Samstag, 3. Februar 2024
Ahmed
Der Predigttext für den 04.02. ist nicht schwer verständlich, auf den ersten Blick vielleicht etwas banal.

https://www.bibleserver.com/LUT.NG%C3%9C/Markus4%2C26-29

Aber dann ist mir dazu direkt eine alte Geschichte eingefallen.

Diese Geschichte ist mir wirklich passiert. Damals war ich Anfang Zwanzig und machte nach dem Studium der Sozialarbeit mein Berufspraktikum in einem kleinen Jugendzentrum in der Innenstadt einer mittleren Großstadt. Die Bude war ein bisschen abgerockt, es war immer zugig und laut, aber auch irgendwie toll, weil die Kinder und Jugendlichen aus den umliegenden Häusern eine bunte Mischung aus Deutschen, Türken, Griechen, Kurden, Kroaten, Italienern, Spaniern und Polen bildeten und es sich in diesem Haus durchgesetzt hatte, dass die Abstammung keine Rolle spielte.
Einmal in der Woche war das Haus für die Mädchen reserviert und meine Aufgabe bestand neben dem Programm für die Mädchen darin, die Jungs vor die Tür zu setzen, die versuchten, trotzdem ins Haus zu kommen.
Eines Abends hatte ich Stress mit Ahmed – ich nenne ihn hier mal so, denn sein richtiger Name geht niemanden etwas an. Ahmed Akin war laut Pass schon 17 Jahre alt, sah aber aus wie höchstens 14, war klein und schmächtig und eigentlich ganz niedlich, aber ein Riesenarschloch. Er ließ sich nicht von der Stelle bewegen und erst als ich ihm mit der Polizei drohte, machte er den Abflug.
Ich war so wütend auf diesen Jungen, mit dem ich immer wieder aneinandergeriet, denn er quälte kleinere Kinder, demolierte in der Einrichtung herum und hielt sich nicht an Regeln. Auf dem Heimweg stellte ich mir oft vor, wie ich ihn am Kragen packte und so lange vor die Wand klatschte, bis das Blut spritzte. Ich erkannte mich selbst nicht wieder, dass ich so ausufernde Gewaltphantasien hatte, aber bei Ahmed war ich voll auf Schaum.
Ich sprach mit meinem Praxisanleiter darüber, der die Einrichtung leitete und er erzählte mir folgendes: „Ja, bei Ahmed hab' ich die Hoffnung langsam aufgegeben, der baut nur Scheiße. Der ist hier auch schon eingebrochen und als ich bei seinen Eltern war, sagte sein Stiefvater nur, 'Ahmed ist ein Verbrecher.', die haben den auch schon aufgegeben. Der hängt immer mit Dragan rum und dann gehen die zu Karstadt und klauen Uhren und verticken die. Hier kriegt er ja sonst auch kein Bein mehr an die Erde. Die anderen Jungs nehmen ihn alle nicht ernst und nennen ihn immer Kasi, weil er so klein ist, wie der kurze von Ute, Schnute, Kasimir. Der baut nur Scheiße und lügt dir frech ins Gesicht. Reden kannste mit dem sowieso nicht mehr.“
Am Wochenende ging mir das Gehörte durch den Kopf. In der Schule hatte ich im Sowi-Unterricht mal das Thema Stigmatisierung durchgenommen. Da hatte ich gelernt, dass Menschen, die einmal abgestempelt – also stigmatisiert sind – egal als was, ob als Held oder Arschloch, kaum eine Chance haben, diesen Stempel wieder los zu werden. Man erwartet von ihnen, dass sie sich entsprechend verhalten und wenn sie versuchen, es einmal anders zu machen, kauft ihnen das niemand ab. Das frustriert sie so sehr, dass sie irgendwann aufgeben, sich in ihr Schicksal fügen und aus der Not eine Tugend machen. Wenn alle mich für ein Arschloch halten, dann werde ich eben ein richtiges Arschloch. Dann bin ich so ein Arschloch, dass alle vor mir zittern. Dann wird das eben der Weg, den ich einschlage, mit dem ich reich werde und mir Respekt verschaffe.
Ahmed war ein Paradebeispiel für Stigmatisierungs-Prozesse. Er kam auch nicht mehr aus der Arschloch-Ecke heraus. Ich nahm mir vor, ihm eine Chance zu geben, auch wenn ich nicht wirklich an ihn glaubte.
Gleich am Montag bot sich die erste Gelegenheit. Das Waschbecken auf dem Jungenklo war beschädigt worden. Die anderen Jugendlichen sagten: „Ist doch klar, wer das war, das war Ahmed. Eben war das Waschbecken noch heile, dann war Ahmed auf dem Klo und jetzt ist es kaputt. Gib dem Hausverbot.“
„Das kann ich nicht.“, antwortete ich. „Ich habe keinen Beweise dafür, dass Ahhmed das war.“ Ich sprach den Verdächtigen an: „Ahmed, jetzt mal ehrlich, hast du das Waschbecken kaputt gemacht?“
