Dienstag, 12. April 2022
Karfreitagabend - Fünfzehnte Stunde
Im Hause Zebedäus kam wieder Bewegung in die Eingenickten. Der spontane Erschöpfungsschlaf, der sie im Sitzen übermannt hatte, hatte mit erholsamer Nachtruhe nicht viel gemein.
"Oh, wie rücksichtslos von mir", entschuldigte sich Maria Alphäus bei Johanna. "Wie lange habe ich an deiner Schulter geruht?"
"Nicht so lange." erwiderte Johanna lächelnd. "Aber jetzt würde ich gern ein paar Schritte durch die kühle Nachtluft gehen. Danach sitzt alles wieder an seinem Platz."
"Geh nicht so weit.", ermahnte sie Zebedäus. "In der Nacht ist immer so viel Gesindel auf den Straßen."
"In der Nacht schläft das Gesindel.", widersprach Johanna. "Und der Herr wird mich schon beschützen. Und falls ich doch umkomme, bin ich noch heute mit dem Meister vereint. Mir kann also nicht Schlimmes zustoßen."
Johanna verließ das Haus und Zebedäus sagte zu Maria Alphäus: "Ich mache mir wirklich Sorgen. Sie ist zu leichtfertig."
"Sie ist erwachsen.", entgegnete Maria. "Wäre sie deine Tochter, könnte ich deine Sorge verstehen. Aber Johanna ist eine gestandene Frau, die es gelernt hat, auf sich achtzugeben. Sie geht ein wenig die Straße rauf und runter. Hier wohnen nur ehrbare Leute und falls sich wirklich ein Räuber oder Schänder in eure Straße verirrt und ihr zu nahe tritt, dann wird sie ein Geschrei veranstalten, von dem ihm die Ohren noch in einer Woche klingen werden, und die ehrbaren Leute werden aus ihren Häusern kommen und den Bösewicht vertreiben."
"Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte Zebedäus. "Aber um deine Kinder hast du dann auch Angst?"
"So wie alle Eltern.", antwortete Maria. "Selbst jetzt, wo sie längst erwachsen sind. Vielleicht sogar noch mehr, als zu der Zeit, als sie noch taten, was ihre Eltern ihnen auftrugen und ich immer wusste, wo sie sich aufhielten. Levi hat sich einen schlechten Ruf erworben, ich hatte immer Angst, dass es mal schlimm mit ihm endet und bin so froh, dass er Jesus nachgefolgt ist und auch darüber, dass er sich einen neuen Namen zugelegt hat. Von einem Zöllner, der Matthäus heißt, hat noch niemand gehört.
Und um unseren Jakobus habe ich mich fast noch mehr gesorgt, weil er immer allen beweisen musste, dass er noch härter war, als sein großer Bruder. Dabei hat er vollkommen aus dem Blick verloren, wo er eigentlich hinwill. Er irrt ziellos durchs Leben, wie ein Blinder ohne Stock und Führer. Mit Jesus hat er zum ersten Mal einen Weg gefunden."
"Das Gefühl habe ich bei meinen Söhnen auch.", wandte Zebedäus ein. "Nicht dass sie planlos durchs Leben gestolpert wären, bis sie Jesus trafen. Aber Jakobus dachte immer zu wenig nach und Johannes zu viel. Der Älteste taugte nicht in der Synagoge, der Jüngere nicht auf dem See. Als hätte ich bei beiden nicht das richtige Maß gefunden, dem einen etwas vorenthalten, was ich dem anderen im Übermaß zuteilwerden ließ. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe."
"Vermutlich hast du gar nichts falsch gemacht.", erklärte Maria. "Sie sind eben so geworden, wie sie sind. Gott hat das so gewollt. Bei Levi habe ich auch oft gedacht, an welcher Stelle haben wir es versäumt, ihm zu erklären, was Recht und Unrecht ist und worauf es ankommt im Leben. Ich habe nie verstanden, dass so ein rücksichtsloser, gieriger Zecher aus ihm werden konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn zu sehr verwöhnt und alles Unangenehme von ihm ferngehalten habe. Und ich konnte ihm die Boshaftigkeit nicht austreiben, so sehr ich mich auch bemüht habe. Erst Jesus hat das geschafft. Vielleicht wollte unser Gott den Levi genauso haben, wie er war, damit Jesus den Menschen zeigen konnte, dass jeder jederzeit umkehren kann. Und am Ende war es nicht schlecht, dass Jakobus keinen starken eigenen Willen hatte, denn so hat er sich einfach seinem Bruder angeschlossen und ist Jesus genauso nachgefolgt wie er. Heute bin ich stolz auf meine Söhne und auf das, was aus ihnen geworden ist. Aber Sorgen muss ich mir schon wieder machen, weil ich befürchte, sie könnten verhaftet werden."
