Freitag, 15. April 2022
Achtzehnte Stunde
Maria Magdalena hatte das Haus des Zebedäus verlassen und war in ihre einfache Hütte zurückgekehrt. Das Haus, das ihr einmal gehört hatte, war längst verkauft, all ihre Habe hatte sie der Sache des Meisters geopfert und nur eine winzige Wohnung behalten, denn auch wenn die Gemeinschaft ihr gut getan hatte, war ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nie ganz verschwunden. Schließlich war sie ja eine unverheiratete Frau in den mittleren Jahren, sie hatte sich schon als junges Mädchen geschworen, niemals in die Falle der Ehe zu tappen und sich in die Sklaverei männlicher Willkür zu begeben. Über die gestandenen Mütter, die sie teils mit Argwohn, teils mit Mitleid betrachtet hatten, hatte sie nur immer müde lächeln können. Natürlich war es bequemer, einen Mann für die schweren Arbeiten und zum Schutz vor Übergriffen zu haben, aber nicht einmal die Hälfte der Ehemänner kam dieser Aufgabe in hinreichendem Maße nach. Und so hatten ihre Frauen einen Stall voller quengelnder Kinder mit hungrigen Mäulern und ein großes Kind dazu, vor dem sie sich am Ende auch noch in Acht nehmen mussten. Sie hatte es bei ihrer eigenen Mutter erlebt und sich geschworen, dass sie diese Bürde niemals auf sich nehmen würde. Sie hatte es geschafft, als Geschäftsfrau, die sich für die schweren Arbeiten Dienstleister kaufen konnte und als selbstbewusste Schönheit, die sich die Männer heimlich nahm, die ihr gefielen, wenn ihr der Sinn danach stand. Dadurch hatte natürlich ihr Ruf gelitten, sie war oft angegriffen worden und hatte mit der Zeit viele seelische Leiden entwickelt. Die Angst vor dem Alleinsein, die sie immer wieder zu bezwingen gesucht hatte, indem sie unverheiratete junge Männer bei sich übernachten ließ. Manchmal auch verheiratete, aber das machte die Sache ja am Ende schlimmer, weil die Ehefrauen sie hassten und mit dem Finger auf sie zeigten. Das machte sie reizbar, aufbrausend, angriffslustig und wenn ihr glühender Zorn verraucht war, sank sie regelmäßig in sich zusammen wie ein Häuflein Asche und blieb manchmal tagelang auf ihrem Lager und rührte sich nicht, bis die Geschäfte sie zwangen, wieder aufzustehen oder zumindest der Durst. So viele Nächte hatte sie wach gelegen und einfach nicht schlafen können, ohne zu wissen warum. Die Gedanken waren durch ihren vor Schmerzen pochenden Kopf gerast, ohne Ziel oder Zusammenhang. Morgens hatte sie sich dann gefühlt, wie ein ausgewrungener Wischlappen und so hatte sie wohl auch ausgesehen, denn die Männer auf der Straße hatten sich angewidert abgewandt und die Frauen hatten sie verspottet. Mit den Jahren hatte sich auch ein regelmäßig bohrender Schmerz unterhalb des Herzens eingestellt, der mal stach, mal brannte und den nur die weisen Kräuterfrauen zu lindern wussten.
Am schlimmsten aber war die Angst, die mehr war als nur Furcht, eine Todesangst, die aus ihrem Inneren kam, aus den tiefsten und unbekannten Abgründen, eine Gefahr, vor der es kein Entkommen gab und die niemand wahrnahm außer ihr selbst. "Meine sieben Dämonen", hatte sie all diese Leiden genannt und an dem Tag, an dem sie Jesus kennengelernt hatte, waren die ständigen Begleiter auf einen Schlag verschwunden. Wie hatte er das nur geschafft?

