Mittwoch, 13. April 2022
Karfreitagabend - Sechzehnte Stunde
Simon aus Betsaida, Sohn des Jona, Bruder des Andreas blickte noch immer stumm in die verhalten murmelnde Runde. Wer waren sie vor drei Jahren gewesen und wer waren sie heute? Er erinnerte sich an seine Jugend, wie er als Heranwachsender die Kunst des Fischens auf dem See lernte und das neu erworbene Wissen sofort an den unwesentlich jüngeren Bruder Andreas weitergab. Wie er dachte, das sei nun sein Leben, wie er immer besser wurde, heiratete, hart arbeitete und langsam das Gefühl hatte, alles zu wissen.
Und dann hatte Jesus ihm gezeigt, dass er gar nichts wusste. Er hatte dem Rabbi sein Boot als Kanzel zur Verfügung gestellt und dann, nach einer erfolglosen Nacht auf dem See, der plötzlich wie ausgestorben war, hatte Jesus vorgeschlagen, noch einmal hinauszufahren und an einer ganz bestimmten Stelle die Netze auszuwerfen. Jeden anderen hätte er für unfähig erklärt und eigentlich auch diesen Jesus von Nazareth, der nichts weiter war als ein Zimmermann und Wanderprediger, was verstand der schon vom Fischen? Eigentlich gar nichts, aber er hatte ein Gespür für Menschen, einen Riecher dafür, mit wem er es zu tun hatte, eine Art sechsten Sinn. Und Jesus hatte ihn damals längst in seinen Bann gezogen mit diesem Blick und dieser Stimme, die einem das Gefühl gaben, gesehen und wertgeschätzt zu werden und außerdem unendlich viel zu wissen. Darum tat er genau das, was dieser ehrwürdige Rabbi vorgeschlagen hatte und siehe da, die Netze barsten vor Fischen, ein Jahrhundertfang, alle mussten mit anfassen, um die Beute sicher an Land zu bringen. Wenn er bis dahin vielleicht noch den Hauch eines Zweifels verspürt hatte, als das geschah, begann sein ganzer Körper zu kribbeln und er hatte gespürt, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Handwerker aus der Gegend war, nein, er besaß eine besondere Macht, eine Macht, die Gutes bewirken und die Welt verändern konnte. Und so warf er sich ehrfürchtig zu seinen Füßen, bereit sich unterzuordnen und Jesus zu dienen. Fortan war er sein Held gewesen, doch er hatte ihn verraten.

"Ich hatte ja von der Heilung der blutflüssigen Frau gehört.", hörte er Susanna zu Maria von Bethanien sagen. "Sie hatte nur den Saum seines Gewandes berührt und war augenblicklich geheilt."
Simon Petrus erinnerte sich an diese Szene. Eine riesige Menschenmenge hatte Jesus bedrängt und plötzlich hatte er innegehalten, irritiert hatte er seine Jünger angestarrt und gesagt: "Jemand hat mich berührt, eine Kraft ist von mir ausgegangen."
Jetzt dreht er langsam durch, war wohl alles ein bisschen zu viel in den letzten Tagen, hatte Petrus gedacht. "Meister", hatte er zu Jesus gesagt, "du bist umgeben von hunderten von Leuten. Alle versuchen dich zu berühren. Wie kannst du da einen Einzelnen vom Rest unterscheiden?"
Doch Jesus hatte auf seiner Wahrnehmung bestanden und die geheilte Frau hatte sich offenbart. Als sei das nicht genug an Wundern für einen Tag gewesen, waren direkt einige Leute auf Jesus zugekommen, um ihn zu einem kranken, bettlägerigen Mädchen zu führen. Es war die Tochter des Jairus, ein schwächliches Kind, sie hatte dagelegen wie tot, vielleicht war sie sogar schon hinübergeglitten in die Schattenwelt, doch Jesus hatte einfach ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass sie aufstehen solle und augenblicklich war sie wach geworden, aufgestanden und gesund herumgelaufen. Und er, Petrus, gehörte zum erlesenen Kreis, der Jesus begleiten durfte.

