Samstag, 5. Juni 2021
Im Innern des Wals - Jona im Lockdown?
Die Jona-Geschichte ist hinlänglich bekannt - zumindest in groben Zügen: Prophet erhält göttlichen Auftrag, den der Dekadenz anheimgefallenen Bewohnern der Großstadt Ninive dem gerechten Zorn Gottes in Form einer Apokalypse anzukündigen, die Angelegenheit wird ihm zu heiß, er versucht sich zu drücken, indem er auf einem Segelschiff in ein weit entferntes Land flieht, aber vor Gott kann man nicht weglaufen, da trifft ihn ein Sturm auf dem Meer, alle könnten sterben und weil Jona sich für das himmlische Unwetter verantwortlich fühlt, opfert er sich und lässt sich in die Fluten werfen. Dann kommt ein Wal oder ein riesiger Fisch und verschluckt ihn. Inwendig dankt er Gott für seine Rettung und das Tier spuckt ihn schließlich unversehrt an Land. Ende Teil 1
Anfang und Ende dieses ersten Teils bilden den Predigttext für den ersten Sonntag nach Trinitatis, also für den 06.06.2021
https://www.bibleserver.com/LUT/Jona1%2C1-2
https://www.bibleserver.com/LUT/Jona2%2C11

Spannend finde ich, dass Jona aus Angst um sein Leben versucht, vor dem Auftrag zu fliehen. Als dann sein Leben auf der Flucht tatsächlich bedroht ist, ist er plötzlich bereit, es für alle, die durch ihn in Not geraten sind, zu opfern. Und als er es am wenigsten erwartet und fest damit rechnet, in den Tiefen des Mittelmeeres zu ertrinken, wendet sich das Blatt und er wird gerettet. Auf seltsame Art, irgendwie auch bedrohlich, man stelle sich vor, man wird von einem riesigen Tier verschluckt, so ganz glücklich wäre ich da nicht. Eng, dunkel, glitschig, stinkig und eine berechtigte Angst, einfach nur verdaut zu werden. Bemerkenswert, dass er in dieser Situation bereits Loblieder auf seinen Schöpfer singt. Was für eine Zuversicht, welch ein Gottvertrauen.

Ein Schelm, wer Jona im Wal mit uns Gläubigen im Corona-Lockdown vergleicht. Zunächst kann man diesen Zusammenhang konstruieren: Das Virus brach über uns herein wie ein Sturm auf hoher See, wir drohten alle dahingerafft zu werden, dann kam der Impfstoff früher als erwartet und jetzt sitzen wir alle im Inneren des Wals und warten darauf, dass wir bald wieder raus können. Wir sind noch einmal davon gekommen, Gott hat uns gerettet.

WAS FÜR EIN QUATSCH!

Mehr als dreieinhalb Millionen Menschen hat das Virus weltweit schon getötet und wir können wohl davon ausgehen, dass die vier Millionen voll werden.
173 Millionen hat es weltweit bereits erwischt. 10 - 20 Prozent werden danach nie wieder richtig gesund, manche bleiben sogar ihr Leben lang ein Pflegefall.
Diese Menschen würden wir verhöhnen, wenn wir behaupteten, Gott habe uns von Covid 19 gerettet.

Die Jona-Geschichte ist kein überlieferter Bericht sondern eine Lehrgeschichte, ein Märchen. Da gab es ein Problem und das musste gelöst werden. Jemand musste den Bewohner*innen von Ninive, denen jeder Anstand abhanden gekommen war, die Mitteilung machen, dass nun Schluss mit lustig sei und zwar endgültig. Wenn der Plan tatsächlich darin bestanden hätte, diese Menschen samt und sonders auszurotten, hätte der Schöpfer ja einfach kurzen Prozess machen können: Erdbeben, Hochwasser, Feuersbrunst, Pestilenz... Offenkundig sollten sie kräftig durchgeschüttelt werden und noch eine Chance bekommen und zum Durchschütteln wurde ein Mensch mit entsprechender Autorität gebraucht. Jona. Und der hatte Schiss und keine Lust. Darum wollte er sich drücken. Aber niemand kann sich vor dem drücken, wozu er bestimmt ist. Und wer es versucht, der wird unweigerlich wieder in die Spur gebracht.

Darum finde ich in dieser Geschichte keine Brücken zum Lockdown oder zur Pandemie.

