Samstag, 12. März 2022
Ich brech' zusammen
Da lastet so viel auf meine Schultern und es wird täglich mehr. Im Großen und Ganzen der Klimawandel, die soziale Schere, das Schwinden der Kirchensteuermittel, dann kam Corona und jetzt noch der Krieg. Nicht nur der Lebensstandard wird sinken, es kann auch richtig fies werden, bis hin zum Hungern und Frieren, bis hin zum Jobverlust, weil für meine Dienstleistungen kein Geld mehr ausgegeben wird.
Und auch im Persönlichen wird es auch täglich mehr: mein Kind findet keine Zukunftsperspektive, meine Mutter leidet an ihrem Alter und braucht täglich mehr Unterstützung, meine Katze liegt im Sterben und braucht unendlich viel Zuwendung, bei der Arbeit sorge ich mich um die Kinder und Jugendlichen, die längst angefasst von den Folgen der Pandemie sich nun auch noch vor einer drohenden Apokalypse fürchten müssen und dann fängt auch noch dieser rüpelhafte Männerkreis an, Dauerstress zu machen. Nichts ist mehr gut, alles ist doof.

Wie sollen meine Schultern das noch lange aushalten? Es kommen täglich neue Päckchen dazu, aber keines wird mir abgenommen. Woher soll die Kraft kommen, das alles auszuhalten?

Aber es gibt ja auch vieles, was gut ist. Ich bin gesund, Mein Mann ist gesund, mein Kind ist gesund und hat Freunde und jemanden für die Liebe. Wir lieben uns. Wir haben ein Haus, in dem es warm und gemütlich ist, reichlich zu essen, Tiere denen es gut geht (sogar die sterbende Katze hat es den Umständen entsprechend schön). Wir haben sauberes Wasser, Energie, alles, was wir brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wir haben eine hervorragende medizinische Versorgung, ein halbwegs funktionierendes Sozialsystem, eine einigermaßen vertrauenswürdige Polizei, eine überwiegend gewissenhafte und gerechte Justiz, weitestgehend funktionierende Demokratie. Eine brauchbare Infrastruktur und ein breit gefächertes kulturelles Angebot. Freie Presse und viele Möglichkeiten der Partizipation. Ein Recht auf Bildung. Ich kann in den Garten gehen, hervorragenden schwarzen Tee trinken und frische Bio-Orangen genießen ? wenn auch mit schlechtem Gewissen. Aber immerhin, ich kann mir sogar ein schlechtes Gewissen leisten, ich muss nicht ums nackte Überleben kämpfen. Ich übe einen Beruf aus, der meinen Neigungen entspricht, der mir Spaß macht und in dem ich viel Anerkennung erhalte. Ich bin frei darin, mein Religion auszuüben und meine Meinung öffentlich kundzutun. Ich habe Freundinnen und Freunde und unglaublich nette Nachbarn. Ich kann direkt in Wald und Feld spazieren gehen, ohne erst dahin fahren zu müssen. Wie unermesslich sind doch meine Kraftquellen, wie klein dagegen die Lasten, die ich tragen muss. Das klappt schon.

https://www.bibleserver.com/LUT/Matth%C3%A4us26%2C36-46

Und nicht vergessen: da sind noch so viele, die uns brauchen. Leider auch viele, die wir im Stich gelassen haben und auch im Stich lassen werden, weil wir nicht alles schaffen. Das müssen wir wohl unser Leben lang aushalten, diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber der Glaube an einen gnädigen und vergebenden Gott oder einfach an Menschen, die zu Gnade und Vergebung fähig sind, nimmt mir einen großen Teil der Last von den Schultern. Ich tue, was ich kann und wenn ich nicht mehr kann, muss ich mich dafür nicht schämen.

P.S.: Die Katze ist zwei Tage nach Verfassen des Textes in unseren Armen gestorben. Eine Last weniger, eine mehr, aber eine die immer leichter werden wird.

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