Ein weiterer Gesprächsfetzen drang an sein Ohr: "Wer hat jetzt eigentlich den Geldbeutel? Wir müssen doch übermorgen wieder einkaufen.", sorgte sich Thaddäus.
"Ja, blöd.", antwortete Matthäus. "Auch wenn er ein Verräter war. Judas wird uns noch fehlen. Ich wette in Zukunft sind wir chronisch pleite."
Judas Iskarioth. Was für ein schlauer Fuchs der doch gewesen war. Simon Petrus hatte sich ihm immer unterlegen gefühlt, wenn es darum ging, spontan die richtige Entscheidung zu treffen oder darum, Zusammenhänge vollends zu begreifen. Petrus war immer bereit, dazuzulernen, sich eines Besseren belehren zu lassen, allerdings war er nicht besonders schlau und oft nicht intelligent genug, um die Materie vollständig zu durchdringen. Seine intellektuelle Schwäche glich er durch Engagement und unbedingte Loyalität aus. Das war seine Stärke und hier ließen Judas Qualitäten zu wünschen übrig. Verschlagen war er gewesen, selbstsüchtig und von einer eigenartigen Eitelkeit. Er hatte sich immer mehr um die eigene Haut gesorgt, als um die Gemeinschaft. Bedingungslose Gefolgschaft war nicht seine Sache gewesen, er selbst dagegen, Simon, der Fels, konnte sich in eine regelrechte Naturgewalt verwandeln, wenn die Lage es erforderte. Ein gewaltiger Sturm hatte in ihm getost, als die Soldaten den Meister verhafteten und die ganze Energie hatte sich in einem einzigen Schwerthieb entladen, mit dem er einem Soldaten das Ohr abtrennte. Aber wenn er ehrlich war, hatte das nicht nur gar nichts genützt ? Jesus hatte den Verletzten sogar schnell und unkompliziert geheilt ? im Gegenteil, sie hatten Jesus einfach mitgenommen und in dem plötzlichen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen war er voller Todesangst geflohen. Zwar hatte er sich nicht verkrochen, sondern war dem Tross hinterhergeschlichen, um zu sehen, ob er nicht doch noch etwas ausrichten konnte, aber auch dabei hatte er keine Haltung bewiesen. Drei Mal hatte man ihn darauf angesprochen, dass er doch einer der Gefolgsleute des Nazareners sei und drei Mal hatte er es vehement abgestritten, ausgerechnet er, der gern seine starke Bindung an Jesus öffentlich demonstriert hatte. Er sah sich gern als einen, der dazu gehört, Bescheid weiß, Verantwortung trägt. Einmal hatte er gefragt, ob die Anforderungen, von denen Jesus sprach, nur für die Jünger oder für alle Menschen gelten. Schließlich hatte er seine Jünger nicht umsonst ausgewählt, sie hatten einen Auftrag. Jesus schloss jeden in seine Ansprachen ein, es galt für alle Menschen. Das war ein schwerer Brocken für Simon Petrus. Er teilte gern das Brot mit anderen, aber nicht seinen Rabbi, das fiel ihm schwer.
Er hatte ihm geschworen, dass er ihm immer die Treue halten und niemals wortbrüchig werden würde, aber Jesus hatte längst um seine Schwäche gewusst und den dreifachen Verrat angekündigt. Jetzt schämte er sich. und begann wieder verzweifelt zu schluchzen.

"Hör mal, Johannes, wusstest du eigentlich, dass ich es war, der Simon mit Jesus bekannt gemacht hat?", hörte Petrus seinen Bruder Andreas sagen.
"Ich erinnere mich dunkel.", erwiderte Johannes. "Aber das ist ja schon drei Jahre her."
"Ich war ja damals ein Freund des Täufers und schon aktiver in den Kreisen derer, die etwas bewegen wollten, während mein Bruder sich mehr um die Boote und die Fische sorgte. Jesus hat ihn genau da gepackt, wo man ihn packen musste: bei seinem Beruf, bei dem, was er schon immer am besten konnte. Darum hat er gesagt: 'Ich will euch zu Menschenfischern machen.' Und Simon war sofort Feuer und Flamme. Da konnte er direkt wieder zeigen, was für ein Pfundskerl er war."
"Das musste er doch gar nicht beweisen.", erwiderte Johannes gelassen. "Jeder weiß, dass Petrus stark und fleißig ist und ordentlich was wegschafft. Kein Wunder dass Jesus ihm diesen Beinamen verpasst hat."
Die ersten Augenblicke mit dem Meister schossen Petrus wie lebendige Bilder durch den Kopf. Der Besuch mit Jesus, Andreas, Jakobus und Johannes in der Synagoge, wo er sich hinstellte und lehrte und den Unmut der altehrwürdigen Schriftgelehrten erregte. Einer, der die Traditionalisten durchschüttelte, indem er ihnen die Wahrheit entgegenschleuderte, sanft aber kraftvoll. Direkt danach hatte er einen Besessenen von einem bösen Geist befreit. So etwas hatte der junge Simon nie zuvor gesehen und er hätte nicht für möglich gehalten, dass er eines Tages selbst dazu in der Lage sein würde. Schließlich war er zu Gast in seinem Haus gewesen, wo Simons Schwiegermutter zitternd im Bett lag und schon seit Tagen an einem hohen Fieber litt. Jesus hatte ihr seine segnenden Hände aufgelegt und sie war augenblicklich geheilt gewesen. So einen Menschen gab es ja gar nicht, der konnte nur direkt von Gott kommen.

