Samstag, 23. Dezember 2023
Eine Weihnachtsgeschichte
Es war die Zeit nach der Pandemie, als alles endlich wieder besser werden sollte, stattdessen aber immer schlimmer wurde. Draußen war Krieg, Energiekrise, erstarkende Rechtspopulisten, innen war Müdigkeit, Mutlosigkeit, Mangel an Perspektive, Phantasie und Lebensfreude. Alles ging schief, nichts ging ihr von der Hand, das Studium stagnierte genauso wie die Wohnsituation. Sie war unzufrieden, traurig und fühlte sich wertlos.

Am nächtlichen Himmel waren noch nicht einmal Sterne zu sehen, es war windig und nieselte unaufhörlich bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Sie wartete auf den Bus, der womöglich ausfiel, ein paar Last-Minute-Geschenke im Rucksack, kaum Gewicht, schwerer wog der Rucksack angefüllt mit Bedauern und Selbstzweifeln. Sie fröstelte und wollte nur noch ins warme Bett kriechen, die Decke über den Kopf ziehen und ins Vergessen abtauchen.

Ein Kind stand neben ihr und begann plötzlich zu weinen. Es wirkte seltsam geschlechtslos, war vielleicht acht, neun oder zehn Jahre alt. Sie hatte keine Lust, sich um die Angelegenheiten Anderer zu kümmern, sie kam ja nicht einmal mit sich selbst zurecht. Das Kind war ihr unsympathisch. Sein Gesicht wirkte merkwürdig, die Kleidung war hochwertig, aber altmodisch, es roch nach konservativem, gutsituiertem Elternhaus.
Dem Kind lief der Rotz aus der Nase und es tastete in seiner Jacke vergeblich nach einem Taschentuch. Das war ja nicht mit anzusehen. Sie hatte zwar nur Mamas Stoffrotzfahnen dabei, aber sie würde es ihr sicher nicht übelnehmen, wenn sie eine davon verschenkte.
"Hier.", sagte sie einsilbig und streckte dem schluchzenden Kind das Tuch entgegen. Das Kind hielt inne, nahm dankend an und putzte sich laut vernehmlich die Nase. Danach wollte es das Tuch zurückgeben.
"Kannst du behalten.", sagte sie großmütig.
"Danke."
"Warum weinst du denn so?", fragte sie nun mehr aus Höflichkeit, denn aus Interesse. Worüber sollte ein Kind schon weinen? Bus verpasst, eine Fünf in Mathe, Mobbing oder ein ausgefallener Termin, auf den es sich gefreut hatte. Sie hoffte, nichts Schlimmeres zu hören. Nichts von einer krebskranken Mutter oder einem gewalttätigen Vater.
"Ich hab‘ kein Wertherchen mehr gekriegt. Die waren ausverkauft."
"Wofür brauchst du das denn?"
"Das hat sich meine Mama von mir zu Weihnachten gewünscht. Ich wollte es morgen anmalen. Ich wollte einmal was richtig machen. Jetzt hab ich gar kein Geschenk für sie."
Das Kind begann wieder herzzerreißend zu schluchzen.
Wertherchen, das waren doch diese Skulpturen, die in ihrer Heimatstadt praktisch in jedem Fenster standen, das Maskottchen der Stadt. Tatsächlich hatte sie auch einmal eins bekommen und schon überlegt, ob sie es beim Schrottwichteln zum Einsatz bringen sollte.

"Weißt du was?", sagte sie zu dem Kind. "Ich habe eins, das ich nicht mehr brauche. Es ist auch noch weiß. Du kannst es haben. Wenn Du mir sagst, wo du wohnst kann ich es dir bringen."
Vertrauensselig offenbarte das Kind seine Adresse. Eigentlich sollte man Kindern von solcher Offenherzigkeit abraten, aber sie war Anfang 20, weiblich, zart und ungefährlich. Vielleicht konnte das Kind so etwas schon einschätzen.

Endlich im warmen zu Hause lockte nicht das Bett sondern die Aussicht, ein Leben zu retten, wenn auch kein ganzes, aber wenigstens einen kleinen Teil und das war immerhin ein Anfang.
Ein Anfang von was? Sie wischte den Gedanken beiseite.

Das Maskottchen hatte sie in einer Papiertüte versteckt. Als hätte sie es geahnt, öffnete die Mutter des Kindes die Tür. Sie erstarrte. Sie erkannte die Frau. Und die Frau erkannte sie. Es war ihre ehemalige Deutschlehrerin. Wie sollte sie erklären, zu welchem Zweck sie hier vor der Tür stand, ohne dem Kind die Überraschung zu verderben?
"Das hat Ihr Kind an der Bushaltestelle stehen lassen.", log sie. "Hatte mir vorher noch erzählt, dass da ein großes Weihnachtsgeheimnis drin ist. Ich glaube Sie dürfen da nicht rein gucken."
Die Lehrerin schmunzelte.
"Ich wusste gar nicht, dass Du auch so gut spontan Geschichten erfinden kannst. Kim hat mir schon erzählt, dass gleich eine Frau kommt, die Ihr etwas bringt, das sie im Geschäft nicht mehr bekommen hat. Keine Angst. Ich gucke nicht rein. Und was machst Du mittlerweile? Doch sicher was mit Büchern, oder?"

Sie druckste herum. Das Studium war ja im weitesten Sinne etwas mit Büchern, aber nichts mit Literatur und tatsächlich hatte sie schon seit längerem kein richtiges Buch mehr in die Hand genommen. Wenn sie lesen wollte, hatte sie gedacht, sie solle jetzt besser Fachliteratur lesen und dann spielte sie Fantasy-Spiele, um kurzfristig zu entkommen und sich danach noch schlechter zu fühlen als zuvor.

Die Lehrerin sagte: "Ich würde dich ja hereinbitten, aber ich habe überhaupt keine Zeit heute. Danke dir für deine Mühe. Kim wird sich freuen."

Sie verabschiedete sich und kam auf dem Rückweg an der Buchhandlung vorbei. Hier stand ein weihnachtliches Wertherchen im Fenster, neben einem Kinderbuch, in dem die Weihnachtsgeschichte üppig bebildert erzählt wurde. War das Wertherchen in ihrer ganz persönlichen Weihnachtsgeschichte ein Engel? Oder das Kind in der Krippe? Und wer war sie? Maria? Josef? Der Esel?

Als sie in dieser dunklen Nacht nach Hause kam, war ihr Zimmer hell und warm wie der Stall in Bethlehem. Und es gab auch eine Geburt. Kein menschliches Wesen, aber ein menschlicher Gedanke, eine Idee wurde geboren.

Was mit Büchern hatte der Engel gesagt, quatsch, die Lehrerin. Der Plan gewann an Konturen und noch am selben Abend rief sie ihre beste Freundin an. Und als sie ihre Pläne teilte, begannen sie zu leuchten.

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