Diese Ausführungen überforderten sie alle. Sie ahnten, dass ihr klügster Kopf sie verlassen würde. Diese mögliche Katastrophe drängten sie beiseite. Endlich gab es mit Joshua ein Fünkchen Hoffnung, daran hielten sie fest.
Und jetzt saßen sie hier in Karins Küche, Johanna kuschelte sich an Joshuas Schulter, Peter machte schlüpfrige Bemerkungen und Andreas ermahnte ihn, sich jedweder sexistischer Äußerungen zu enthalten, das sei ja sowas von letztes Jahrtausend. Peter entgegnete, seine Witze seien nicht sexistisch, nur sexualisiert, er werte Johanna nicht ab und schreibe ihr auch keine typisch weiblichen Eigenschaften zu, wenn er ihr erotische Absichten gegenüber Joshua unterstelle.
Die Stimmung war ausgelassen am Tisch, aber es lag auch etwas in der Luft, das alle spüren konnten, aber niemand wahrhaben wollte. In diese gespannte Atmosphäre hinein sagte Joshua etwas Ungeheuerliches: „Schon bald wird mich einer von Euch ausliefern.“
Alle sahen sich erschrocken an. Niemand traute irgend einem anderen so etwas zu. Sie erinnerten sich aber, wie oft Joshua von der menschlichen Unzulänglichkeit gesprochen hatte und fragten sich schließlich selbst, ob sie dazu fähig wären.
Peter stieß Johanna in die Seite und zischte ihr zu: „Frag ihn, ob er schon weiß, wer es ist.“
Johanna flüsterte Joshua in Ohr: „Weißt du schon wer?“
Joshua antwortete: „Derjenige, der gleichzeitig mit mir zusammen mit seinem Brot das Hommus vom Teller wischt.“
Alle aßen Hommus mit Brot und am Ende fiel es niemandem auf, dass es Jule war, die vollkommen synchron mit Joshua den letzten Rest mit einem Stück Brot vom Teller wischte. Aber Jule selbst fiel es schon auf. Sie erschrak heftig. Sie verehrte Joshua. Auslieferung, Verrat, das war nicht ihre Sache. Aber er sah sie an, freundlich, mit festem, ernstem Blick und sagte: „Was du tust, das tue bald.“
Einer musste es tun. Oder eine. Das hatte er ja schon so oft gesagt. Also war es jetzt an der Zeit.
Niemand verstand, was Joshua da zu Jule gesagt hatte. Sie dachten, Jule solle noch etwas einkaufen oder die Reste vom Festmahl an Bedürftige verteilen.
Sie verließ die Wohnung und ging hinaus in die Nacht.
Epilog
Später waren alle froh, dass sie es nicht gewesen waren. Jule, die Schlampe, ganz richtig, dass sie sich in ihrer Verzweiflung aufgehängt hatte.
Nur Peter fühlt sich schäbig. Er hatte nämlich behauptet, Joshua gar nicht zu kennen, als sie ihn verhört hatten, dabei hätte er ihn vielleicht mit einer geschickten Aussage retten können. Aber Peter war noch nie die hellste Kerze auf der Torte gewesen. Vermutlich wäre es ohnehin daneben gegangen.
Niemand fragte nach Jules Motiven. Sie unterstellten ihr abwechselnd Geldgier, Geltungssucht, Rache (vielleicht hatte sie Joshua Avancen gemacht und der hatte sie zurückgewiesen) oder gar, dass sie für den Staatsschutz tätig gewesen sei.
Dabei hatte sie nur getan, von dem sie vermutet hatte, dass Joshua es von ihr verlangte. So oft hatte er davon gesprochen, dass er sich für die Sache opfern müsse, damit die Bewegung ins Rollen käme. Er hatte jemanden gebraucht, der die Behörden auf ihn ansetzte und Jule hatte er als dafür passend ausgewählt. Später, nachdem sich alle von ihr zurückzogen, war sie nicht mehr so sicher, ob sie Joshua richtig verstanden hatte. Schließlich hatte sie den Druck nicht mehr ausgehalten.
Alle anderen sonnten sich im Glanz ihrer Selbstgerechtigkeit, hielten sich aber ansonsten weiterhin bedeckt. Speerspitzen der Bewegung hätten anders ausgesehen. Bis auf Peter, der hatte als Einziger das Gefühl, dass er etwas gutzumachen hätte. An Joshua. Und an Jule. An Jule ganz besonders.
Inspiriert von Johannes 13, 21-30
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