Samstag, 9. April 2022
Karfreitagabend - zwölfte Stunde
Jakobus der Sohn des Zebedäus sprach seinen Bruder Johannes an: "Wie war es bei Maria? Hat sie sehr geweint?"
"Zuerst kaum.", antwortete Johannes. "Sie hatte bereits Krüge voller Tränen vergossen, als sie ihren toten Sohn im Arm hielt. Es war so, als habe sie alle Tränen verbraucht und als könne sie nichts mehr fühlen. Sie lief stumm neben mir her, setzte einen Fuß vor den anderen, als hätte eine fremde Macht ihre Beine bewegt, während sie selbst gar nicht da zu sein schien. Kurz vor ihrem Haus fing sie an zu reden. Dazu muss ich erklären, dass Jesus in seiner letzten Stunde gesagt hat, dass ich nun der Sohn der Maria sei und sie meine Mutter. Er hat sich wohl gewünscht, dass ich mich um sie kümmere, vielleicht traute er das seinen Geschwistern nicht zu. Jedenfalls sagte sie: 'Johannes, du musst nicht für mich sorgen, ich habe doch noch andere Söhne und du hast schließlich eine Mutter, die dich braucht.'
'Die hat auch andere Söhne', habe ich da geantwortet. Da hat sie sogar ein wenig gelächelt und sich auf meinen Arm gestützt. Sie meinte, dass sie es immer gewusst hätte, dass es einmal so kommen würde, aber dass sie gehofft hätte, es nicht erleben zu müssen, dass sie vor ihm hätte sterben dürfen. Dann schwieg sie wieder und kurz vor der Haustür sagte sie: 'Aber der Allmächtige wird es so gewollt haben, damit ich in der schwersten Stunde meinem Sohn beistehen konnte.'
Als wir dann ihr Haus betraten und Simon sie als Erster tröstend in den Arm nahm, flossen die Tränen wieder. Hanna, bat mich auf einen Tee und etwas Brot zu bleiben. Maria hat dann, nachdem sie alle ihre Kinder einmal umarmt hatte, auf mich gezeigt und gesagt: 'Johannes ist jetzt euer Bruder. Das hat Jesus so gewollt.'"
"Und wie haben ihre Kinder reagiert?"
"Überrascht. Niemand war aufgebracht, aber ich hatte auch nicht das Gefühl, dass irgendjemand verstanden hat, warum Jesus das gesagt hat."
"Vielleicht hatte er auch nur ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Mutter.", meinte Jakobus.
"Weil er die Stirn hatte sich ermorden zu lassen?", fragte Johannes ungläubig.
"Im Prinzip schon.", erwiderte sein Bruder. "Er hat es ja regelrecht darauf angelegt. Und als er seine gramgebeugte Mama da stehen sah, fühlte er sich vielleicht verpflichtet, diesen Leichtsinn wieder gut zu machen, die Folgen abzumildern, indem er ihr einen angemessenen Ersatz anbot. Aber ich weiß natürlich auch nicht, was er sich dabei gedacht hat. Auf jeden Fall sind seine Brüder bestimmt nicht zu faul, schlecht oder dumm, um Maria zu versorgen. Im Gegenteil. Es war doch Jesus, der sich eigentlich gar nicht mehr um sie gekümmert hat."
"Vielleicht nicht um ihr leibliches Wohl.", merkte Johannes an. "Aber um ihre Seele. Und ihre anderen Kinder sind nicht solche Geisteswesen, eher Menschen mit starken Armen und kräftigen Händen."
"Das ist nicht verkehrt.", sagte Jakobus.
"Nein.", sagte Johannes. "Wir wären auch nicht da wo wir heute sind, wenn unser Vater nicht so ein guter und fleißiger Fischer wäre und wenn er uns nicht beigebracht hätte, genauso gut zu werden wie er."
"Weißt du noch, wie das damals war, als wir Jesus zum ersten Mal begegnet sind?", fragte Jakobus seinen Bruder.
"Oh ja.", antwortete Johannes. "Ich erinnere mich lebhaft an Vaters dummes Gesicht, als wir einfach die Flickarbeiten an den Netzen liegen lassen haben."
"'Nicht schon wieder!', hat er gebrüllt. Ich war ja damals schon im Gefolge von Johannes dem Täufer und kam mit meiner Arbeit nicht hinterher."
"Ja, du hast dir schon immer viel herausgenommen."
"Aber ich hatte doch Recht! Johannes hatte Recht. Ich war schon früh auf dem richtigen Weg. Ich habe das damals sofort gespürt, als Jesus mir in die Augen sah: der weiß den richtigen Weg, dem musst du dich anschließen."
"Ja, das ging mir genauso.", sagte Johannes. "Das war wohl das erste Mal, dass wir beide uns einig waren."