"Ja wegen irgendeiner Sache sorgt man sich immer.", bestätigte Zebedäus Marias Rede. "Und sicher hat es auch einen tieferen Sinn, wenn Brüder so verschieden sind. Bei deinen ist es ja nicht anders als bei meinen. Während dir der eine zu hartherzig und der andere zu ziellos war, habe ich mich immer gefragt, ob es richtig war, dass ich alles mit Jakobus tat und Johannes meistens bei seiner Mutter ließ. Wie sollte ein richtiger Mann aus ihm werden, wenn er den ganzen Tag nur Weibergewäsch um die Ohren hatte? Aber ich musste lernen, dass man auf viele Arten ein Mann sein kann und meine beiden Söhne, so unterschiedlich sie sind, haben sich zusammengerauft und gelernt, sich gegenseitig zu schätzen und zu respektieren. Sie haben erkannt, dass einer den anderen braucht, weil jeder für sich zu unvollständig ist, um gut durchs Leben zu kommen. Als sie Kinder waren, haben sie oft furchtbar gestritten. Johannes wollte immer überall mitmischen, war aber noch ein bisschen klein und ungeschickt und Jakobus hat ihn nie gelassen. Einmal sind sie so sehr aneinandergeraten, dass Johannes Jakobus verprügelt hat. Danach ging es komischerweise besser.
Als Jakobus sich dann allerdings an Johannes den Täufer hängte, diesen Wutprediger, da bekam ich es mit der Angst."
"Aber Johannes der Täufer hat doch den Weg für Jesus bereitet. Die beiden waren doch sogar miteinander verwandt, ihre Mütter waren Cousinen.?, warf Maria Alphäus ein.
"Ja genau.", erwiderte Zebedäus. "Und sein Vater war Zacharias, ein angesehener Mann mit einem verantwortungsvollen geistlichen Amt. Nun muss er sich grämen über den Verlust seines Sohnes, über den die Leute jahrelang abfällig redeten. Ein Wunder, dass der Hohe Rat ihn nicht seines Amtes enthoben hat. Johannes hatte vielleicht das richtige Gespür für das Kommen des Herrn, aber nicht dafür, wie man es anstellt, seiner Familie keine Schande zu machen."
"Aber was war denn so furchtbar an ihm?"
"Das wirre Haar, der ungepflegte lange Bart, er trug keine anständige Kleidung sondern Tierfelle, er aß nur Heuschrecken und wilden Honig und er brüllte, wenn er predigte, als werde er über dem Feuer geröstet. Viele dachten, er sei wahnsinnig und ich hatte ebenfalls den Eindruck. Als Jakobus anfing, ihm nachzulaufen, hatte ich große Angst, dass er genauso wahnsinnig wird. Er half nicht mehr beim Fischen, ließ mich einfach im Stich, sodass ich oft allein mit Johannes auf dem See war. Da habe ich angefangen, meinen Zweitgeborenen einmal richtig kennenzulernen. Er ist der Klügere und Besonnenere von den beiden. Jakobus ist ein Hitzkopf. Als Jesus dann auftauchte und er ihm auch direkt hinterherlief, riss mir der Geduldsfaden. So ein Unsinn, irgendwelchen Predigern zu folgen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Und dann folgte Johannes ihm auch noch. Mein Jüngster ist noch zu klein zum Fischen, ich kann doch nicht alles allein machen, dafür bin ich mittlerweile zu alt. Zum Glück sind sie mir dann doch regelmäßig zur Hilfe gekommen und heute bin ich stolz, dass sie zu Jesu Gefolgsleuten gehören."

Im Versteck der Jünger herrschte nach wie vor verhaltenes Gemurmel. Eine bedrückende Stille, die sich aus dem noch nicht verebbten Schock über den grausamen Tod des Meisters, Trauer und Furcht speiste. "Wie viele Tage gibst du uns noch?", fragte Thomas Philippus. "Drei? Oder vielleicht sieben?"
"Vielleicht auch Siebentausend, wenn wir uns in acht nehmen.", erwiderte Philippus.
"Wie denn?", fragte Thomas.