Sie war ja vorher auch kein zerbrechliches Ding gewesen, das Leben hatte sie abgehärtet. Ihre Gedanken gingen auf die Reise, in ihre Kindheit in Magdala, an den Ufern des Sees Genezareth.
"Maria, wach auf, ich muss auf den Markt und frisches Getreide kaufen. In der Zwischenzeit kannst du schon einmal Wasser holen und Feuer machen. Der Vater ist aus dem Haus gegangen, je mehr wir schaffen, bis er zurückkommt, umso besser."
Elias lag natürlich unangefochten in Morpheus Armen, für das Prinzlein gab es nichts zu tun und die Kleinen wurden besser erst später wach, denn wenn sie erst anfingen vor Hunger und Langeweile zu quengeln und Maria und die Mutter ständig aufpassen mussten, dass sie dem nichtsnutzigen, jähzornigen Vater nicht in die Quere kamen, war das Leben dreimal so anstrengend wie jetzt und jetzt war es eigentlich schon zu viel.
Maria stand auf, warf sich eine graue, teilweise zerrissene Tunika über und bedeckte die schlimmsten Stellen mit einem fadenscheinigen Tuch. Sie nahm den Tragestock mit den Wasserkrügen und machte sich auf den Weg zum See.
Viele Frauen waren bereits in den Straßen unterwegs, auch etliche Kinder. Die Männer waren überwiegend entweder draußen beim Fischen oder lagen faul in ihren Betten. Marias Vater hatte wohl ausnahmsweise eine Arbeit als Tagelöhner bekommen, man wusste aber nie, wann er zurückkam, denn meistens war er lange vor Ende eines Arbeitstages wieder zu Hause, weil man ihn zu fast nichts gebrauchen konnte.
An der Schöpfstelle herrschte bereits großer Andrang, überall in den Häusern gingen die Frauen Wasser holen oder schickten ihre Kinder. Auf einer nahe gelegenen Mauer lungerten einige Tagelöhner herum, die für diesen Tag nichts gefunden hatten. Einer von ihnen starrte Maria beharrlich an und sie gab sich Mühe, so zu tun, als bemerke sie es nicht. Als sie an der Reihe war und sich über das Wasser beugte, um zu schöpfen, war er blitzschnell bei ihr. ?Komm Mädchen, ich helfe dir.?, sagte er mit unangenehm bebender Stimme und war auf einmal überall um sie herum. Er roch unangenehm, nach schlechtem Atem, altem Schweiß und getrocknetem Urin. Maria wagte nicht, ihn zurückzuweisen, als er ihr das Holz auf die Schultern legte, nachdem er die vollen Wasserkrüge befestigt hatte und diesen Moment nutzte, um mit seinen groben Händen, nach ihren sprießenden Brüsten zu grapschen.
?Ist da schon was??, rief ein anderer, schmutziger Kerl von der Mauer und der Grapscher lachte dreckig. Maria verließ fluchtartig die Wasserstelle, das höhnische Männergelächter noch immer in den Ohren, auch als sie längst außer Hörweite waren. Vor lauter Aufregung stolperte sie über einen Stein, schlug lang hin und einer der Krüge zerbrach. Der andere war nur noch halb voll. So musste sie noch einmal zur Wasserstelle zurückkehren, voller Sorge, dass die widerlichen Kerle wieder auf sie aufmerksam wurden, aber sie hatte Glück, sie hatten sich einer anderen Tätigkeit zugewandt und bemerkten sie nicht. Der Andrang war auch abgeklungen, sodass sie schnell den noch unversehrten Krug füllen und heil nach Hause bringen konnte.
Die Mutter empfing sie mit Schimpftiraden, warum sie so getrödelt habe, dann bemerkte sie den zerbrochenen Krug. Der Vater war mittlerweile zurückgekehrt und schlug ihr mit der flachen Hand direkt ins Gesicht. ?Für so einen Krug muss ich einen Tag lang arbeiten!?, brüllte er und das war schlimm, denn wie so oft hatte die Arbeit für ihn heute wieder nur für eine Stunde gereicht.
Die Tage der heranwachsenden Maria aus Magdala glichen wie ein Ei dem anderen: viel Arbeit, wenig Schlaf, Schläge, Erniedrigungen und immer musste sie auf der Hut sein, um ihre Unschuld und ihr Leben zu schützen.

Sie wurde allmählich stärker und wehrhafter, aber oft sah sie sich so enden wie ihre Mutter und eines Tages fasste sie den Entschluss, an einen Ort zu gehen, an dem es mehr Möglichkeiten gab, und so zog sie fort nach Jerusalem, wo sie sich eine Existenz aufbaute.
Die Angst, das auf der Hut sein Müssen, der Druck und die viele Arbeit, das ließ nicht nach, trotz der endlich erreichten Unabhängigkeit. Die Zeiten waren schlimm für Frauen und oft beschlich sie das Gefühl, dass es kein Entkommen gab, dass die Bedrohung, die Gewalt, die Selbstverständlichkeit, mit der Männer über sie verfügten, einfach nicht aufhören wollte.

