Samstag, 16. November 2019
Psalm 90, 12


Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

In der italienischen Übersetzung heißt es eher: Lehre uns unsere Tage zu schätzen, und so können wir ein weises Herz anbieten. Gefällt mir besser, zumal der Begriff des Schätzens sowohl das Abschätzen (wie lange noch?), als auch die Wertschätzung beinhaltet.

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Freitag, 8. November 2019
Muss man Nazis lieben? - Kurzer Denkanstoß zu Lukas 6, 27- 35 – Predigttext für den drittletzten Sonntag im Kirchenjahr
Der Bibeltext enthält das klare Gebot der Feindesliebe. Auch das bekannte Bild der anderen Wange, die hingehalten werden soll.

Nun kann ich mir vorstellen, Nächstenliebe gegenüber denen zu empfinden, die mich nerven, ja sogar denen gegenüber, die mir übel mitgespielt haben. Das heißt nicht, dass ich mich nach ihrer Nähe sehne wie nach der eines von mir geliebten und begehrten Menschen. Auch nicht, dass ich erlittenen Schaden vergesse, keinen Groll kenne, nicht auch nachtragend sein kann. Wer so etwas von sich behauptet, ist entweder ein großer Wunder oder ein verdammter Lügner. Zumindest belügt man sich selbst, wenn man sich tatsächlich einbildet, frei von negativen Gefühlen gegenüber Mitmenschen zu sein.

Ich kann aber versuchen, die Motive meines „Feindes“ zu verstehen, Empathie zu entwickeln, meinen Verstand benutzen, um abzuwägen, ob meine Verletzung tatsächlich schwerer wiegt, als die Motive, die den anderen dazu getrieben haben, mir zu schaden.
Ich kann dem Täter gegenüber aussprechen, was mich verletzt hat, ihn dazu bewegen, sich bei mir zu entschuldigen und mich dann versöhnen und Verständnis für seine / ihre Situation aufbringen.

Das ist alles ganz toll, modern, friedensfördernd und deeskalierend.

Aber kann ich das auch bei so einer Scheißnazihackfresse? Ich habe jetzt einmal bewusst diese krasse Formulierung gewählt, damit jedem klar ist, was gemeint ist: Einer, der schwache und Andersartige verhöhnt, bedroht, zusammenschlägt und sogar tötet. Der Menschen das Recht auf Leben abspricht. Der glaubt besser zu sein als die Mehrheit und darum das Recht zu haben, rohe Gewalt auszuüben. Der in der Regel nicht viele kluge Gedanken im Kopf hat, andere aufhetzt, gewalttätig herummarodiert, die Schwächen der Demokratie ausnutzt, um ihre Stärken abzuschaffen.
Kann ich nicht lieben. Kann ich mich nicht reinfühlen. Geht einfach nicht. Kommen mir alle vor wie Orks oder Terminatoren oder Saurier. Schon Menschen, aber nicht wirklich menschlich. Wie geht man als Christ*in damit um?

Ich habe rechtsextreme Jugendliche betreut, mit ihnen diskutiert, mich für sie eingesetzt, weil sie wirklich arme Schweine waren. Sind auch etliche wieder in die Spur gekommen, die waren aber nur Mitläufer. Neulich habe ich einen der kleinen Skins aus den Neunzigern gegoogelt. Was sehe ich? Eine Facebookseite mit einem Foto von Hitlergruß zeigenden Konzertbesuchern. Einmal Ratte, immer Ratte. Ja, es gibt auch Aussteiger, aber ich frage mich, warum ich meine Nächstenliebe an diesen Knaben verschwendet habe? Warum hat der so gar nichts kapiert?

Was läuft schief in den Gehirnen von Faschisten?

Ich weiß nicht, ob man sie wirklich lieben muss. Ich weiß nur eines: Man muss mit allen demokratischen Mitteln verhindern, dass sie ans Ruder kommen!!!

Und hier nun der Predigttext:
27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! 28 Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! 29 Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd! 30 Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück! 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! 32 Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. 33 Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr? Das tun auch die Sünder. 34 Und wenn ihr denen Geld leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern, um das Gleiche zurückzubekommen. 35 Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

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Samstag, 26. Oktober 2019
Zivilcourage und Empathie – zum Predigttext am 19. Sonntag nach Trinitatis
Die Heilung eines Gelähmten an einem Fest in Jerusalem – Das Evangelium des Johannes, Kapitel 5, Verse 1-16

1 Danach war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2 In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. 3 In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. 4 Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt. 5 Dort lag auch ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. 6 Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. 8 Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! 9 Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. Dieser Tag war aber ein Sabbat. 10 Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, du darfst deine Liege nicht tragen. 11 Er erwiderte ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Liege und geh! 12 Sie fragten ihn: Wer ist denn der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm deine Liege und geh? 13 Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war. Jesus war nämlich weggegangen, weil dort eine große Menschenmenge zugegen war. 14 Danach traf ihn Jesus im Tempel und sagte zu ihm: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt! 15 Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. 16 Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte.

(Der letzte Teil des dritten Verses und der vierte Vers sind übrigens aus einer späteren Überlieferung, die ich in meiner Lutherbiel gefunden habe. Der Rest des Textes stammt aus der Einheitsübersetzung.)