"Uns verborgen halten, nicht auffallen, bis der Blick des Hohen Rates und der Römer auf andere vermeintliche Gegner fällt."
Es klopfte an der Tür und augenblicklich breitete sich ein gespenstisches Schweigen aus. Manche hielten den Atem an. Als das Klopfen lauter und energischer wurde, begann Marias Atem sich zu beschleunigen. Ihre Schwester Martha legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen. "Sch.", zischte sie leise und Maria bemühte sich um tiefere und langsamere Atemzüge.
"Keine drei Tage.", flüsterte Thomas und Philippus rammte ihm ärgerlich einen Ellenbogen in die Seite.
?Lasst mich rein.", flehte draußen eine zarte Frauenstimme ? oder die verstellte Stimme eines Soldaten, denn es konnte keine von ihnen sein, sonst hätte sie das Losungswort genannt. Niemand rührte sich.
Simon Petrus zitterte vor Angst und vor Scham darüber flossen schon wieder reichlich Tränen aus seinen verweinten Augen.
Es klopfte wieder eindringlich. Nach einem Moment des Lauschens sagte die Stimme: ?Bitte, lasst mich rein! Ich bin es, Susanna."
Martha atmete tief durch und ging zur Tür. Andreas hielt sie am Handgelenk fest und schüttelte energisch mit dem Kopf.
"Ach lass mich!", zischte sie und riss sich los. "Ich erkenne doch Susannas Stimme. Wenn ihr Männer euch nicht immer so vor Angst vergraben würdet, wer weiß, vielleicht wäre der Herr noch am Leben."
Petrus schluchzte laut auf und Martha öffnete die Tür einen Spalt breit. Sie erkannte Susanna und zog sie schnell ins Haus, um die Tür sofort wieder zu verschließen. Erleichtertes Aufatmen machte die Runde und vom Tisch aus schimpfte Jakobus, der Sohn des Zebedäus: "Wie kannst du uns nur alle so in Angst und Schrecken versetzen? Warum hast du nicht das Losungswort gesagt, dann hätten wir alle sofort gewusst, dass von dir keine Gefahr ausgeht."
"Ich habe es vergessen.", gestand Susanna schuldbewusst.
"Dann wärst du besser nicht hergekommen.", wies Jakobus sie zurecht. "Du hast uns alle in Gefahr gebracht, dadurch, dass du so lange vor der Tür gestanden hast und um Einlass gefleht hast. Das fällt auf und gibt Gerede."
"Jetzt sei nicht so herzlos, Bruder.", mischte Johannes sich ein. "Wir sind alle gerade zutiefst erschüttert und ein bisschen durcheinander. Susanna geht es nicht anders, da hat sie eben das Losungswort vergessen. In ihrem unscheinbaren Gewand wird sie keinem aufgefallen sein. Auf Frauen wird nur geachtet, wenn sie sich besonders herausputzen."
"Entschuldigt bitte.", sagte Susanna leise. "Ich konnte nicht eher kommen, ich saß einfach vor meinem Haus und konnte mich nicht bewegen, als wenn mit Jesus auch meine ganze Kraft und all mein Mut und meine Freude gegangen sind."
"Das geht uns allen so.", bestätigte Maria von Bethanien dieses Bekenntnis. "Komm, setz dich zu mir und iss ein Stück Brot und trink etwas Wein, dann geht es dir gleich etwas besser."
Susanna bedankte sich und genoss das Mahl in der angenehmen Gesellschaft einer treuen Freundin.

"Typisch Maria", dachte Martha und begann, geräuschvoll den Tisch abzuräumen. Sie konnte nicht aus ihrer Haut: So lange die Hausarbeit sie ansah, musste sie sie erledigen, wenn niemand sonst sich erbarmte. Alle saßen schwermütig an der Tafel und gaben bedeutungsvolle Reden von sich, dabei schoben sie sich das liebevoll zubereitete Essen gedankenverloren zwischen die Zähne, als sei es eine lästige Pflicht. Genauso wie damals, als Jesus bei ihnen in Bethanien zu Besuch gewesen war. Sie, Martha, hatte sich vorher ausführlich Gedanken gemacht, hatte sorgfältig eingekauft und viel Mühe auf die perfekte Zubereitung verwendet. Das Brot aus dem fein gemahlenen Mehl war wunderbar aufgegangen, hatte das ganze Haus mit seinem köstlichen Duft erfüllt, außen knusprig, innen weich und saftig, bestrichen mit dem besten Öl und gewürzt mit frischen Kräutern. Dazu hatte sie eingelegte Oliven gereicht, gebratenes Lamm, gar und trotzdem zart und kräftig gewürzt. Das I-Tüpfelchen war eine Grütze aus gerösteten Gerstenkörnern, Granatapfelkernen, frischen Trauben und Nüssen gewesen, verfeinert mit Honig. Und erst der Wein, den hatte Lazarus selbst gekeltert und er war ihm ausgezeichnet gelungen.
