Montag, 11. April 2022
Karfreitagabend - Vierzehnte Stunde
Das Essen im Hause Zebedäus war beendet. Die Gespräche waren vorübergehend zum Erliegen gekommen, denn alle waren schrecklich erschöpft und von Trauer durchdrungen. Zuerst war Maria Alphäus eingenickt, dann der Gastgeber selbst. Johanna saß ruhig da und starrte ins Leere, denn die schlafende Freundin lehnte entspannt an ihrer Schulter, sie wollte sie nicht aufwecken.
Frau Zebedäus räumte den Tisch ab und Maria Magdalena half ihr, die benutzen Schalen und Platten in den Hof zu tragen, wo schon das Spülwasser bereit stand. Sie weichten die verunreinigte Töpferware nur ein, denn der Schabbat hatte begonnen und die gründliche Reinigung des Geschirrs würde nicht vor dem kommenden Abend erfolgen. In stillem Einverständnis setzten sie sich in die kühle Abendluft und Maria Magdalena fragte die Gastgeberin: "Ist es sehr schlimm für dich, dass deine beiden ältesten Söhne in dieser schweren Stunde nicht bei dir sind?"
"Nicht so schlimm.", antwortete sie. "Ein bisschen traurig, aber sie sind ja nicht aus der Welt. So ist der Lauf der Dinge. Die Kinder werden groß und verlassen Vater und Mutter. Aber sie unterstützen uns immer noch sehr und sind ja meistens in unserer Nähe."
"Sie sind sehr unterschiedlich, nicht wahr?"
"Oh ja.", antwortete Frau Zebedäus und schmunzelte. "Jakobus ist durch und durch der Sohn seines Vaters und macht seinem Namen alle Ehre. Eine Kämpfernatur. Wäre er ein Zwilling, er hätte den anderen bei der Geburt nicht an der Ferse festgehalten, sondern zur Seite geschubst. Schon als kleiner Junge liebte er es, mit den Männern zusammen raus zu fahren, die vollen Netze ins Boot zu ziehen, ja sogar das Töten und Vorbereiten der Fische für den Markt machten ihm Freude. Manchmal war er mir regelrecht unheimlich. Ich fühlte mich wie eine Außenseiterin, als sei er gar nicht mein Kind, als sei ich nur das Gefäß gewesen, in dem der Spross des Zebedäus heranwuchs."
"Und das macht dich nicht stolz?", fragte Maria Magdalena vorsichtig.
Frau Zebedäus schaute sie ungläubig an, dann sagte sie: "Von den meisten anderen Frauen hätte ich so eine Frage durchaus erwartet, von dir allerdings am allerwenigsten."
Maria kicherte. "Stimmt. Ich wäre auch nicht gern ein nützlicher Gegenstand im Hause eines angesehenen Mannes."
"Eben.", erwiderte Frau Zebedäus. "Ich beklage mich ja nicht, er ist ein guter Mann, anständig, fleißig, stark und liebevoll. Kein jähzorniger Schläger, kein Trinker, kein Jammerlappen. Doch unsere Ehe ist eine Hausgemeinschaft, mehr nicht."
"Wieso? Ihr habt doch Kinder."
"So meine ich das nicht. Wir teilen die Verantwortung für unsere Kinder, das Bett, den Tisch und die Arbeit, die getan werden muss. Aber wir reden auch nur über diese Dinge. Was wir essen, wie viel Geld wir haben, was repariert werden muss, wie groß der Fang war, wenn ein Kind krank wird. Doch wir reden nie darüber, ob wir traurig sind oder froh, was wir glauben und woran wir zweifeln. Wovor wir Angst haben und was uns Mut macht."
"Männer führen solche Gespräche wohl nur untereinander.", meinte Maria.
"Zebedäus führt keine solchen Gespräche.", entgegnete seine Frau.
"Manche Männer können darüber nicht so gut reden, die machen das mehr mit sich selbst aus."
"Zebedäus macht nichts mit sich selbst aus.", widersprach seine Frau. "Er ist ein Fischer mit starken Muskeln, einer reinen Seele, einem funktionierenden Verstand und gänzlich ohne Sinn für alles, was nicht praktisch ist."
"Warum bist du seine Frau geworden?"
"Es ergab sich so. Er bot sich an, sah gut aus, war im passenden Alter, war stark, gesund und fröhlich. Warum hätte ich ihn zurückweisen sollen? Ich habe von einem Mann damals nicht erwartet, dass er tiefschürfende Gespräche mit mir führt. Er sollte mir Sicherheit bieten und mich gut behandeln. Das ist mehr, als die meisten Frauen bekommen. Aber wir sind sehr verschieden, Zebedäus und ich. Wir lieben und achten einander, aber wir können nicht miteinander reden."
