Samstag, 26. Oktober 2019
Zivilcourage und Empathie – zum Predigttext am 19. Sonntag nach Trinitatis
Die Heilung eines Gelähmten an einem Fest in Jerusalem – Das Evangelium des Johannes, Kapitel 5, Verse 1-16

1 Danach war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2 In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. 3 In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. 4 Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt. 5 Dort lag auch ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. 6 Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. 8 Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! 9 Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. Dieser Tag war aber ein Sabbat. 10 Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, du darfst deine Liege nicht tragen. 11 Er erwiderte ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Liege und geh! 12 Sie fragten ihn: Wer ist denn der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm deine Liege und geh? 13 Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war. Jesus war nämlich weggegangen, weil dort eine große Menschenmenge zugegen war. 14 Danach traf ihn Jesus im Tempel und sagte zu ihm: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt! 15 Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. 16 Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte.

(Der letzte Teil des dritten Verses und der vierte Vers sind übrigens aus einer späteren Überlieferung, die ich in meiner Lutherbiel gefunden habe. Der Rest des Textes stammt aus der Einheitsübersetzung.)

Früher hätte ich mich bei diesem Text immer am Schluss abgearbeitet, an den spießigen Schriftgelehrten, Pharisäern und sonstigen Linientreuen, die in dieser Geschichte schlicht als „die Juden“ bezeichnet werden, etwas seltsam, weil ja die überwiegende Mehrheit der Beteiligten in den Jesus-Geschichten aus Juden bestand.
Die Haltung dieser missgünstigen Naturen ist so alt wie die Menschheit. Statt über das Wunder der Heilung zu staunen und sich mit dem Glücklichen zu freuen, sucht man das Haar in der Suppe und moniert: Das ist aber nicht richtig! Es ist ja schließlich Sabbat!

So etwas finden wir heute auch an allen Ecken und Enden:
Greta Thunberg ist zwar engagiert, aber sie guckt so komisch, mit der stimmt doch etwas nicht.
Der Jugendgottesdienst kam gut an, aber wie konnte der Jugendreferent es wagen, die Einsetzungsworte zum Abendmahl zu sprechen, schließlich ist er nicht einmal Prädikant.
Carola Rackete rettet einfach so unaufgefordert Ertrinkende aus dem Mittelmeer und setzt sie an der Küste ab, ohne die zuständige Regierung zu fragen, ob sie überhaupt damit einverstanden sind.
Die Polizei hat einen Naziaufmarsch wegen der Verkehrsbehinderung und des Sicherheitsrisikos verboten, dem muss das Verwaltungsgericht natürlich entschieden widersprechen, denn auch Nazis haben demokratische Rechte.
Ach, die Leiterín der Jugendgruppenleiterschulung hat für die Teilnehmenden täglich Kuchen gebacken? Das haben die Jugendlichen sicher gefeiert, aber das ist natürlich total unprofessionell.
In echter Todesverachtung hat der Kontaktbereichsbeamte das Fluchtfahrzeug des kleinen Bankräubers blockiert und ihn so gestellt. Die Kollegen rümpfen die Nase, so ein Idiot, die eigene Sicherheit derartig aufs Spiel zu setzen, verstößt gegen sämtliche Regen professioneller Polizeiarbeit.

Wem der Erfolg Recht gibt, der wird von Neidern gewogen und als zu leicht befunden. Damit entschuldigen sie ihre eigene Unzulänglichkeit, ihr tägliches Scheitern. Der Erfolgreiche hat nur deshalb Erfolg, weil er sich nicht an die Regeln hält. Würden sie sich auch nicht an die Regeln halten, wären sie auch erfolgreich. Aber die Regeln müssen eingehalten werden, dafür sind sie ja da. Schade, dass der Sinn der Regeln von solchen Korinthenkackern niemals hinterfragt wird, dann würden sie vielleicht gelegentlich ehrführchtig verstummen.

Mit der Heilungsgeschichte an sich konnte ich nie wirklich etwas anfangen. Immer das Gleiche: jemand ist schwer krank, oftmals von Geburt an, unheilbar, ausgestoßen und schrecklich leidend. Dann kommt Superjesus, macht einmal hexhex und alles ist gut, die Krankheit ist besiegt, das Volk staunt, der Gesunde jubelt und ist dankbar. Toll. Und? Passiert das auch hier und heute? Eher nicht. Also was soll mir diese Geschichte sagen?

Kürzlich durfte ich genau zu diesem ersten Teil der Geschichte ein Bibliodrama erleben. Wer das nicht kennt: da werden Bibeltexte mit Methoden aus dem Psychodrama erschlossen. Unter anderem schlüpft man in verschiedene Rollen, spielt sie mit anderen Teilnehmenden durch und spürt den Gefühlen nach, die sich dabei entwickeln. Der Pfarrer, der das ganze angeleitet hat, fand die Frage Jesu in Vers 6 besonders bemerkenswert: „Willst du gesund werden?“
Oft hat Krankheit ja auch einen Nutzen, auch wenn es erst einmal so aussieht, als wolle man sie nur überwinden. Wer krank ist, bekommt Aufmerksamkeit und Zuwendung, hat eine Entschuldigung, um sich der Arbeit oder der Verantwortung zu entziehen, kann sich mit sich selbst beschäftigen und manchmal – vor allen Dingen zu biblischer Zeit – taugt Krankheit auch als Einnahmequelle im Bettelgewerbe, siehe „Leben des Brian“: „Eine Spende für einen Ex-Leprakranken.“
Jesus begegnet dem Erkrankten mit großem Respekt, fragt ihn, was er will, setzt sich nicht über ihn hinweg, haut kein großspuriges „Ich weiß schon was gut für Dich ist.“ hinaus.
Das ist eine Art, von der sich mancher Arzt oder Therapeut etwas annehmen sollte. Aber auch jeder Einzelne im Alltag. Wenn wir glauben, dass jemand unsere Hilfe gebrauchen kann, ihn niemals bevormunden, etwas überstülpen oder aufschwatzen. Hinsehen, zuhören, einfühlen und dann vielleicht etwas vorschlagen, abwarten, geduldig sein und erst handeln, wenn ein deutliches „Ja, ich will gesund werden.“ ausgesprochen wurde.

Um all das andere, das außerdem in dieser Geschichte steckt, mag sich jemand anderes kümmern oder ich tue es – ein andermal.

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