Sonntag, 1. Juli 2018
Anarchie für alle
Die Idee des christlichen Anarchismus ist übrigens ziemlich alt. Einer der berühmtesten Verfechter war Leo Tolstoi, habe ich erst vor kurzem gelesen. Ist also nicht auf meinem Mist gewachsen, dass Christen eigentlich naturgemäß Anarchisten sein sollten.

Kürzlich hörte ich in dem Gesprächskreis, den ich regelmäßig besuche, von der Existenz der sogenannten „Nehemia-Gateaway“. Zunächst fragte ich mich, was das denn wohl für ein radikal-fundamentalistischer Haufen dummer Christen sei (Das Buch Nehemia kommt in der Bibel gleich nach dem Buch Esra und Esra löste Mischehen auf, ohne Rücksicht auf Verluste), bekam dann aber die Auskunft, dass es sich um ein Hilfswerk handele, das Weltweit Initiativen startet, um Menschen in Armut wirksam zu helfen. Das Motto dieser Organisation lautet: „Den Menschen helfen, in Würde und Unabhängigkeit ihr eigenes Leben selbst zu bestimmen und nachhaltig zu gestalten.“
Ein Ehepaar im Gesprächskreis ist mit einem dort aktiven Ehepaar befreundet und die wiederum sind Mitglieder einer christlichen Gemeinschaft, die genau nach dem Prinzip funktioniert, wie ich mir das auch mit meiner Initiative „Anarchische Christliche Kirche“ gedacht habe. Keine Hierarchie, nicht einmal eine demokratische Struktur, einfach nur der Impuls: trefft euch, redet miteinander, macht was. Die treffen sich in Hauskreisen und wo sie viele sind, mieten sie dann eben auch Räume an. Nur einmal im Jahr gibt es ein großes zentrales Treffen, aber ohne Vorstand oder Vorsitzende. Geht also.

Im Übrigen bin ich ja auch schon länger der Überzeugung, dass auch demokratische Strukturen in der Regel schleichend hierarchische Züge annehmen. Das liegt an den anstrengenden, langwierigen Prozessen, die demokratische Strukturen so mit sich bringen. Wenn man alles geregelt haben will, aber keine dirigistische Führung wünscht, dann wird es lang und weilig. Darum einigt man sich meistens, dass der Vorsitzende oder die Leiterin oder wer auch immer von unten legitimiert wurde, einfach schnell im Alleingang entscheiden soll, damit das alles nicht so umständlich ist. In kirchlichen Gremien schnarchen Mitglieder dann vor sich hin und nicken alles ab, was Vorsitzende vorschlagen, weil sie keine Lust (und oft schlichtweg keine Zeit) haben, sich gründlich in die Materie einzuarbeiten, alles zu lesen, gegebenenfalls genauer nachzuforschen und ausgiebig zu diskutieren. Und schon machen „die da oben“ wieder was sie wollen.

Aber wollen wir das? In meinem Gesprächskreis hieß es, so ganz ohne Struktur, das gehe doch gar nicht. „Warum nicht?“, wollte ich wissen und bekam keine befriedigende Antwort, nur ein Schulterzucken. Nun sind die Angehörigen dieser christlichen Gemeinschaft wohl überwiegend Akademiker, das ist keine Volkskirche, eher so ein intellektueller, elitärer Haufen. Aber gesellschaftliche Veränderungen gingen doch immer von den Gebildeten aus, weil die sich einfach mehr Zeit nehmen (können), über Grundsätzliches nachzudenken.

Also träume ich weiter und vielleicht fange ich irgendwann mit einem kleinen, anarchischen Hauskreis an und gucke mal, wo Anarcho-Christen in meiner Nähe sind. Vielleicht wächst ja was.

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