"Und Johannes ist anders?", fragte Maria neugierig.
"Ganz anders. Er ist tatsächlich ganz und gar mein Sohn. Er ist auch keine Heulsuse oder ein Tölpel, aber für ihn waren die Arbeiten auf dem Boot nie das Höchste, was er im Leben erreichen wollte. Er machte sich schon früh Gedanken, ihm fielen Dinge auf. Zum Beispiel, dass es nicht gerecht ist, dass eine Witwe in Armut leben muss, wenn sie keine erwachsenen Kinder hat, die sie versorgen, während ein Mann ohne Frau einfach sein Tagwerk verrichtet, sein Haus unterhalten kann und genug zu essen hat, so dass es ein leichtes für ihn ist, eine neue Frau zu finden und bald wieder ein normales Leben zu führen. Mit Johannes hatte ich, seit er sprechen gelernt hat, an jedem Tag mehr gehaltvolle Gespräche als mit Zebedäus in dreißig Ehejahren."
"Und dann kam Jesus und hat dir beide Söhne weggenommen. Und den Johannes ganz besonders."
"Du meinst, weil er ihn zum Sohn der Maria von Nazareth erklärt hat?"
Maria Magdalena nickte zustimmend.
"Nein, das ist nicht schlimm. Zuerst war ich schon ziemlich aufgewühlt, aber dann hat Johannes mich angesehen und ich wusste, er ist noch immer mein Sohn, er kümmert sich nur um Maria. Jesus wollte sie versorgt wissen."
"Sie hat doch noch andere Kinder."
"Ja, aber die standen Jesus alle nicht besonders nahe und sie sind auch eher von der praktischen Sorte, so wie Zebedäus und Jakobus. Sie bieten keinen Ausgleich für den großartigen Jesus, der den Menschen ins Herz sah, so klug und so aufmerksam war. Und der so ganz und gar von Gott durchdrungen war, dass ein Glanz von ihm ausging. Mein Johannes war immer der Lieblingsjünger, das ist jedem aufgefallen, vielleicht ist etwas von dem Glanz Jesu auf ihn übergegangen. Er ist derjenige, der Marias Erstgeborenem am nächsten stand, ihm am ähnlichsten war, in der Art, wie er durchs Leben ging. Sie braucht seine Freundschaft, und ich muss sagen, dass ich ziemlich stolz auf ihn bin, gerade weil er derjenige ist, der mich am besten versteht."
"Und wie wird es nun für dich weitergehen?", fragte Maria Magdalena
"Das wird sich finden.", antwortete Frau Zebedäus gleichmütig. "Zebedäus wird weiter Fische fangen, unsere jüngeren Kinder werden größer und Jakobus und Johannes werden tun, was sie für richtig halten. Ich hoffe nur, sie werden keine langen Reisen antreten, weil ich dann keinen mehr zum Reden hätte. Aber wenn sie sich dazu entschließen, muss ich es hinnehmen."
"Du kannst dann ja ab und zu mit mir reden.", meinte Maria schmunzelnd.
"Ja", erwiderte Frau Zebedäus. "das wäre schön."

Im Versteck der Gemeinschaft saßen die engsten Vertrauten Jesu vorn, nahe am Eingang. Weiter hinten im Haus, am letzten Ende des Tisches, wo weitaus weniger Licht eindrang, hielten sich die anderen auf. Sie waren die Jünger in der zweiten Reihe. Diejenigen, die nie so nah an den Meister herangekommen waren, wie die Söhne des Zebedäus oder Petrus und Andreas.
"Wo ist Judas eigentlich?", fragte Jakobus Alphäus.
"Hast du das nicht gehört?", fragte Thaddäus. "Der hat sich in der letzten Nacht draußen vor der Stadt erhängt."
"Nein, das wusste ich nicht. Das ist ja furchtbar."
"vielleicht das Beste, was er je getan hat.", meinte Matthäus.
"Sag so was nicht!", wies Simon Kananäus ihn zurecht. "Judas hat uns immer gut über die Runden gebracht. Er war der Einzige, der vernünftig mit Geld umgehen konnte."
"Er war vor allem gut darin, immer unauffällig etwas für sich selbst abzuzwacken." unkte Matthäus.
"So unauffällig kann das ja nicht gewesen sein", wandte sein Bruder Jakobus ein, "wenn es sogar dir nicht entgangen ist."