"Seht mal, ich habe den Geldbeutel gefunden!", rief Martha erfreut.
"Oh, ich hätte erwartet, dass er ihn behält.", bemerkte Jakobus Alphäus.
"Was machen wir denn jetzt damit?", fragte Martha. "Zu essen haben wir im Moment genug. Sollen wir es den Armen spenden, bevor die Steuereintreiber es sich holen?"
"So schlimm wäre das gar nicht."meinte Johannes. "Wisst ihr noch wie Jesus gesagt hat, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist?"
"Bei der Tempelsteuer war er aber nicht so freigiebig.", erklärte Petrus und zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag zauberte die Erinnerung ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Wir kamen nach Kapernaum, da kamen die Steuereintreiber, die den Tempelgroschen einnehmen, auf mich zu und sagten: 'Zahlt euer Meister nicht den Tempelgroschen?' Und ich sagte 'Doch, natürlich.' Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jesus etwas nicht tut, das von jedem frommen Juden erwartet wird. Also ging ich ins Haus, um Geld zu holen und da sprach Jesus mich an und sagte: 'Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige der Welt Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?' 'Von den Fremden.', habe ich geantwortet. Ich meine, die Römer schröpfen uns ja auch mehr als ihre eigenen Bürger. Da sagte Jesus einen seltsamen Satz: 'So sind die Kinder frei.' - Er meinte damit tatsächlich, dass er als Sohn Gottes keinen Beitrag leisten müsse. Eigentlich hatten sie kein Recht, irgendetwas von ihm zu verlangen. Aber er wollte keinen Ärger, dafür war ihm die Sache nicht wichtig genug, allerdings wollte er auch nicht an unsere Reserven gehen und dann gab er mir einen ziemlich eigenartigen Auftrag: 'Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben' sagte er 'geh hin an das Meer und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib's ihnen für mich und dich.' Und dann habe ich gemacht, was er mir gesagt hat und tatsächlich habe ich einen dicken Fisch aus dem See gezogen, der ein Zweigroschenstück im Maul hatte."

"Ich finde Simon Petrus sollte unser neuer Schatzmeister werden.", scherzte Philippus.
"Wegen dieser alten Geschichte?", fragte Petrus ungläubig.
"Nicht nur deswegen.", erwiderte Philippus. "Ich kenne dich von Kindesbeinen an, schließlich stamme ich auch aus Bethsaida. Du bist schon immer eine ehrliche Haut gewesen, dir würde ich sogar mein Leben anvertrauen. Und Jesus hielt große Stücke auf dich. Auf die Frage, für wen die Leute Jesus halten, haben wir alle unterschiedliche Antworten gegeben. Auch auf die Frage, für wen wir ihn halten, kamen seltsame, komplizierte Erklärungen, aber du, Simon gabst die Antwort, er sei Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Du hast von uns allen den stärksten Glauben und du stehst zu deinen Überzeugungen. Darum nannte Jesus dich Petrus, den Fels auf dem er seine Kirche bauen wolle, sprach dir die Himmelsschlüssel zu und eine irdische Macht, Dinge auf Erden für immer zu verbinden oder für immer zu lösen."
"Das kann ja alles sein.", entgegnete Petrus, "aber ich bin es nicht wert, derartig bevorzugt zu werden, schließlich habe ich den Meister verleugnet und mich feige verdrückt."
"Das haben wir alles außer Johannes.", erwiderte Bartholomäus. "Weißt du nicht mehr, wie du beteuert hast, dass du für Jesus auf alles verzichtet hast: dein geregeltes Einkommen, deinen Platz in der Familie, so wie wir alle? Und Jesus hat dir und allen anderen zugesichert, dass wir dafür hundertfach entschädigt werden. Wir haben am Ende alle Fehler gemacht, aber wir haben in den letzten drei Jahren auch vieles richtig gemacht. Und du ganz besonders, Petrus."