Bei Jesus konnte sie sich zum ersten Mal entspannen. Sie entdeckte die heilsame Kraft der Nächstenliebe, der einfachen Arbeit und des meditativen Gebets. Sie verliebte sich in Jesus, hielt es aber aus, dass sie ihn nicht für sich allein haben konnte und fand ihren inneren Frieden.
Ihr Leben war endlich gut geworden, drei wunderbare Jahre hindurch. Doch jetzt war Jesus
gestorben und sie war außer sich vor Trauer und hatte dieses Gefühl bisher nur durch Aktionismus bewältigen können.
Die unheimliche Stille und Dunkelheit der Nacht ließen sie die entsetzliche Leere spüren, die sich seit der neunten Stunde in ihr ausbreitete. Sie war unendlich erschöpft und brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, aber ihr Herz wollte sich nicht beruhigen, der Meister war fort für immer und es gab nichts, was sie hätte tun können, um dieses Unglück rückgängig zu machen oder wenigstens abzumildern.
Sie träumte von ihm, dachte an die vielen besonders vertrauten Momente, die Nähe, seine herzlichen Umarmungen und wie sich sein junger, drahtiger Körper angefühlt hatte. Wie sollte sie es ertragen, wenn sie ihn übermorgen wusch und salbte, der schlaffe, kalte Körper aus dem die Totenstarre sich bereits wieder gelöst haben würde, der seltsam wächsern oder anderweitig verfärbt aussehen würde und womöglich bereits den Geruch der Zersetzung verbreitete. Und wie wunderbar frisch und gesund Jesus gerochen hatte, selbst wenn sich mehrere Tage keine Gelegenheit zum Waschen geboten hatte. Sie hätte lieber den lebenden Jesus mit kostbarem Duftöl eingerieben, hätte die straffen Muskeln unter der glatten Haut sanft geknetet, seinen Atem gespürt und zugesehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten, ohne ihre Lebendigkeit zu verlieren.
Sie liebte ihn so sehr, nicht etwa, weil er so ein atemberaubend schöner Mann gewesen war, das war er nämlich gar nicht, eigentlich hatte er ziemlich durchschnittlich ausgesehen, wie die meisten Männer seines Alters, die in dieser Gegend aufgewachsen waren. Es waren seine Worte, sein Benehmen, die Aufmerksamkeit und Behutsamkeit, mit der er ihr immer wieder begegnet war. Gesehen werden, Wertschätzung und Liebe erfahren, bedingungslos und ohne Einschränkung, das war eine gänzlich neue Erfahrung für sie gewesen. Aber auch all die klugen Gedanken, die neuen Ideen, die sie sich auch wegen ihrer bestechenden Einfachheit sofort zu Eigen gemacht hatte. "Und wenn ich mich einfach weigere anzuerkennen, dass Jesus tot ist?", dachte sie. "Und wenn ich einfach so weiterlebe, als sei er auf eine große Reise gegangen und hätte mir zum Abschied Anweisungen erteilt, sein Werk bis zu seiner Rückkehr weiterzuführen, sodass gelingt, was er geplant und angefangen hat? Wenn ich einfach alles tue, um seine Liebe weiterzugeben? Wenn ich jederzeit und überall so handele, wie er gehandelt hätte? Dann ist er für immer bei mir, bleibt ein Teil von mir und bleibt auch ein Teil dieser Welt, zumindest so lange ich lebe. Und wenn ich es schaffe, meinen Jesus an Jüngere weiterzugeben, so gut, dass sie es auch schaffen, dann, ja dann wird er ewig leben. Und plötzlich breitete sich ein unbestimmtes Gefühl der Zuversicht in ihr aus, Wärme durchströmte ihren erschöpften Körper und mit dem Gefühl, Jesus nun wieder ganz nah bei sich zu haben, schlief sie ein.


Maria, die Mutter Jesu, lag ebenfalls noch wach, während ihre Kinder ruhig atmeten und den Schlaf der Gerechten schliefen.
Was konnte jetzt noch kommen? Was hatte sie noch vom Leben zu erwarten? Sie hatte bis hierher ein schönes Leben gehabt, aufregend, voller Höhen und Tiefen, voller Schicksalsschläge und glücklicher Wendungen, doch jetzt war es wohl vorbei, denn Jesus, der Grund ihres Daseins, der Mensch, den zu gebären und zu beschützen sie bestimmt war, war tot. Nun war es Zeit ihm zu folgen. Sie träumte sich zurück in die Zeit ihrer ersten Erinnerungen überhaupt, als das Leben noch voller Verheißungen gewesen war, die Zukunft wie eine verschlossene Schriftrolle voll von Segnungen und Abenteuern.

