Sonntag, 22. April 2018
Gierige Kinder
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“ Matthäus 6,26

In der letzten Woche habe ich mit 18 Mädchen Muffins gebacken. Es gab zwei Teams, die unter Anleitung den Teig zusammenrührten und in die Form füllten. Eine Gruppe wurde von mir betreut, die andere von zwei Nachwuchsmitarbeiterinnen. Die Mädchen waren zwischen 8 und 10 Jahren alt. Vorneweg muss ich erklären, dass ich diese Kinder sehr mag, dass es mit ihnen keine nennenswerten Disziplinprobleme gibt, sie sind zwar gelegentlich kackfrech und äußerst lebhaft, aber das dürfen sie ja auch, wenn aber entsprechende Signale kommen, werden sie schnell still und hören konzentriert zu, zumindest 3-5 Minuten.

Kaum begannen die Backarbeiten, breitete sich der Dämon Angst-vor-Übervorteilung in ihren Gemütern aus und nahm sie vollständig in Besitz.
„Natalie hat schon gerührt und jetzt will sie ein Ei aufschlagen und ich habe noch gar nichts gemacht!“
„Ey, warum klaust du unseren Zucker?!“
Intelligenten Kindern mangelt es urplötzlich an der Vorstellungskraft, dass es ja eine Tüte Zucker für beide Gruppen geben könnte, die man sich teilen muss.

Als die erste Rutsche Muffins endlich im Ofen war, gingen die Ehrenamtlichen mit der Rasselbande draußen Verstecken spielen und ich räumte auf und machte die zweite Teigladung ofenfertig.
Nach 25 Minuten kamen die ersten Kuchen aus dem Ofen. Mein Team hatte die Förmchen ordnungsgemäß befüllt (zwei Drittel des Volumens), das andere Team hatte die Manschetten voller gemacht und darum wucherten ihre Kuchen nun wie üppige Waldpilze über die Form, was zugegebenermaßen erheblich appetitlicher aussah, als die angepassten Manschetten-Zöglinge.
Sofort hatte mein Team Pippi in den Augen: „Wieso sind die Muffins von den anderen viel größer?!? Das ist gemein!!!“
Das Gewinnerteam grinste selbstzufrieden in sich hinein und begann die protzigen Angeber-Küchlein mit reichlich Tand zu verzieren.
Ich erklärte ihnen in aller Ruhe: „Das liegt nur daran, dass dieses Team in der ersten Runde mehr Teig eingefüllt hat. In der zweiten Runde, werden eure Muffins größer, und die anderen haben nur ein paar gebackene Pralinen.“
Skepsis auf den noch immer schmollenden Gesichtern und panische Angst, beim Verziermaterial nur Loser-Streusel zu bekommen und nicht die coolen Kulleraugen oder die bessere Couverture.

Es wurde immer verrückter. Jede Gruppe war zu neunt und hatte zwölf Muffins. Es gibt immer wieder Kinder, die dann den Nerv haben, zu fragen: „Darf ich noch eins machen? Da sind ja noch welche übrig.“
„Nein, darfst du nicht, es sind ja nur drei übrig, die müsst ihr euch teilen.“
Teilen?!? Wie denn? Drei durch neun? Das geht doch gar nicht.
Na gut, dritte und vierte Klasse Grundschule, die können nur mit ganzen Zahlen rechnen. Wären sie aber aktuell nicht so sehr damit beschäftigt von Gier zerfressen zu sein, könnten sie vielleicht trotzdem schon zu dem Schluss gelangen, dass Neun Kinder geteilt durch drei Muffins drei Kinder pro Muffin ergibt und man so ein Küchlein ja in drei Teile teilen kann.

Schließlich war die zweite Rutsche fertig gebacken. Mein Team war hochzufrieden, etwa so wie die hoch aufgegangenen Muffins. Nun schrie das andere Team verzweifelt und entrüstet: „Ey! Warum sind unsere Muffins so klein und die anderen so groß?!? Das ist ungerecht!!!“
„Nein“, widersprach ich, erfolglos um Fassung bemüht, „das ist überhaupt nicht ungerecht, das kommt so, wenn man im ersten Gang mehr als die Hälfte des Teigs verbackt, dann werden die Kuchen beim zweiten Blech kleiner. Die anderen hatten in der ersten Runde die kleineren Muffins, jetzt ihr. Also hört auf rumzuheulen, ihr seid doch nicht doof!“
Ich war echt bedient und begann allergische Reaktionen gegen Kinder zu entwickeln.