"Unsinn.", sagte Petrus. "Ich bin nur selbstsüchtig. Ich wollte Jesus den Leidensweg ausreden, da wurde ich hart von ihm angegangen, aus mir spreche der Satan, das menschliche Bedürfnis, vielleicht die Selbstsucht, nicht der göttliche Plan."
"Du hast ihn von allen am meisten geliebt.", erklärte Johannes. "Sei nicht zu streng mit dir. Wer liebt, der will auch etwas. Und niemand hat ihm so bedingungslos vertraut wie du. Weißt du noch, wie du ihm auf dem Wasser entgegengelaufen bist?"
"Ja, aber da habe ich ihn auch schon verraten", antwortete Petrus, "denn auf einmal hatte ich Zweifel und bin prompt versunken und er musste mich retten. Und ich? Ich habe ihn verraten."
"Jetzt ist es aber mal gut!", schimpfte Simon Kananäus. "Hör auf, dich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden. Du hast immer zum exklusiven Kreis seiner Lieblingsjünger gehört!"

Petrus schwieg und erinnerte sich im Stillen. Er kannte seinen Platz und hätte sich nie etwas angemaßt, das ihm nicht zustand. Er wollte unbedingt immer alles richtig machen, zu hundert Prozent.
So wie damals, als er zusammen mit den Brüdern Jakobus und Johannes bei der Verklärung Jesu auf dem Berg dabei war. So ergriffen war er von diesem besonderen Moment, dass er direkt drei Hütten bauen wollte: eine für Mose, eine für Elia und eine für Jesus. Er neigte schon immer zu blindem Aktionismus. Genau wie später, als er bei Jesu Verhaftung auf den Soldaten losging. Er lebte ganz im Hier und Jetzt und hätte gern gehabt, dass es immer so bliebe. Er wollte das Glück mit Jesus unbedingt festhalten, notfalls mit Gewalt. Und dann musste er alles, was er dort auf dem Berg erlebt hatte, bis zu einem Tag, der noch in weiter Ferne lag, für sich behalten. Er würde auch jetzt nicht darüber reden. Er wollte der vertrauenswürdige Simon bleiben, als den Jesus ihn gekannt hatte.
Das war nicht der einzige besondere Moment, den der Meister nur mit ihm, seinem Bruder und den Söhnen des Zebedäus geteilt hatte. Reden über die Endzeit hatte er in der vertraulichen Runde gehalten. Die anderen wussten nichts davon. Von falschen Propheten und verheerenden Kriegen hatte der Meister gesprochen, von Erdbeben und Hungersnöten und das sei erst der Anfang. Auch dass man sie, die Jünger, um Jesus willen vor Gericht stellen würde, dass sie gehasst werden würden, aber am Ende die Rettung stehe. Jesus selbst käme zurück, begleitet von Engeln. Der Tag sei nahe, aber der Zeitpunkt ungewiss. Hatte die Endzeit schon begonnen? War Jesu Tod nicht mehr als ein Vorzeichen, vielmehr ein Paukenschlag?
Ach und er hatte derartig versagt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. In der Stunde der größten Angst und Not hatte er es nicht einmal geschafft, wach zu bleiben, um dem Meister mit Trost und Anteil nehmender Gegenwart beizustehen.
Doch er war nicht der Lieblingsjünger Jesu, das war Johannes. Darum hatte er ihn auch gebeten, aus Jesus heraus zu kitzeln, wer ihn verraten würde.
Beim Abendmahl kam es zum Rangstreit unter den Jüngern und Jesus erklärte ihm, dass der Satan die Jünger sieben wolle wie Weizen, dass er, Jesus, aber für ihn, Simon, gebetet habe, dass sein Glaube stark bleibe. Er müsse künftig für seine Brüder sorgen. Petrus versprach unbedingte Gefolgschaft, und dann kündigte Jesus die feigen Verleugnungen bis zum Hahnenschrei an. Das war wie ein Faustschlag ins Gesicht, eine brüske Zurückweisung, ein Vom-Sockel-Schubsen.