"Maria, komm ins Haus und hilf deiner Schwester beim Teig machen."
Die erschöpfte Stimme der Mutter riss Maria aus ihrer Welt. Sie hatte besondere Hölzchen gefunden, entrindete Olivenzweige. Wenn sie die nass machte, trat die bizarre Maserung deutlich hervor, ein beinahe goldgelber Grundton, durchzogen von tiefstem Braun und Schwarz. Man konnte daraus ein Tischchen bauen oder sich vorstellen, dass jedes Stöckchen eine Seele hatte, eine eigene Geschichte, Erinnerungen; und dass es an einem geheimen Ort wohnte, ganz in der Nähe, aber im Verborgenen.
Als Annas Stimme sie an die Wirklichkeit erinnerte, hatte sie sofort ein schlechtes Gewissen. Es gab so viel Arbeit und sie saß hier, spielte und träumte. Sie lief ins Haus und hatte schon vergessen, worin ihr Auftrag bestand.
"Was willst du?", zischte die ältere Schwester, die gerade Öl in die Mehlmulde goss.
"Ich soll dir beim Teigmachen helfen.", antwortete Maria zaghaft.
"Wie willst du mir dabei helfen?", fauchte die Schwester. "Geh Wasser holen! Dabei kannst du wenigstens nichts verkehrt machen. Aber beeil dich!"
Maria gehorchte. Der Brunnen war ganz nah. Sie nahm einen kleinen Krug, den sie auch im gefüllten Zustand mit ihren sechs Jahren schon tragen konnte. Als sie zurückkam, hatte die Schwester das Mehl schon mit Öl und Salz vermischt, eine neue Mulde gemacht und etwas Sauerteig eingefüllt. Ungeduldig nahm sie Maria den Krug ab und goss Wasser in die Mulde. Dann begann sie zu kneten.
?Schieb du mal das Mehl immer zurück auf den Haufen.?, sagte sie, ?dann geht es etwas schneller.?
Vorsichtig wischte Maria das Mehl vom Rand der Tischplatte in die Mitte.
?Nicht so zaghaft!?, schimpfte die Schwester. Wir müssen fertig werden.?
Nun ging sie zügiger zu Werke und die Schwester rief: ?Sachte, sachte, so schnell komme ich nun auch nicht hinterher. Das musst du doch merken!?
Maria hielt inne. Sie beobachtete das Muskelspiel in den Händen der Schwester. Kraftvoll gruben sich die langen, schmalen Finger in den noch klumpigen, ungleichmäßigen Teig. Fasziniert betrachtete sie das helle Mehl auf der glatten, braunen Haut, die geschmeidigen Bewegungen, die sich allmählich verändernde Konsistenz des ungebackenen Brotes.
"Träum nicht!", rief die Schwester. Das war wohl der Satz, den Maria in ihrer Kindheit am häufigsten gehört hatte. Dabei war Träumen so wichtig. Nur, wer sich eine Vorstellung von dem machte, worauf er hoffte, konnte ein Ziel ansteuern, eine Richtung einschlagen, Entscheidungen treffen und den eigene Weg gehen. Tief drinnen war sie bis heute das träumende Kind geblieben. Es war eine schwierige Kindheit, einsam und dunkel, es sei denn, die Verwandtschaft war zu Gast. Wenn Elisabeth zu Besuch kam, feierte das Leben Chanukka, egal zu welcher Jahreszeit. Alles war hell und fröhlich und jeder Tag mit der erwachsenen Cousine war ein Geschenk.
Elisabeth war verheiratet, aber damals noch kinderlos und darüber sehr unglücklich. Darum hatte sie viel Zeit und große Lust, sich um Kinder zu kümmern, auch um die fünfzehn Jahre jüngere Maria. Noch spannender wurden ihre Besuche, als aus dem kleinen Mädchen allmählich eine Frau wurde. Elisabeth hatte auf jede dringenden Frage eine zufriedenstellende Antwort: was es mit den Blutungen auf sich hatte, woher die Traurigkeit kam und wie die Liebe sich anfühlte. Manchmal unternahmen sie eine Wanderung auf den Hügel, um sich ungestört unterhalten zu können.
"Gibt es schon einen Verehrer?", hatte Elisabeth einmal gefragt, aber das war noch nie das gewesen, was Maria am meisten im Kopf herumging.

Eines Tages - die ältere Schwester war schon aus dem Haus und erwartete ihr zweites Kind - fragte Anna: "Wie kommt es nur, dass bis jetzt keiner um deine Hand anhalten will? Du bist jung, gesund, ehrbar, aus gutem Haus, wohlgestaltet und fleißig. Womit verschreckst du die Männer, dass keiner was von dir wissen will? Du müsstest längst verlobt sein. Wer soll dich versorgen, wenn ich einmal nicht mehr auf der Welt bin?"
"Ha Shem wird für mich sorgen.", antwortete Maria.
"Bei so viel Gottvertrauen wird der Herr dich nicht im Stich lassen.", seufzte die Mutter. "Wir müssen Geduld haben."

Und dann war es geschehen. Eines Tages hatte Josef vor der Tür gestanden, der Zimmermann. Er war da, um das Dach zu richten. Das dauerte ein paar Tage und Maria hatte ihn versorgt, mit Wasser, Brot, Oliven, etwas Lammfleisch und frischen Feigen. Manchmal hatten sie geredet. "Josef", hatte Maria gefragt, "was glaubst du, warum sind wir auf der Welt?"
Jeder junge Mann in der Stadt hätte laut aufgelacht und irgendetwas geantwortet wie: "Überlass solche Fragen dem Rabbi, Mädchen!" oder "Ich bin auf der Welt, du bist auf der Welt, was gibt es da noch zu fragen?"
Josef war anders. Er war auch nicht mehr ganz so jung. Er sagte erst einmal gar nichts, kaute ein Stück Brot, nahm einen Schluck Wasser. Schließlich antwortete er: "Ich glaube, dass jeder von uns etwas tun muss, um Gottes Garten zu bebauen und zu bewahren."
Was musst du tun?", fragte Maria.
"Ich weiß es nicht. Das musst du selbst herausfinden. Auch mal still sein und einfach nur hören."
"Das tue ich täglich.", antwortete Maria.
"Dann wirst du es sicher bald erfahren."