Früher hätte ich mich bei diesem Text immer am Schluss abgearbeitet, an den spießigen Schriftgelehrten, Pharisäern und sonstigen Linientreuen, die in dieser Geschichte schlicht als „die Juden“ bezeichnet werden, etwas seltsam, weil ja die überwiegende Mehrheit der Beteiligten in den Jesus-Geschichten aus Juden bestand.
Die Haltung dieser missgünstigen Naturen ist so alt wie die Menschheit. Statt über das Wunder der Heilung zu staunen und sich mit dem Glücklichen zu freuen, sucht man das Haar in der Suppe und moniert: Das ist aber nicht richtig! Es ist ja schließlich Sabbat!

So etwas finden wir heute auch an allen Ecken und Enden:
Greta Thunberg ist zwar engagiert, aber sie guckt so komisch, mit der stimmt doch etwas nicht.
Der Jugendgottesdienst kam gut an, aber wie konnte der Jugendreferent es wagen, die Einsetzungsworte zum Abendmahl zu sprechen, schließlich ist er nicht einmal Prädikant.
Carola Rackete rettet einfach so unaufgefordert Ertrinkende aus dem Mittelmeer und setzt sie an der Küste ab, ohne die zuständige Regierung zu fragen, ob sie überhaupt damit einverstanden sind.
Die Polizei hat einen Naziaufmarsch wegen der Verkehrsbehinderung und des Sicherheitsrisikos verboten, dem muss das Verwaltungsgericht natürlich entschieden widersprechen, denn auch Nazis haben demokratische Rechte.
Ach, die Leiterín der Jugendgruppenleiterschulung hat für die Teilnehmenden täglich Kuchen gebacken? Das haben die Jugendlichen sicher gefeiert, aber das ist natürlich total unprofessionell.
In echter Todesverachtung hat der Kontaktbereichsbeamte das Fluchtfahrzeug des kleinen Bankräubers blockiert und ihn so gestellt. Die Kollegen rümpfen die Nase, so ein Idiot, die eigene Sicherheit derartig aufs Spiel zu setzen, verstößt gegen sämtliche Regen professioneller Polizeiarbeit.

Wem der Erfolg Recht gibt, der wird von Neidern gewogen und als zu leicht befunden. Damit entschuldigen sie ihre eigene Unzulänglichkeit, ihr tägliches Scheitern. Der Erfolgreiche hat nur deshalb Erfolg, weil er sich nicht an die Regeln hält. Würden sie sich auch nicht an die Regeln halten, wären sie auch erfolgreich. Aber die Regeln müssen eingehalten werden, dafür sind sie ja da. Schade, dass der Sinn der Regeln von solchen Korinthenkackern niemals hinterfragt wird, dann würden sie vielleicht gelegentlich ehrführchtig verstummen.

Mit der Heilungsgeschichte an sich konnte ich nie wirklich etwas anfangen. Immer das Gleiche: jemand ist schwer krank, oftmals von Geburt an, unheilbar, ausgestoßen und schrecklich leidend. Dann kommt Superjesus, macht einmal hexhex und alles ist gut, die Krankheit ist besiegt, das Volk staunt, der Gesunde jubelt und ist dankbar. Toll. Und? Passiert das auch hier und heute? Eher nicht. Also was soll mir diese Geschichte sagen?

Kürzlich durfte ich genau zu diesem ersten Teil der Geschichte ein Bibliodrama erleben. Wer das nicht kennt: da werden Bibeltexte mit Methoden aus dem Psychodrama erschlossen. Unter anderem schlüpft man in verschiedene Rollen, spielt sie mit anderen Teilnehmenden durch und spürt den Gefühlen nach, die sich dabei entwickeln. Der Pfarrer, der das ganze angeleitet hat, fand die Frage Jesu in Vers 6 besonders bemerkenswert: „Willst du gesund werden?“
Oft hat Krankheit ja auch einen Nutzen, auch wenn es erst einmal so aussieht, als wolle man sie nur überwinden. Wer krank ist, bekommt Aufmerksamkeit und Zuwendung, hat eine Entschuldigung, um sich der Arbeit oder der Verantwortung zu entziehen, kann sich mit sich selbst beschäftigen und manchmal – vor allen Dingen zu biblischer Zeit – taugt Krankheit auch als Einnahmequelle im Bettelgewerbe, siehe „Leben des Brian“: „Eine Spende für einen Ex-Leprakranken.“
Jesus begegnet dem Erkrankten mit großem Respekt, fragt ihn, was er will, setzt sich nicht über ihn hinweg, haut kein großspuriges „Ich weiß schon was gut für Dich ist.“ hinaus.
Das ist eine Art, von der sich mancher Arzt oder Therapeut etwas annehmen sollte. Aber auch jeder Einzelne im Alltag. Wenn wir glauben, dass jemand unsere Hilfe gebrauchen kann, ihn niemals bevormunden, etwas überstülpen oder aufschwatzen. Hinsehen, zuhören, einfühlen und dann vielleicht etwas vorschlagen, abwarten, geduldig sein und erst handeln, wenn ein deutliches „Ja, ich will gesund werden.“ ausgesprochen wurde.

Um all das andere, das außerdem in dieser Geschichte steckt, mag sich jemand anderes kümmern oder ich tue es – ein andermal.

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