Petrus blickte weiter in die Runde. Alle hatten sie von Jesus die Macht über unreine Geister erhalten. Und jetzt? Wohnten diese Geister nicht in jedem von ihnen? Er seufzte. Als Junge war seine Welt so begrenzt gewesen. Man holte Fische aus dem See und Früchte vom Feld und von den Bäumen. Man wusste, was nötig war, um zu überleben und dass ein Baum, der keine Früchte trug, nichts weiter war als Platzverschwendung. Der wurde abgehauen und an seiner Stelle ein neuer gepflanzt. Dass jemand einen Baum aber von einem Augenblick auf den anderen verdorren lassen konnte, das hatte er nie zuvor erlebt. So etwas konnte nur Jesus. Und so hatte er gezeigt, wie der göttliche Zorn wüten konnte, über denen, die ein fruchtloses Leben führten. Käme dieser Zorn nun über sie alle? Was konnten sie schon ausrichten? Sie saßen hier, versteckten sich, zitterten vor Angst und schoben sich Nahrung in den Mund, die denen, die wirklich etwas bewirkten, besser gedient hätte. Konnte Gott ihnen ihr Fehlverhalten vergeben, wenn er sich nicht einmal selbst vergeben konnte? Er erinnerte sich an eine Geschichte.

Jesus hatte immer wieder von Vergebung gesprochen. Simon war damit durchaus einverstanden, jedoch gab es Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, die ihn immer wieder übervorteilt hatten, sooft sie auch Besserung gelobten, sie schafften es einfach nicht, anständig zu bleiben. Irgendwann musste es auch mal genug sein mit dem großen Herzen, fand er und so fragte er Jesus: "Sag mal, Meister, wie oft muss ich meinem Bruder denn vergeben? Reichen sieben Mal?"
"Sieben mal siebzig Mal.", forderte Jesus und erzählte das Gleichnis vom Schalksknecht. Gott vergibt dem, der selbst bereit ist, zu vergeben.
Und jetzt hatte Simon Petrus Gottes Vergebung nötiger als je zuvor in seinem Leben. Der Kummer darüber und die unendliche Scham trieben ihm erneut die Tränen in die Augen, die gar nicht mehr aufhören wollten, wie Bäche aus ihm herauszuströmen und Schluchzer schüttelten seine Brust.