Maria hatte nur den Tisch gedeckt, kurz bevor der Meister kam, war den ganzen Tag in ihrer gedankenverlorenen, ineffektiven Art durch Haus und Garten gestreift, hatte hier ein Stäubchen weggewischt, dort ein Kräutlein ausgezupft, aber alles ohne Plan und vor allem ohne Tempo. Das hatte sie wie immer ihrer kleinen Schwester überlassen. So viele Jahre hatte sie die große Schwester bewundert, hatte sein wollen wie sie, so wohlgestaltet, elegant, geschickt darin, andere in ein Gespräch zu verwickeln und an sich zu fesseln, zu allem eine Meinung, auf jede Frage eine kluge Antwort oder zumindest eine originelle Gegenfrage. Doch Martha schaffte es nicht. Niemand war sonderlich an den Gesprächen mit ihr interessiert, sie wusste auch schon bald nichts mehr zu sagen und die Männer sahen ihr auch nicht so hinterher wie ihrer großen Schwester. Sie suchte es wettzumachen, indem sie sich einfach immer bei allem, was sie tat, anstrengte, immer ihr Bestes gab und so war sie über die Jahre zu einer perfekten Hausfrau und Gastgeberin herangereift. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass Maria auch diese neue Wendung perfekt für sich zu nutzen wusste, indem sie sich bequem zurücklehnte und alles Martha überließ: "Ach Schwesterchen, keiner kocht, backt und bewirtet so perfekt wie du, da kann ich dir nicht annähernd das Wasser reichen. Ich übernehme die Unterhaltung der Gäste, damit ich mich wenigstens ein bisschen nützlich machen kann."
Als dann Jesus zu Besuch kam und Maria Martha wieder die ganze Arbeit allein machen ließ, während sie selbst als wortgewandte Gesprächspartnerin glänzte, war ihr schließlich der Kragen geplatzt. Sie wollte auch etwas von Jesus haben und nicht nur schuften, bis ihr die Füße wehtaten. Sie setzte auf Jesus' Gerechtigkeitssinn, denn er hatte davon gesprochen, dass jene selig seien, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt würden und wenn sie schon selbst bei der großen Schwester nichts ausrichten konnte, so hoffte sie, Jesus würde ihr den Gefallen tun und Maria die Welt erklären. Sie hatte versucht ihren Ärger hinter einem schelmischen Scherz zu verbergen: "Ach Meister, wenn du meiner großen Schwester die wichtigen Dinge des Lebens erklärst, kannst du ihr dann nicht auch einmal darlegen, dass die Arbeit geteilt werden muss, damit die einen nicht mit geschwollenem Kopf vor Untätigkeit verkümmern, während die anderen verblöden und gleichzeitig unter der Last zusammenbrechen? Sie hat wohl bis heute nicht verstanden, dass Hausarbeit keine Zauberei ist."
Martha hatte erwartet, dass Jesus sich belustigt auf die Schenkel klopfen würde und Maria den Hinweis gäbe: "Geh, löse deine Schwester ein bisschen ab, damit sie nicht verblödet und deine Ärmchen nicht so dünn wie junge Olivenzweige werden."
Stattdessen ermahnte er Martha: "Ach Martha, ich gebe zu, dass du viel zu tun hast mit dem guten Essen, das will alles geplant, bedacht, vorbereitet und wohlüberlegt und geschickt zubereitet sein. Du bist eine Meisterin darin, aber deine Schwester ist auch eine Meisterin. Eine Meisterin im Zuhören und Erzählen, im Fragen Stellen und Antwortengeben. In der Zuwendung an den Gast, den sie genau sieht und für den sie ganz und gar da ist, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Und glaube mir, Maria hat den besseren Teil gewählt."