Es geht darum, das jede und jeder von uns im Leben eine Rolle zu spielen hat, oftmals gleich mehrere. Sei das nun, die Pakete für die Nachbarin anzunehmen, die eigenen Kinder großzuziehen, sich um pflegebedürftige Eltern zu kümmern, sich politisch zu engagieren, Wohnraum zu schaffen, Lebensmittel zu retten, bedrohte Arten zu schützen, eine Firma zu leiten, etwas zu erfinden oder ein Land zu regieren. Für jede*n von uns gibt es etwas zu tun. Vielleicht haben wir nicht so große Lust auf das, was wir am besten können. Oder wir haben Angst zu versagen, so wie der Prophet in der Geschichte. Aber die Dinge werden sich finden, so oder so.

Ein Beispiel an dem es besonders deutlich wird: Du gehst nachts zu Fuß durch die Stadt. Es ist still, nur wenige Menschen sind noch unterwegs. An einer wenig belebten Ecke siehst du in der Ferne wie ein Mensch einen anderen niederschlägt. Außer dir gibt es keine Zeugen. Wenn du versuchst, den Angreifer zu beruhigen, kann es sein, dass er dich genauso zusammenschlägt wie sein aktuelles Opfer. Wenn du jetzt wegläufst, wird dir nichts passieren. Wirklich nicht? Vielleicht lauert an einer anderen Ecke dein Schläger, der dich ausrauben will. Und das Bild vom überfallenen Opfer wirst du nicht mehr los werden. Du kannst deiner Verantwortung nicht entkommen. Du könntest ja auch die Polizei anrufen oder aus sicherem Abstand ordentlich Krach schlagen.

Wenn du das Gefühl hast, eine Aufgabe ist für dich bestimmt, auch wenn du keine Lust hast oder Angst vor dem Scheitern: geh darauf zu, trau dich, es wird schon, denn wenn du es nicht tust, tut es keiner und das wäre in jedem Fall die schlimmere Alternative.

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Passt dazu - gleicher Titel
Hier drin war es dunkel und stickig. Sie hätte das Licht einschalten können, aber sie besaß keine Vorhänge und wollte nicht, dass irgendjemand sie von draußen beobachten konnte.
Sie hätte ein Fenster öffnen können, aber draußen war alles voller Mücken, die kamen sogar rein, wenn das Licht aus war. Lüften konnte man gegenwärtig nur in den frühen Morgenstunden.
Sie war zur Untätigkeit verdammt, wartete darauf, was das Schicksal für sie bereit hielt.

Vor drei Wochen hatte da diese Befragung angestanden. In diesem Viertel, um das sie seit jeher einen Bogen gemacht hatte. Hans-Jürgen Finke. Der wichtigste Zeuge des tödlichen Balkonsturzes. Der, bei dem sie sofort den Eindruck gehabt hatten, dass er nur mit Bruchteilen der Wahrheit rausrückte. Der in diesem Loch lebte, mit einer in sich zusammengesunkenen Frau, die sich offensichtlich selbst aufgegeben hatte, zwei Söhnen, die den Vater hassten und trotzdem auf dem besten Weg waren genauso zu werden wie er und einer Tochter, die umherschlich, als sei sie am liebsten unsichtbar.

Die Nackenhaare hatten sich schon aufgestellt, als ihr nur der Geruch entgegen gekommen war, dieses Potpourri aus kaltem Rauch, Spirituosendunst, Konservensuppe, Schweiß und Muff. Hier wurde höchstens einmal wöchentlich gelüftet. Im Plasmafernseher hatte die enervierende Kaffeefahrtstimme eines Shopping-Kanals geplärrt und sie hatte sich im Hintergrund gehalten, hatte Keller die Fragen stellen lassen und sich aufs Zuhören und Mitschreiben konzentriert. Wie froh war sie gewesen, als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fiel, als sie aus dem abgerockten Treppenhaus ins Freie hatten treten können, als der Dienstwagen wieder stadteinwärts rollte.

Dann hatten die Verdachtsmomente sich verdichtet. Finke schien irgendwie mit drin zu stecken. Nicht als Täter, aber als Mitwisser. Und sie, Sabine Kerkenbrock musste zu einer weiteren Befragung, nochmal nachhaken, ohne durchblicken zu lassen, dass sie ihn im Visier hatten. Keller hätte mitkommen sollen, musste sich aber um seinen Sohn kümmern. Konnte sich nicht offiziell abseilen, sie hatte ihn decken müssen, das Problem war zu kurzfristig aufgetreten und objektiv gesehen nicht dringlich genug, um sich einfach vom Dienst zu entfernen.