"So durchtrieben kann er nicht gewesen sein." überlegte Thaddäus. "Ein Gewissenloser setzt seinem Leben nicht einfach so ein Ende, der mogelt sich weiter durch. Ich weiß gar nicht, ob Judas tatsächlich etwas für sich abgezwackt hat, ich weiß nur, dass er unser Geld gut verwaltet hat. Er war vielleicht nicht ganz reinen Herzens, aber wer kann das schon von sich behaupten?"
"Ja, du hast Recht.", gab Matthäus zu. "Ich war ja viele Jahre viel schlimmer als Judas. Ich habe Geld für die Römer eingetrieben und mich an meinen Brüdern schadlos gehalten. Nicht, weil ich es brauchte, sondern weil ich gern und viel gefeiert habe. Wenn ich den Geldbeutel gehabt hätte, wäre ich vermutlich auch das eine oder andere Mal schwach geworden."
"Selbst nachdem Jesus dich davon überzeugt hat, ein neue Lebensweise an den Tag zu legen?", fragte Thaddäus.
"Ich weiß es nicht.", erwiderte Matthäus. "Jedenfalls bin ich kein Heiliger. Jesus hat mich zum Nachdenken gebracht. Und mein Mitgefühl und mein schlechtes Gewissen habe ich danach nicht mehr betäubt. Aber wenn ich mir lange genug einrede, dass ein Vorteil, den ich mir verschaffe, niemandem schadet, dann kann ich auch ein bisschen was von meinem Anstand verlieren."
"Das kenne ich.", sagte Simon Kananäus. "Ich habe mir auch jahrelang eingeredet, dass die Zeloten im Recht sind, weil sie sich gegen die unrechtmäßigen Besatzer wehren, die uns gewaltsam ausplündern. Ich finde es immer noch richtig sich zu wehren, aber ich hatte schon damals so ein ungutes Gefühl, wenn die Kampfgenossen mit glänzenden Augen davon berichteten, wie sie einen römischen Soldaten abgestochen hatten. Ich dachte dann heimlich immer, dass der junge Mann sich das sicher nicht ausgesucht hat, in Palästina Dienst zu schieben, dass er viel lieber bei seiner Familie oder bei seiner Liebsten wäre, in seiner Heimat und dort irgendetwas tun könnte, womit er seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Sein Kaiser hat ihn verpflichtet und er musste gehorchen, um sein Leben zu erhalten ? und dann haben wir es ihm genommen."
"Hast Du jemals selbst einen abgestochen, Simon?", fragte Matthäus.
"Nein, nie."
"Dann klebt doch auch kein Blut an deinen Händen."
"Doch. Das Blut von vielen. Und gerade eben war ich wieder soweit und habe selbst vorgeschlagen, die Männer des Hohen Rates zu ermorden. Da hatte die Wut wieder mehr Gewalt über mich als Verstand und Mitgefühl zusammen. Ich hätte etwas unternehmen müssen, um die Morde zu verhindern."
"Wie denn?"
"Durch Überzeugungsarbeit."
"Wenn das möglich gewesen wäre", wandte Thaddäus ein, ?hätte Jesus die anderen auch überzeugt. Hat er das?"
"Nein."
"Und da meinst du, dir hätte es gelingen können?"
"Nein.", räumte Simon ein. "Aber ich hätte es trotzdem versuchen müssen."
"Damit hättet du deine wertvolle Kraft verschwendet.", widersprach Matthäus. "Besser, du predigst denen, die es auch hören wollen."
"Aber bedeutet das nicht, dass wir dann für alle Zeiten unter uns bleiben?", fragte Thaddäus. "Wie sollen wir als Bewegung wachsen, wenn wir immer nur zu denen sprechen, die wir ohnehin längst überzeugt haben?"
"Wir wachsen schon noch.", meinte Matthäus. "Wir wollten ja auch zuhören, obwohl wir überzeugt werden mussten. Es gibt sicher noch viele, die auf der Suche sind oder die sich ganz verloren fühlen und sich von uns finden lassen wollen."

Susanna saß noch immer vor ihrem Haus und blickte mit den Händen im Schoß in den dunklen Abendhimmel. Sie könnte hier sitzen bleiben und weiter darauf warten, dass die alten Beschwerden sich wieder einstellten. Sie könnte aber auch das Geheimversteck der Gemeinschaft aufsuchen und sich dort vielleicht geborgen fühlen. Ja. Sie würde es versuchen.

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