Jakobus grinste schief. "Du warst aber auch ein verwöhnter Bengel. Ich weiß noch, wie du so lange geheult hast, bis Mutter dich schließlich zu Hause behalten hat, weil du bei dem starken Wind nicht auf den See wolltest. Du warst so eine Memme."
"Ich war gerade mal vier Jahre alt. Ich denke, meine Ängste waren nicht unberechtigt.", wehrte sich Johannes.
"Ich war sieben und damals auch noch leicht wie eine Feder.", hielt Jakobus dagegen.
"Trotzdem vielleicht schon in einem etwas widerstandsfähigerem Alter. Damals habt ihr mich ausgelacht, weil ich mich nicht traute, obwohl ich tatsächlich noch viel zu klein war. Aber später, als ich dann so weit war und mitarbeiten wollte, hieß es immer, ach du, mit deinen dürren Ärmchen, das kannst du noch nicht, hilf lieber der Mutter im Haus. Das hörte erst auf, nachdem ich dich einmal windelweich geprügelt habe."
Jakobus setzte eine beleidigte Miene auf, als rufe die Erinnerung an die Verletzung erneut die Gefühle von damals hervor. Dann sagte er: "Das wäre nicht nötig gewesen, du hättest auch einfach mal zeigen können, was du konntest."
"Du hast mich nicht gelassen!", erklärte Johannes. "Du wolltest am liebsten der einzige Sohn sein. Ich war dir lästig."
"Ja, das stimmt.", gab Jakobus zu. "Ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, ob das Essen für alle reicht, als du zur Welt kamst. Als du dann da warst, hatte ich Angst, ob noch genug Liebe für mich übrigbleibt. Alles drehte sich nur noch um dich. Einmal bin ich gefallen und habe mir furchtbar wehgetan und schrecklich geweint. Mutter hatte einfach keine Zeit, weil sie dich gerade stillte und Vater fuhr mich an, ich solle mich zusammenreißen, von so einer kleinen Schramme würde ich keinen Schaden davon tragen. Als du dann anfingst, dich von der Stelle zu bewegen, musste ich immer auf dich achtgeben. Wenn dir etwas passiert wäre, hätten sie mich fort gejagt, das dachte ich zumindest. Dabei hätte ich dich am liebsten irgendwo ausgesetzt, du warst eine richtige Last für mich. Ich durfte nicht mehr Kind sein, ich trug für dich die Verantwortung, aber du durftest tun und lassen, was du wolltest, weil du ja noch so klein warst."
"Das war bestimmt schlimm.", überlegte Johannes. ?Den wütenden kleinen Jungen kann ich gut verstehen. Nur dass du das nicht ablegen konntest, als wir längst erwachsen waren, das habe ich nie verstanden."
"Du trägst mir doch auch heute noch nach, dass ich dich nicht mitmachen ließ."
"Ich trage es dir nicht nach. Ich habe nur erklärt, dass ich es nicht so leicht hatte, wie es für dich aussah. Aber gut, dass wir mittlerweile darüber reden können."
"Ja, ich weiß noch, wie Jesus zum ersten Mal einen Streit zwischen uns mitbekommen hat." erinnerte sich Jakobus. "Er hat uns angesehen, als hätten wir eine schlimme Krankheit. Und dann musste jeder von uns genau erzählen, was ihn so wütend machte und der andere durfte nicht dazwischenreden."
?"a, da habe ich zum ersten Mal verstanden, welche große Last dir unser Vater auf die Schultern gelegt hatte, weil er erwartete, dass du jederzeit seinen Platz einnehmen konntest.", erklärte Johannes.
"Und ich habe zum ersten Mal begriffen, wie demütigend es ist, wenn man immer sein Bestes gibt und trotzdem nicht behandelt wird, wie jemand, der dazu gehört."
"Gestritten haben wir danach aber immer noch."
"Ja, aber uns ist sofort aufgefallen, wie sinnlos das ist. Und dann haben wir zuerst immer Jesus dazu geholt und irgendwann konnten wir selbst unsere Streitigkeiten beilegen, weil wir endlich gelernt hatten, unseren Zorn genau anzusehen und an die Leine zu legen, bevor wir ihn mitteilen."
"Und das Zuhören haben wir gelernt. Und die Fähigkeit sich vorzustellen, in der Lage des Anderen zu sein."

Die Brüder hingen eine Weile jeder für sich ihren Erinnerungen nach. Dann sagte Jakobus: "Anfangs hatte ich ja noch Zweifel, ob ich einem folgen soll, der immer nur redet und nicht mit den Händen arbeitet. Aber dann hat er beim Reparieren eines Bootes geholfen und er konnte gut zupacken und war handwerklich geschickt. So richtig beeindruckt hat er mich dann aber durch seine großen Taten, wie er den Besessenen von seinem bösen Geist befreit hat oder die Schwiegermutter von Simon Petrus vom Fieber geheilt hat und durch seinen Mut. Gleich am Anfang ist er mit uns in die Synagoge gegangen und hat den Schriftgelehrten die Thora um die Ohren gehauen. Wie er sich den Pharisäern immer wieder in den Weg gestellt hat. Genauso unbeugsam wie Johannes der Täufer."