Und dann war sie einfach nicht hin gegangen. War in den Wald gefahren, sich die Beine vertreten. Auf keinen Fall konnte sie allein zu diesem Stiernacken in die stinkende Wohnung. Er sah aus wie Onkel Heini. Onkel Heini hatte auch so gerochen. Nach Schnaps, Zigaretten und ungewaschenem Kopfhaar, nach Pitralon und Pisse. Er hatte auch überall diese geplatzten Äderchen im Gesicht gehabt, den eitrig weißen Schmodder in den Mundwinkeln, der beim Sprechen Fäden zog, die triefigen Augen und die latente Gewaltbereitschaft. ?Gib Antwort!? hatte er gebellt und sie hart am Arm festgehalten, weil sie nicht sofort erklärt hatte, warum sie nicht mehr jede Woche zum Rasenmähen kommen konnte. ?Du wirst gut bezahlt und gut behandelt. Da kann man jawohl ein bisschen Dankbarkeit erwarten!?
Was danach geschehen war, versank im Dunkeln und sie wollte auf keinen Fall, dass jemand das Licht anmachte. Onkel Heini war sie nicht entkommen. Finke wollte sie keine Chance geben. Aber wie sollte sie das nur erklären?

Zuerst war es nicht aufgefallen. Sie hatte ein falsches Protokoll angefertigt, keine neuen Erkenntnisse, nächster Punkt.
Dann war aber herausgekommen, dass Finke mit einer Gallenkolik ins Krankenhaus gekommen war und zwar bereits einen Tag bevor Keller und Kerkenbrock ihn angeblich verhört hatten. So hatte sie sie beide reingeritten.
Es half ja nichts. Sie hatte alles zugeben müssen. Der Chef hatte sie nach Hause geschickt und ihr nichts versprochen.

Und jetzt saß sie hier und wartete. Bereits seit, zehn Tagen. Langsam müsste doch mal ein Signal kommen, wenigstens eine Andeutung, wenigstens von Keller, denn der hatte lediglich eine Abmahnung erhalten und durfte erst einmal weiter arbeiten.

Es klingelte an der Wohnungstür. ?Wenn man vom Teufel spricht.?, murmelte sie und zwang sich aufzustehen, um die Tür zu öffnen. Das Mobiltelefon zwitscherte. Nachricht von Keller. Dann war es wohl jemand anderes. Wie in Trance öffnete sie die Tür und rutschte unmerklich mit dem Finger auf das Anrufsymbol.
Sie schnappte nach Luft. Da stand ihr Fleisch gewordenes Trauma oder besser gesagt sein Doppelgänger. Finke. Und sie war nicht einmal in der Lage, ihn zu fragen, was ihm eigentlich einfiele, sie zu Hause aufzusuchen.
?Du hast Lügen über mich verbreitet, du Bullenschlampe!?, blaffte er und drängte in die Wohnung, bevor sie die Tür schließen konnte.
?Ich weiß nicht, was Sie meinen.?, stotterte Kerkenbrock wenig überzeugend.
?Ach nein??, schrie Finke. ?Wer hat denn behauptet, dass ich was gehört habe, aber keine Lust hatte nachzusehen??

Er kam immer näher. Wie Onkel Heini. Nein schlimmer. Mit seinem schmierigen Bauch drückte er sie gegen die Wand. Sie konnte nichts sagen, nicht einmal eine Hand heben, ja nicht einmal weinen. Nur Zittern. Zittern ging noch. Sie war also noch am Leben. Noch. Sie roch seinen fauligen Atem. Zahnseide kannte er wohl nicht. Er redete die ganze Zeit. Redete sich um Kopf und Kragen, doch sie hörte nichts. Nein, sie hörte alles, aber sie verstand nichts. Sie war ein Reptil. In die Enge getrieben, in Todesangst, reduziert auf ihre Instinkte. Sie hörte Wut, schleimig belegte Stimmbänder, hörte ihn stoßweise atmen, Laute, Silben, Sätze, aber keine Inhalte. Dafür reichte es nicht mehr.

Dann knallte es. Jemand hatte die Wohnungstür aufgebrochen. Der stinkende Finke wurde von ihr weggerissen. Sie erkannte vertraute Gesichter, Kollegen. Schließlich Keller, der stützte sie, begleitete sie in die Küche, machte Tee.

Über den Rand seiner Tasse sah er sie an. ?Gut gemacht Kerkenbrock.?, sagte er. ?Wir haben alles mitgehört und aufgezeichnet. Wir haben ihn am Arsch. Den Fall können wir abschließen.?

Jonas Schicksal wendete sich, als der Wal dem Tode nahe ans Ufer schwamm, sich final entleerte und den Propheten mit ausspie. Im Augenblick der Rettung muss immer einer kotzen. Sie schaffte es nicht mehr bis zum Klo. Heulend lag sie im eigenen Erbrochenen. Keller kam hilflos mit der Küchenrolle. Und dann lachte sie.

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