„Nee, das war ich nicht.“, sagte er mit kugelrunden Augen und ich glaubte ihm kein Wort, aber ich sagte: „Gut, wenn du das so sagst, muss ich dir das erstmal glauben.“, und damit war der Fall erledigt.
Ich vermutete, dass der Junge sich ins Fäustchen lachte, aber ich hoffte auch, ihn auf Dauer mit meinem Vertrauen zu beschämen.
Am nächsten Tag kam ich ins Billardzimmer und Ahmed war dran, legte aber keinen besonders virtuosen Stoß hin. Die anderen Jungs hänselten ihn, er setzte sich schweigend. Ich setzte mich zu ihm und beobachtete den nächsten Spieler. „Guck mal“, sagte ich vertraulich zu ihm, aber so, dass alle anderen es hören konnten. „Hamza steht vorm Tisch, als wenn er sich darauf schlafen legen will.“
Achmed grinste dankbar und sagte: „Gleich kuschelt er noch mit den Kugeln.“
Wir frotzelten weiter, bei jedem der folgenden Spieler und als Ahmed wieder an der Reihe war, machte ich ihm ein Kompliment.
Am nächsten Tag trieben sich zwei Jungs in der Einrichtung herum, die niemand vorher gesehen hatte und mit ihnen verschwand mein Portemonnaie. Ich war total verzweifelt, nicht unbedingt wegen des Geldes, das war zwar ärgerlich, aber überschaubar, jedoch meine ganzen Papiere waren darin und die alle wieder zu beschaffen kostete viel Zeit und zusätzlich Geld. Aber schon am nächsten Tag brachten mir Ahmed und Dragan mein Portemonnaie zurück. Sie hatten es in der Nähe auf dem Gehweg gefunden und es fehlte nur das Geld. Ahmed hatte große Angst, ich würde ihm nicht glauben und ihn des Diebstahls bezichtigen, die anderen Jugendlichen dachten das sowieso. Aber ich freute mich total, dass das Portemonnaie wieder da war und fiel den beiden dankbar um den Hals.
Ich fand sie hatten Finderlohn verdient, aber einfach nur Geld, das war mir zu stillos und so kaufte ich für jeden von ihnen ein Taschenbuch über Billard, weil sie wie alle anderen Jungs in dem Jugendhaus von diesem Sport begeistert waren. Ich wickelte die Bücher in Geschenkpapier und überreichte sie am nächsten Tag den beiden Findern vor allen anderen. „Ist bestimmt 'ne Tafel Schokolade.“, frotzelte Hamza und Dragan bedankte sich beiläufig mit einem blasierten Grinsen. Ahmed dagegen sah mich an, als hätte ich ihm ein Moped geschenkt. Auch wenn er es nur für Schokolade hielt, er war total überwältigt, dass er überhaupt etwas geschenkt bekam. Als er es auspackte, war er total von den Socken, die anderen Jungs übrigens auch. Sofort blätterten sie in dem Buch herum, ob auch was über Snooker drin stand und waren Feuer und Flamme.
Spätestens jetzt war bei Ahmed der Schalter umgelegt. Er hielt immer die Augen offen, ob er mir bei irgendetwas helfen konnte, sei es die Lichtanlage für die Disco aufbauen, Müll runter tragen oder Geschirr spülen. Wenn kleine Kinder sich weh getan hatten, tröstete er sie, wenn sie sich stritten ging er dazwischen und erwies sich als total kompetenter Streitschlichter. Er fragte, ob er mir beim Kinderprogramm helfen dürfe und die anderen Jugendlichen warnten mich, er würde bestimmt wieder Scheiße bauen, aber alles lief wunderbar.
Mein Praktikum war bald danach zu Ende und ich habe Ahmed nie wieder gesehen. Ich fragte mich, ob mein pädagogisches Gegensteuern nur ein Strohfeuer ausgelöst hatte und vermutete, dass der nächste Frust ihn wieder in die Scheiße rutschen lassen würde. Dann traf ich nach ein paar Jahren ein Mädchen, dass auch Besucherin in der Einrichtung gewesen war und fragte: „Hast du mal was von Ahmed gehört? Was ist denn aus dem geworden?“
„Oh“, sagte Sibel, „Der ist total nett geworden, baut keine Scheiße mehr, macht jetzt auch 'ne Ausbildung.“
Ich freute mich und hoffte, dass er die Kurve wirklich gekriegt hatte.

Viele Jahre später las ich einen großen Artikel über ihn in der Lokalpresse. In dem Hotel, das er gemeinsam mit seiner Frau betrieb, war bei Umbauarbeiten überraschend ein wertvolles Kunstwerk zum Vorschein gekommen. Er hatte mehr als nur die Kurve gekriegt. Es hätte auch vollkommen anders laufen können. Die Saat war aufgegangen, auch wenn man nicht weiß wie.

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