Das war ein Schlag ins Gesicht gewesen, eine Demütigung die alles in den Schatten stellte, was sie bisher an Herabwürdigung erfahren hatte, und sie hatte weiß Gott viel in dieser Richtung mitgemacht. Wäre es nicht Jesus gewesen, sie hätte ihm die Grütze ins Gesicht geschleudert und ihm ordentlich die Meinung gesagt. Aber bei Jesus konnte sie das nicht. Bei Jesus konnte sie nur unendlich verletzt und traurig sein und schweigend hinnehmen, dass nicht einmal er auf ihrer Seite war. Sogar zu seiner Liebe hatte Maria ihr den Weg verstellt. Keine Grenze hatte sie respektiert, ihn kurz vor seinem Ende mit teurem Duftöl gesalbt. Als wäre das nicht schon mehr als genug gewesen, hatte sie seine Füße mit ihren Tränen begossen und mit ihren Haaren abgetrocknet. Wie war sie nur dazu gekommen, ihn einfach anzufassen, die nackte Haut, als wäre er ihr Mann gewesen? Martha hätte sich so etwas nie getraut und sie beneidete ihrer Schwester auch jetzt noch um die Nähe zu Jesus, die sie sich einfach genommen hatte, ganz zu schweigen von der dramatischen Selbstinszenierung. Manchmal beschlich sie der Verdacht, dass es Maria gar nicht um Jesus gegangen war, sondern um sich selbst.

Als alle Schüsseln eingeweicht und alle Krüge mit Vorräten und Resten gut verschlossen waren, schweifte Marthas Blick durch den Raum und blieb bei Salome hängen. "Auch so eine Schöne.", dachte sie, "auch so redegewandt und anziehend, vermutlich ebenso unpraktisch und rettungslos verloren in der Küche wie Maria."
Aber dann erinnerte sich Martha, dass sie in der Nacht nach Jesu Besuch sehr lange nachgedacht hatte und ihr aufgefallen war, dass es zwar schön war, gutes Essen vorgesetzt zu bekommen, dass das aber alles wenig wert war, wenn es nicht mit Liebe und Zuwendung serviert wurde. Und in der Tat, das war nicht Marthas Sache, das konnte ihre Schwester einfach besser. Vielleicht musste sie lernen, hinzunehmen, dass jede von ihnen andere Stärken hatte. Nur dass ausgerechnet ihre Stärken weniger wert sein sollten, das konnte sie nicht akzeptieren. Aber wer wusste schon, wie Salome sich als Gastgeberin verhielt? Sie kannte sie kaum. Vielleicht sollte sie heute einmal damit anfangen, interessierte Fragen zu stellen und aufmerksam zuzuhören, denn im Haus war ja nun wirklich nichts mehr zu tun.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte sie Salome höflich.
"Aber natürlich.", antwortete die. "Du hast es geschafft, dass ich mir nach dem Essen die Finger abgeleckt habe, obwohl ich eigentlich vor lauter Kummer überhaupt keinen Hunger und keine Lust auf ein Abendessen hatte."
Martha lächelte geschmeichelt. "Das lag vermutlich am guten Öl und an den frischen, jungen Kräutern."
"Aber man muss es auch schon können.", sagte Salome. "Bei den Salben, die die anderen für den toten Jesus hergestellt haben, kam es auch auf die richtigen Zutaten an. Aber ich habe mich aus der Herstellung herausgehalten, ich hätte nur alles verdorben."
"Kochst du nicht so gern?", fragte Martha.
"Nein.", antwortete Salome. "Ich kann etwas zubereiten, damit niemand verhungert, aber ich bin besser darin, Stoffe zu weben und Gewänder zu nähen."
"Das ist auch wichtig.", sagte Martha. "Das kann ich nicht so gut. Es reicht, um sich zu bedecken, aber es sieht nicht schön aus, was ich selbst nähe. Und zum Weben fehlt mir die Geduld."
"Ach", winkte Salome ab. "Ich habe es von klein auf von meiner Mutter gelernt und wenn man sich nebenbei Geschichten erzählt oder Lieder singt, dann ist es fast so, als wäre man nicht bei der Arbeit sondern beim Schabbat."
"Hast du so Jesus kennengelernt?", fragte Martha, "Hast du ihm ein Gewand genäht?"
"Ich? Ach was, nein, ich war eine aus der begeisterten Menge, die ihm nachlief, um zu hören, was er zu sagen hatte. Ich kenne so viele alte Geschichten, aber wenn er sie erzählte, bekamen sie plötzlich einen ganz neuen Sinn, alles wurde klarer, hoffnungsvoller, reicher. Und jetzt ist er schon wieder fort. Nicht einmal drei Jahre durfte ich ihm nachfolgen, dabei hätte ich doch noch so viel von ihm lernen können. Ich bin entsetzlich traurig."