Endgültig den Kaffee auf hatte ich, als das Gegenteil von meinem Lieblingskind fragte: „Darf ich dann drei Muffins mit nach Hause nehmen?“
„Nein warum solltest du? Ihr sollt euch die übrigen Muffins teilen.“
„Ja, aber ich habe den zweiten ja schon verziert und den habe ich ja jetzt gemacht.“
Siegesgewiss setzt sie ihr Ich-bin-ein-ganz-liebes-Mädchen-Schleimer-Lächeln auf. Ich hätte es untersagen sollen, aber dafür war es mir einfach nicht wichtig genug.
„Na dann nimm ihn meinetwegen mit.“, grummelte ich. „Aber pass auf, dass die anderen das nicht mitbekommen, denn in Ordnung ist das nicht.“
Dazu muss ich erklären, dass dieses Mädchen rumwinselt wie eine Heulboje und innerhalb von einer halben Stunde zwei Mal panisch nach Pflaster schreit, nur weil sie sich die Epidermis an einem Blatt Papier angeritzt hat.

Diese Mädchen sind keine sechs Jahre alt, sondern mindestens acht und daher entwicklungspsychologisch mindestens ein Jahr über dem Altersdurchschnitt, in dem ein Kind in der Lage ist, von sich abzusehen und Empathie und die Fähigkeit, sich in eine Gruppe einzufügen, zu entwickeln. Sie leben nicht in einer Krisenregion, nicht einmal im Ghetto, nein sie leben in einem städteplanerisch gut sozial gemischten Wohngebiet, haben Eltern, die sich um sie kümmern und ihrer Liebe täglich Ausdruck verleihen, haben genug zu essen, zum Anziehen, zum Spielen, Freunde, Haustiere und eine einigermaßen heile Welt in der Schule. Sie sind weder dösig noch hochbegabt, weder werden sie nach Strich und Faden verwöhnt noch künstlich kurz gehalten.

Was genau ist bei ihnen nicht angekommen von diesem Satz:
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“

Vermutlich haben sie noch nie davon gehört. Stattdessen hören sie wahrscheinlich eher Sätze wie:
„Beeil, dich! Sonst bekommst du keinen Platz mehr.“
„Geh nach vorne, sonst bekommst du nichts ab!“
„Du musst aufpassen, damit du nichts Wichtiges verpasst!“
„Wenn du das nicht lernst, bleibst du sitzen!“

Und warum hören Eltern und Lehrer nicht endlich auf, ihre Kinder verrückt zu machen? Weil sie selbst auch vom Dämon der Angst vorm Übervorteiltwerden beherrscht sind, sich nicht mehr entspannen und die Dinge auf sich zukommen lassen können.

Was passiert denn, wenn das Kind kein Abitur schafft? Dann studiert es eben nicht. Na und? Vielleicht lernt es einen schlecht bezahlten Beruf, in dem es aber vollkommen aufgeht und es lernt, sich mit dem geringen Einkommen zu arrangieren. Oder es wird in seiner Begeisterung so genial, dass am Ende mehr dabei herauskommt, als wenn es halbherzig BWL oder Geschichte und Englisch auf Lehramt studiert hätte.

Natürlich ist die Welt voller Tücken und der Verteilungskampf wird immer erbitterter, aber wo steht geschrieben, dass man diesen Wahnsinn bis zum Erbrechen mitmachen muss?
Das Leben ist so schnell vorbei und am Ende bleibt nichts von uns, als eine Erinnerung und vielleicht ein fettes Erbe, was dann unsere durch unseren unermesslichen Reichtum degenerierten Kinder sinnlos verprassen. Also vielleicht doch lieber ein Beispiel an der Natur nehmen?
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“ Das Evangelium nach Matthäus, sechstes Kapitel, Vers 26

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