"Dabei aber viel klüger.", wandte Johannes ein. "Er stand nicht brüllend und halbnackt in einem Flussbett und jagte den Leuten Angst ein. Er sagte nur das, was gesagt werden musste, aber seine Worte waren so klug und wogen so schwer, dass niemand ihm widersprechen konnte. So einen Menschen hatte ich nie zuvor erlebt."
"Oh, er konnte auch bitterböse werden.", widersprach Jakobus. "Denk an die Tempelreinigung. Wie er die Tische umgeworfen und mit der Peitsche alles kurz und klein geschlagen hat. Wie er herumgebrüllt hat, als gälte es den Satan auszutreiben. Das hat mir sehr gefallen."
"Aber als du den unfreundlichen Samaritern einen Feuerfluch auf den Hals hetzten wolltest, weil sie Jesus keine Herberge geben wollten, da hat er dich gründlich zurechtgewiesen. 'Ich bin nicht gekommen, um Leben zu vernichten, sondern um es zu erhalten.', hat er gesagt. Er hat uns immer wieder überrascht. Und er fehlt mir.", sagte Johannes.
"Mir auch.", erwiderte Jakobus. "Wir hatten doch noch so viel mit ihm vor. Wir waren seine besten Freunde, also ich meine, du warst sein bester Freund, aber ich als dein großer Bruder, wenn wir noch ein paar Jahre mit ihm gehabt hätten, dann hätten wir ihn sicher überzeugt, dass wir im Himmelreich an seiner Seite sitzen müssten. Schließlich waren wir bei der Verklärung auf dem Berg dabei, immer ganz nah an seiner Seite, auch noch in Gethsemane."
"Da haben wir wohl alle versagt. Und was den Platz im Himmel betrifft: Hast du vergessen, was er dazu gesagt hat?", fragte Johannes mahnend. "Man kommt ihm am nächsten, indem man anderen dient."
"Das tun wir doch.", sagte Jakobus.
"Das tun unsere Brüder aber auch. Sieh dir Simon Petrus an."
"Simon Petrus hat sich verdrückt. Du warst derjenige, der auf Golgatha zu ihm gehalten hat. Ich musste Vater helfen, damit du gehen konntest. Simon hatte einfach nur Angst."

Johannes machte sich Sorgen. Sein großer Bruder litt unter diesem entsetzlichen Geltungsbedürfnis. So ganz hatte Jesus ihm das nie austreiben können. Er wollte immer unbedingt und überall der Größte, der Beste, der Schönste, der Stärkste, der Auserwählte sein. In den drei Jahren an Jesu Seite hatte er gelernt, diesen Drang weitestgehend zu kontrollieren. Aber Johannes erinnerte sich noch genau, wie Jakobus als junger Bursche beim Fischen auf dem See Genezareth heimlich die Netze vertauscht hatte, damit er den erfolgreicheren Fang vorzuweisen hatte. An fast jedem hatte er etwas auszusetzen gehabt. "Sieh dir Joses an, der stopft sich jeden Tag mit Brot voll und wenn er auf dem See ist, kann er sich nicht ordentlich bewegen, weil der dicke Bauch ihm im Weg ist."
Joses war ein herzensguter Weggefährte, der kräftig anpackte, immer ein fröhliches Lachen auf dem Gesicht hatte und nie jemanden im Stich ließ. Aber Jakobus ließ kein gutes Haar an ihm. Mit allen verglich er sich, um stets zum selben Ergebnis zu gelangen: Er war besser und niemand konnte ihm das Wasser reichen. Johannes hatte seinen Bruder dafür verabscheut, hatte sich seine eigenen Wege gesucht, um sich nicht ständig mit ihm herumstreiten zu müssen. Doch Jesus hatte gesehen, was hinter dieser Boshaftigkeit steckte. Das Gefühl, nicht auszureichen, die Angst hinausgestoßen zu werden. Und Jesus hatte ihm wohl das Gefühl gegeben, dass diese Sorge umsonst war. Leider hatte Jakobus sich sofort etwas darauf eingebildet und sich für den besten und wichtigsten Schüler Jesu gehalten, nun ja, für den zweitwichtigsten, denn dass Jesus Johannes vor allen den Vorzug gab, war nicht zu übersehen.
Ob Jakobus wieder in die alte Unruhe verfallen würde? Die Zeit würde es zeigen. "Ach Jesus!", seufzte Johannes. "Warum musstest du uns verlassen?"

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