Als das Dach gerichtet war, fasste der ernsthafte und zurückhaltende Handwerker einen Entschluss. "Maria", sagte er, ?wie würde es dir gefallen, wenn ich deine Mutter bäte, dich zur Frau nehmen zu dürfen?"
"Das weiß ich gar nicht.", antwortete Maria verwundert. Josef wäre eher ein Mann für ihre Cousine Elisabeth gewesen, aber die war schon mit Zacharias verheiratet. Andererseits konnte sie mit Josef scheinbar über alles reden. Er war fromm, gutmütig, fleißig und in der Lage, eine Familie zu versorgen. "Nimm mich in deine Arme", sagte Maria, "damit ich spüre, ob es Liebe ist."
Josef war erstaunt, aber auch gerührt von der herzerwärmenden Offenheit dieser jungen Frau, von der zu befürchten stand, dass sie ohne einen starken Beschützer unterging. Und so umarmte er sie, hielt sie lange fest, sog den Duft ihrer Haare ein, und Maria spürte das süße Sehnen, das sich von oben bis unten durch ihren Körper zog, genauso, wie Elisabeth es beschrieben hatte.
"Ja, Josef", sagte sie schließlich. "Geh zu meiner Mutter. Sie wird überglücklich sein. Und ich auch."
In der Stadt sprach man über das seltsame Paar, aber Anna war zufrieden, Maria war gut versorgt. Doch Maria wusste nicht, was sie davon halten sollte. War sie dafür auf der Welt? Einfach, damit Josef seine Linie fortsetzen konnte?

Sie hatte die halbe Nacht wachgelegen, todmüde war sie und dennoch unruhig und aufgewühlt. Der Vorhang zu ihrer Schlafkammer wurde beiseitegeschoben. Da stand ein Mann in einem hellen Gewand. Der Mond schien durch das kleine, geöffnete Fenster und verlieh dem hellen Kleid eine geradezu himmlische Strahlkraft. Sie erschrak und richtete sich auf. Was wollte der Fremde? Er lächelte sie freundlich an und sagte: "Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!"
Nun erschrak Maria erst recht. Was hatte er vor? Meinte er, es sei eine Gnade, dass er sie in der Nacht besuchen kam? Elisabeth hatte sie vor solchen Männern gewarnt, die Freundlichkeit vortäuschten, Frauen in eine Falle lockten und ihnen Gewalt antaten. Der Fremde schien ihre Gedanken lesen zu können.
"Du musst keine Angst haben, Maria. Gott beschenkt dich mit seiner Gnade und ich bin der, der dich darauf vorbereiten soll. Gabriel bin ich, ein Bote des Herrn. Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Jesus soll er heißen, er wird der neue König des Hauses Israel sein und sein Reich wird ewig bleiben."
In Marias Kopf rasten die Gedanken.
"Wie soll ich ein Kind bekommen?", fragte sie verwirrt. "Ich habe ja nicht einmal einen Mann."
"Dieser Sohn kommt von keinem Mann. Gott selbst wird ihn zeugen mit seinem Heiligen Geist. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Deine Cousine Elisabeth ist bereits im sechsten Monat schwanger, obwohl die weisen Frauen sie bereits aufgegeben hatten, sie ist doch schon so alt. Und du wirst nun von Gottes Geist erfüllt. Und ich bin sein Bote."
Gabriel bewegte sich sanft lächelnd auf Maria zu. In seinen Augen spiegelte sich der Mondschein. Er strich ihr übers Haar, flüsterte ihr unverständliche Worte ins Ohr, plötzlich waren seine Hände überall, genauso wie seine Lippen, ihr ganzer Körper brannte, als stehe sie in Flammen und sie spürte, wie die Flamme des Herrn sie umgab und gleichzeitig in ihr loderte, sie war eins mit Gott, schaute den Himmel und blieb doch auf der Erde.
Zum Abschied hielt Gabriel sie an den Händen und blickte ihr tief in die Augen. Endlich wusste sie, wofür sie geboren war. Sie würde den größten König des Gottesvolkes zur Welt bringen und sie behielt ihren Platz für die Ewigkeit. Voller Dankbarkeit sagte sie: "Meine Seele ist außer sich vor Freude. Ich bin die Magd des Herrn und alles soll so geschehen, wie du es gesagt hast."
Gabriel drückte ein letztes Mal ihre Hände und verschwand.