"Ja, traurig bin ich auch.", sagte Martha. "Und bestimmt hätte ich noch viel mehr lernen müssen. Vielleicht lerne ich es ja jetzt von dir."
Maria, die Frau des Klopas, eine Cousine der Mutter Jesu setzte sich zu den beiden Frauen. "Oh ja, Salome.", sagte sie, "Lass uns von dir lernen. Keine kennt so viele von den alten Geschichten wie du."
"Ach, die kennt doch jede.", winkte Salome ab. "Ja, gehört haben wir sie alle einmal.", antwortete Maria Klopas. "Aber ich habe das meiste vergessen. Mir geht es ja mehr so wie Martha, ich brauche meinen Kopf vor allem für den Haushalt."
"Hast du auch einmal den Meister bewirtet?", fragte Martha.
"Oh ja.", antwortete Maria Klopas. "Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Klopas, mein Mann, hatte Jesus da schon seit geraumer Zeit unterstützt, war zu den Orten gegangen, an denen der Meister geredet hat, hat ihm Lebensmittel und manchmal auch etwas Geld gegeben oder eine Unterkunft organisiert, wenn er wusste, dass Jesus eine Reise an einen Ort plante, an dem Klopas Verwandte hatte. Ich habe wirklich Glück gehabt mit ihm. Er ist ehrlich, treu, anständig, fleißig und geschickt. Und dann kam der Tag, als er aufgeregt in der Tür stand und mir eröffnete: 'Jesus von Nazareth kommt heute Abend als Gast in unser Haus, zum Essen und zum Übernachten und er bringt noch ein paar von seinen Jüngern mit.'
Da hatte ich alle Hände voll zu tun, dass ich etwas Anständiges und genug zu essen auf den Tisch brachte. Als wir dann alle beim Abendbrot saßen, kam ich endlich zur Ruhe. Und das war das erste was mich an Jesus erstaunte: Er lobte mich dafür, dass ich es verstand, mich nach getaner Arbeit auszuruhen. Erst danach lobte er meine Kochkunst und meine Gastfreundschaft. Er sagte, es ist gut, für andere zu sorgen, aber man muss auch für sich selbst sorgen und für beides das richtige Maß zu finden, ist keine leichte Sache. Zuerst dachte ich, dahinter verberge sich ein unterschwelliger Tadel, aber er meinte es ganz freundlich und danach sagte er noch so viele andere Dinge, wie er die Welt sah und wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte.
Zum Beispiel, dass die Welt ein Ort ist, der gleichzeitig schön und schrecklich ist, dass aber all das Schreckliche uns im Grunde nichts anhaben kann, wenn wir Gott in uns tragen. Dann kann zwar unser Körper zugrunde gehen, aber unsere Seele bleibt beschützt und wird gerettet. Und ich dachte an meine tote Mutter, die mir auch nach so vielen Jahren noch immer zur Seite steht in meinen Gedanken und Träumen, die nie wirklich fortgegangen ist, obwohl ihr Leib doch längst in der Grabhöhle verdorben ist.
Alles, was Jesus sagte, fühlte sich gut an, selbst wenn es schwer war und herausfordernd, es war nie entmutigend, nie zu schwer, nie so bitter, dass es einen vergiftet hätte. Seit dieser Nacht trug ich Jesus immer bei mir wie meine Mutter, obwohl er ja noch lebte, aber er war ja für so viele gekommen, nicht nur für mich. Er hat mich froh, frei, stark und mutig gemacht und darum durfte ich ihn in seiner schwersten Stunde auch nicht im Stich lassen. Ich glaube, dass er jetzt bei uns ist, auch wenn sein Körper verfaulen wird, Jesus ist unter uns, da bin ich mir sicher."

Martha tat sich ein bisschen schwer mit dieser Vorstellung. Sie hatte erlebt, wie Jesus ihren vor Tagen verstorbenen Bruder wieder zum Leben auferweckt hatte. Lazarus lebte, aber er lebte genauso wie vorher, in seinem Körper, dem Werkzeug des Handelns. Was tat eine entleibte Seele? Sie hatte ja nicht einmal eine Stimme, um zu sprechen. Martha seufzte. Vielleicht konnte sie von Salome und Maria Klopas ja noch lernen, wie sie die Gegenwart Jesu fühlen konnte.

... comment