Susanna setzte sich zu ihm und legte ihm tröstend eine Hand in den gebeugten Rücken. Sie sagte: "Jesus hätte nicht gewollt, dass du dich selbst zerfleischt. Wir haben alle Fehler gemacht und werden auch immer wieder daneben greifen. So sind wir Menschen. Jesus wusste das und hat uns so geliebt, wie wir sind. Auch dich. Dich ganz besonders. Dich hat er ausgesucht, um zusammen mit Johannes das Passahmahl vorzubereiten. Denn er wusste, dass du tust, was man dir aufträgt, ohne nach dem Warum zu fragen und ohne, dass dich jemand antreiben muss."
"Ja", sagte Petrus. "Das war mir immer wichtig, dass er mich auserwählt hat. Aber das war so selbstsüchtig. Bis zum Schluss. Sogar bei unserem Abschiedsessen Bei der Fußwaschung fand ich es zunächst unangemessen, dass Jesus mir die Füße waschen wollte und nicht umgekehrt. Als Jesus darauf bestand, wollte ich am ganzen Körper gewaschen werden. Ich wollte gern ein Auserwählter sein, jemand Besonderes, obwohl mir im Grunde immer klar war, dass mir tatsächlich keine herausragende Stellung zusteht. Ich habe ja längst erkannt, dass Jesus für alle Menschen da sein will, nicht nur für einen erlesenen Kreis. Ich finde das auch richtig, aber es schmerzt mich. Heimlich habe ich doch immer gehofft, für immer und ewig der beste Freund und Bruder meines Meisters zu sein."
"Aber das bist du doch.", entgegnete Susanna.
Petrus schüttelte energisch den Kopf. "Johannes ist so ein Jünger. Klug, still, bescheiden und besonnen. Ich dagegen bin aufbrausend, jähzornig und schwer von Begriff. Der Herr konnte mich gebrauchen, aber am meisten geliebt hat er Johannes."
"Johannes hat auch seine Schattenseiten.", entgegnete Susanna. "Nur weil sie für uns nicht sichtbar sind, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Wir alle lernen unser Leben lang und du musst eben lernen, deine Wut zu bezwingen. Oder sagen wir lieber, sie zu bändigen, denn sie ist nicht eigentlich etwas Schlechtes. In deinem Zorn steckt eine große Kraft und manchmal ist es von Vorteil, wenn diese Kraft sich Bahn bricht, zum Beispiel, wenn man für etwas kämpfen muss."
"Ja", pflichtete Petrus ihr bei. "Das habe ich früher auch immer gedacht. Aber Jesus wollte nicht, dass wir kämpfen. Es geht mir heute noch so, dass ich nicht immer alles aushalten und hinnehmen will, ich will zurückschlagen, wenn mir einer wehtut, will die, die ich liebe, verteidigen. Aber Jesus hat den Frieden gepredigt und den neuen Menschen. Ich muss ein neuer Mensch werden, doch das ist mir bis heute nicht gelungen."
"Du bist zu streng mit dir.", sagte Susanna. "Keiner von uns hat so viel für den Meister gegeben wie du."
"Ich hätte alles für ihn getan.", erwiderte Petrus. "Ich war so begeistert von ihm, aber ich wollte auch etwas zurückbekommen, nämlich die gleiche Liebe und Bewunderung, die ich für ihn aufgebracht habe. Das war anmaßend und dumm."
"Unsinn.", entgegnete Susanna. "Das ist menschlich. Und du hast ja nicht deinen Zorn über ihn ausgegossen, als du gewahr wurdest, dass er alle Menschen liebt und niemanden wirklich bevorzugt. Du hast dein Los demütig angenommen und ihm weiter die Treue gehalten."
"Weil es mich stolz machte, dass er mir etwas zutraute. Leider wurde ich dabei auch immer etwas größenwahnsinnig und er musste mich auf den Boden zurückholen."
"Aber du hast aus deinen Fehlern gelernt und bist noch immer bereit, dich zu verändern. Sieh dich doch einmal um. Es gibt nicht viele, die solchen Mut und solche Kraft haben."
"Von wegen Mut und Kraft.", seufzte Petrus. "Sieh mich Elenden doch an. Meine Scham ist größer als ich, kein Versteck abgelegen genug, um mich zu verbergen. So große Versprechen habe ich herausposaunt und nichts ist davon übriggeblieben, als Kleinmut und Furcht um mein unbedeutendes Leben."
"Vielleicht verlangst du oft mehr von dir, als du schaffen kannst. Du bist ein Mensch, kein Gott, kein Messias, nur sein Helfer und Begleiter. Aber das hast du immer hervorragend gemacht. Und wenn du dich im Moment der größten Gefahr in Sicherheit gebracht hast, dann zeigt das nur deinen Willen zu überleben. Wie willst du denn ein lebendiges Werkzeug Gottes sein, eine Zeuge des Messias, wenn du dich von räudigen Soldaten erschlagen lässt? Glaubst du die anderen blicken auf dich herab? Ganz im Gegenteil! Sie sehen ehrfürchtig zu dir auf, sie bewundern dich für deine Treue, deine Tatkraft und deine tiefe, unerschütterliche Überzeugung. Und ich tue das auch. Heute Abend saß ich vor meinem Haus und war in Trübsal versunken. Ich war kurz davor, wieder die zu werden, die ich vor meiner Begegnung mit Jesus war. Eine schwache, kranke, unglückliche, einsame Frau, die es kaum schafft, sich selbst zu versorgen. Und dann habe ich an dich gedacht. Simon Petrus, habe ich gedacht, der würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Der war dem Herrn so nahe, der trägt ihn für immer in seinem Herzen. Und darum bin ich hier her gekommen, um den Menschen nahe zu sein, die Jesus in sich tragen, damit ich mich weiter in seinem Glanz wärmen kann und stark, gesund und glücklich bleiben, wie ich es seit meiner Begegnung mit Jesus bin ? und nie mehr allein."

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