Nach wenigen Tagen bemerkte Maria, wie sich ihr Körper veränderte. Sie bat ihre Mutter, Elisabeth besuchen zu dürfen, sie habe einen Traum gehabt.
"Nun", sagte Anna, "ich muss mich sowieso daran gewöhnen, dass du mein Haus verlässt. Richte Elisabeth meine Grüße aus."
Sie hatte sich auf den Weg gemacht, sich mit Elisabeth über deren lang ersehnte Schwangerschaft gefreut, Ratschläge erteilt, die sie hier und da aufgeschnappt hatte und schließlich von ihrer Begegnung mit dem Engel berichtet.
Elisabeth riss die Augen auf: "Du wirst es nicht glauben, aber in dem Moment, als du davon berichtet hast, hat das Kind in meinem Bauch vor Freude gehüpft. Die zwei werden im gleichen Jahr geboren, zusammen aufwachsen, zusammen spielen. Sie werden womöglich genauso gute Freunde wie wir."
Diese Vorstellung gefiel Maria, ahnte sie damals noch nicht, dass alles ganz anders kommen sollte.
Voller Freude kehrte sie nach Hause zurück und überbrachte die Neuigkeiten. Doch hier freute sich niemand. "Wer soll das glauben?", fragte ihre Mutter. "Noch nie ist einer Frau von Gott selbst ein Kind eingepflanzt worden, warum sollte dies ausgerechnet bei dir geschehen? Bist du eine Priesterin? Du bist eine gewöhnliche, kleine Nazarenerin. Die Leute werden dich steinigen, wenn sie davon erfahren. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen mit Josef reden. Er muss sich zu dem Kind bekennen."
Josef sagte gar nichts. Er hörte nur zu und ging irgendwann.
"Er wird dich verlassen.", sagte Anna. "Er will nicht für das Kind eines Fremden und seiner untugendhaften Verlobten sorgen."

Aber Josef hatte sie nicht verlassen. Er hatte es vorgehabt, das hatte er später zugegeben. Doch wilde Träume und gründliches Nachdenken hatten ihn am Ende überzeugt, dass der Glaube an einen allmächtigen Schöpfer auch die Möglichkeit eines jungfräulich empfangenen Gottessohnes beinhaltete. In den alten Schriften wurde er angekündigt; und wer, wenn nicht die tugendhafte und tiefsinnige Maria sollte für diese Aufgabe bestimmt sein? Warum sie auf der Welt seien, hatte sie gefragt. Nun wusste sie es. Und Josef wusste nun, warum er auf der Welt war. Um Jesus großzuziehen und zu beschützen und um für Maria da zu sein, die Mutter des Gottessohnes. Und sollte sie doch auf einen spitzfindigen Betrüger hereingefallen sein, der sich als Engel ausgab und sich so folgenlose Freuden für seine Lenden erschlich, so würde er trotzdem bei ihr bleiben, denn sie war eine gute Frau, eine die seinen Schutz brauchte und er liebte sie.

In der Stadt sickerte trotzdem einiges durch, denn die Wände der Häuser von Nazareth die dicht beieinander standen, waren dünn und die Fenster und Türen waren nie ganz verschlossen. Die Schande, die heimliche Verachtung blieben Maria nicht erspart. Josef wurde dagegen gelobt und schlimmstenfalls mitleidig belächelt.

Johannes, der Sohn ihrer Cousine Elisabeth, war schon fast ein halbes Jahr alt, da kam die Aufforderung zur Volkszählung, Josef musste nach Bethlehem, an seinen Geburtsort reisen und Maria musste ihn als seine Ehefrau begleiten. Alles war so vorherbestimmt gewesen, damit sich die Schrift erfüllte, das war ihr später klar geworden. Aber auf der Reise und erst recht bei der erfolglosen Suche nach einer Unterkunft hatte sie große Angst um das Kind gehabt, und zum ersten Mal hatte sie ein Zweifel beschlichen, ob sie nicht das Opfer eines Betruges oder einer Sinnestäuschung geworden war, ob da vielleicht gar kein großer Held in ihrem Bauch heranwuchs, sondern ein gewöhnliches Menschenkind, dem das Geschenk des Lebens verwehrt wurde.
Aber dann hatte sich alles gefügt, der warme Stall, die freigiebigen Hirten, die sich kümmerten und später sogar die weisen, reichen Männer, die extra von weit her angereist waren, nur um ihren Jesus kennenzulernen, zu begrüßen und zu beschenken. Schon damals hatte der mächtigste Mann im Land ihm nach dem Leben getrachtet, aber Gott hatte dieses Kind mehrfach beschützt und so waren sie den Auftragsmördern entkommen und rechtzeitig nach Ägypten geflohen.

Die Jahre in der Fremde waren nicht leicht gewesen. Von dem geschenkten Gold mieteten sie eine winzige Unterkunft, für den täglichen Lebensunterhalt schlug Josef sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lernte ein wenig von der fremden Sprache, während Maria sich in aller Zurückgezogenheit um ihr Kind kümmerte, Essen zubereitete, Wäsche wusch und das Haus sauer hielt. Nur, wenn sie auf dem Markt einkaufte, unter den argwöhnischen Blicken der einheimischen Frauen, dankbar, dass sie die schlüpfrigen Bemerkungen mancher gieriger Lüstlinge nicht dem Wortlaut nach verstand, nur dann hatte sie Kontakt zu anderen Menschen. Nach und nach lernte sie die Namen der verschiedenen Lebensmittel und die Zahlen, damit sie die Preise verstand. Und das wichtigste Wort lernte sie: Shokran ? Danke.
Immer wieder erfuhr sie auch Freundlichkeit und helfende Hände, aber es blieb das Gefühl der Fremdheit, die Sehnsucht nach der Heimat und die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis ihres Volkes, das Wissen um die Jahre der Sklaverei in Ägypten und die spektakuläre Flucht zurück nach Kanaan. Sie war dankbar für den Schutz, den diese Umgebung bot, aber sie fühlte, dass sie nicht dorthin gehörte.

Nach etwa drei Jahren war es Josef, der sagte, er habe nun so viele Nächte hintereinander von Nazareth geträumt und man höre sogar, dass König Herodes verstorben sei. Darum sei es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Und so waren sie heimgekehrt mit ihrem Kleinkind, waren zunächst bei Marias Mutter geblieben, weil sich in Josefs Haus eine arme Familie eingerichtet hatte, denen sie Zeit geben wollten, sich eine neue Unterkunft zu suchen. Kaum waren sie wieder ganz zu Hause angekommen, wurde Maria erneut schwanger.
Mit der Geburt des Jakobus war Jesus immer ungezogener geworden, oft scheinbar grundlos wütend und manchmal sorgte Maria sich um seinen kleinen Bruder. Schon bald kam Joses hinterher und wenn Maria gehofft hatte, Jesus gewöhne sich allmählich daran, so hatte sie sich geirrt. Er wurde immer aufbrausender, unwilliger und war kaum zu bändigen. Maria gab ihr Bestes, aber sie konnte nicht erkennen, wie tief erschüttert und voller Angst ihr Erstgeborener war, der als Dreijähriger aus seiner gewohnten Umgebung gerissen worden war. Als er sich gerade an die neuen Menschen im neuen Zuhause gewöhnt hatte, die ihn alle liebevoll umsorgt und vergöttert hatten, hatte schon wieder ein Wechsel stattgefunden, und dann war da plötzlich ein neuer Sonnenschein und er sollte sich auf einmal zurücknehmen, leise sein, beiseitetreten und geduldig warten. Als er gerade Hoffnung geschöpft hatte, dass es nun bald wieder besser würde, war das nächste Prinzlein hinterher gekommen.
Doch als Miriam zur Welt kam, hatte er versöhnlicher reagiert. Vielleicht, weil er in einem Mädchen weniger Konkurrenz witterte, vielleicht auch, weil er allmählich in einem Alter war, in dem er mehr verstehen und von sich selbst absehen konnte.
Mit den ersten beiden Brüdern blieb es aber schwieriger. Alles, was sie anfassten, nahm er ihnen aus der Hand, alles wusste er besser, nichts konnten sie gut genug machen. Und wie abfällig er über Frauen sprach. Er liebte seine Großmutter, seine Mutter und seine Schwester, denen konnte keine das Wasser reichen. Im Übrigen hielt er die Weiber jedoch für schwach, dumm, wehleidig und unansehnlich; sie sollten sich lieber im Verborgenen aufhalten. Sollte aus diesem Jungen einmal ein großer Erlöser werden? Maria hielt daran fest. Josef dagegen hatte seine Zweifel, ließ ihn in der Werkstatt lernen und nahm ihn besonders hart ran, um ihm seine Seltsamkeiten auszutreiben.
Auf die Geburten von Judas und Simon hatte er immerhin gelassener reagiert, aber je älter er wurde, umso mehr entwickelte er sich zu einem arroganten Naseweis. Den Gipfel seiner Anmaßung hatten sie beim Pessach in Jerusalem erlebt, als er sich als erst Zwölfjähriger vor dem Heimweg einfach in den Tempel abgesetzt hatte, um mit den Schriftgelehrten zu diskutieren. Zum ersten Mal hatte sie ihm gegenüber ungehalten die Stimme erhoben, weil sie sich so große Sorgen um ihn gemacht hatte und er mit seinem Alleingang die ganze Sippe in helle Aufregung versetzt hatte. Und wie frech er geantwortet hatte: ?Wisst ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss??
Maria war sprachlos gewesen, aber auch beeindruckt. Er hatte so erwachsen gewirkt, und die weisen Männer waren ganz hingerissen von seiner Klugheit. Ein bisschen stolz war sie damals gewesen, aber auch ein bisschen befremdet. Mit jedem Jahr, das er älter wurde, entglitt ihr Sohn ihr und sie konnte nichts dagegen tun.
In der Ausbildung zum Zimmermann, die nun zügig Fahrt aufnahm, tat Jesus sich schwer. Er geriet oft mit seinem Vater aneinander, stellte sich nicht sonderlich geschickt an, wollte sich aber auch nichts sagen lassen. Ermahnungen machten ihn ungeduldig, oft lief er einfach weg, um dann weit draußen vor der Stadt im Schatten eines Baumes stundenlang nachzudenken.
?Er ist zu klug fürs Handwerk.?, sagte Maria.
?Wer klug ist, lernt eins.?, hatte Josef erwidert. ?Denn wer nicht arbeiten kann, hat auch nichts zu Essen.?
Jesus nutzte jede sich bietende Gelegenheit, die Synagoge aufzusuchen, und auf dem Heimweg schimpfte er wie ein Rohrspatz über die starrsinnigen Schriftgelehrten. Doch obwohl Maria und Josef das Gefühl hatten, bei der Erziehung ihres Ältesten zu versagen, war er überall gern gesehen und schien sich außerhalb der Familie angemessen zu verhalten.

Er war schon ein junger Erwachsener, als die Familie sich um Josefs Sterbebett versammelte und es war Jesus, der seinem Vater beim letzten Atemzug die Hand auflegte und ihn segnete. Die drei Ältesten führten den Handwerksbetrieb gemeinsam weiter, bis Jesus schließlich feststellte, dass Jakobus und Joses mit Abstand bessere Zimmerleute waren als er und es hatte ihn ja auch nie wirklich begeistert, mit den Händen zu bauen. So war er auf eine lange Reise gegangen, um zu suchen, zu lernen und die Wahrheit zu finden. Viele Jahre des Wartens und Bangens waren das für Maria gewesen. Sie schlief schlecht, hatte Alpträume, denn sie hatte keine Ahnung, wo er steckte und wann sie ihn zurückerwarten durfte,
Und dann, nach vielen Jahren, stand er plötzlich vor der Tür. Schmal war er geworden und erste Fältchen durchzogen das Gesicht eines nun fast dreißigjährigen Mannes. Doch der ständige Zorn schien verraucht. Er blickte sie aus warmen, sanften Augen an und seinen Mund umspielte der Hauch eines zärtlichen Lächelns. Er verbrachte viel Zeit mit der Familie, erzählte nur wenig, stellte stattdessen viele interessierte Fragen und hörte aufmerksam zu. Geduldig war er geworden und er sprach plötzlich mit solcher Wertschätzung vom Handwerk seines Vaters und seiner Brüder, dass es Maria die Tränen der Rührung in die Augen trieb. Doch das Glück hatte sich als trügerisch erwiesen und nur von kurzer Dauer. Verpflichtungen gegenüber der Familie wies Jesus entschieden von sich, er war kein Sohn, der sich um seine verwitwete Mutter sorgte. Das überließ er seinen Brüdern.
Jesus ging wieder auf Reisen, allerdings blieb er von dieser Zeit an in Galiläa, sodass Maria ihren Sohn regelmäßig treffen konnte. Aber er verhielt sich nie wie ein Sohn, sondern stets wie ein entfernter Verwandter.

Wie groß war Marias Angst gewesen, als Johannes, der Sohn ihrer Cousine Elisabeth, von Herodes Antipas hingerichtet wurde, nur weil er offen darüber geredet hatte, was er für falsch und was er für richtig hielt. Sie litt mit Elisabeth und sie schrie zu Gott, dass er ihrem Sohn dieses Schicksal ersparen möge. Er hatte sich vierzig Tage in die Wüste zurückgezogen, was sie überhaupt nicht verstehen konnte. Was hatte er da nur gesucht? Und ob er es am Ende gefunden hatte?
Auf jeden Fall hatte er seine Verachtung gegenüber der Weiblichkeit abgelegt. Nach und nach schloss er immer mehr Freundschaften mit Frauen. Er heiratete nicht, schien noch nicht einmal eine Geliebte zu haben. Stattdessen redete er mit den Frauen, fragte sie nach ihrer Meinung, hörte ihnen zu, schätzte und ehrte sie und zeigte ihnen das auch. Für seine Mutter hatte er allerdings kaum noch Zeit. Wenn Maria es wagte, seine Unterstützung im Alltag einzufordern, wies er sie jedes Mal freundlich, aber entschieden zurück. Selbst wenn sie protestierte oder weinte, blieb er unerbittlich. Er wahrte ihr gegenüber eine unangemessene, geradezu verletzende Distanz, die sie aber schließlich erduldete, weil sie sich noch immer als Magd des Herrn sah und in Jesus den verheißenen Retter, dem zu dienen sie auf die Welt gekommen war.
Wie gut es doch war, dass sie die anderen Kinder hatte, die so lebenstüchtig waren, so voller Familiensinn. Jesus kam so selten zu Besuch, ohne seine Geschwister wäre Maria verloren gewesen. Maria schämte sich, dass sie die sieben anderen in ihrer Trauer vollends ausgeblendet hatte. Außerdem hatte Jesus sie unmittelbar vor seinem Tod beauftragt, auch dem Johannes eine Mutter zu sein. Seltsam, dachte sie, der hatte doch noch Mutter und Vater. Was hatte Jesus sich nur dabei gedacht? Sie würde es nie erfahren.

Es war nicht richtig, wenn Kinder vor ihren Eltern starben, aber es geschah immer wieder. Und würden alle Eltern, die ein Kind verlieren, ihr Leben wegwerfen, so würden viel mehr traurige und verlassene Kinder in dieser Welt zurückbleiben, als ohnehin schon. Sie musste noch ein bisschen hier bleiben. Sie entschied, sich den Augenblick von Jesu Sterben nicht länger vor Augen zu führen. Sie wollte lieber an den guten, fürsorglichen, lebendigen Menschen denken, der er für so viele gewesen war. Sie wollte ihn niemals vergessen und tun, was er getan hätte: für andere sorgen.

... comment