Samstag, 29. Januar 2022
Gratwanderung - Gedanken zum Predigttext am 30.01.2022
Lesen Sie mal, das ist wirklich eine wilde Geschichte:

https://www.bibleserver.com/EU/2.Mose34%2C29-35

Auch wenn Chagall es wunderschön gemalt hat: ich glaube nicht an Lichtstrahlen die vom Gesicht des Mose ausgingen, nachdem er vom Berg Sinai herabgestiegen war, dass er eine Priestermaske tragen musste, um seine Leute nicht zu erschrecken, dass er nur im unmittelbaren Kontakt mit Gott diese Maske abnehmen konnte.
Ich frage mich vielmehr: Was genau ist die theologische Intention dieser Geschichte?

Da geht der Anführer einer großen Gruppe in die Einsamkeit auf einen hohen Berg, verbindet sich mit der Quelle spiritueller Kraft, meditiert oder denkt nach, hält die Ergebnisse seiner Überlegungen/Eingebungen/Ideen/Erleuchtungen zeitgemäß fest, kehrt zurück und hat plötzlich etwas Beängstigendes an sich. Das Licht des Schöpfers hat auf ihn abgefärbt, dieses Licht, das so hell ist, dass es weh tut, weil es eben weh tut, wenn alles ausgeleuchtet wird, weil dann die Wahrheit ans Licht kommt. Und mit der Wahrheit kommt die Scham, das Bedauern, das schlechte Gewissen und die Angst vor Konsequenzen.

Kennen Sie das? Menschen, die so gut sind, dass sie einen damit krank machen? Also nicht Leute, die gute Entscheidungen treffen, ihren Verstand benutzen und konsequent nach gewissen moralischen Grundsätzen leben.
Ich meine diese Leute, die immer immer alles alles richtig machen und das auch wissen und dann gönnerhaft lächeln, wenn du es nicht ganz so richtig machen kannst wie sie, weil du es eben nicht kannst, weil du nicht so perfekt bist, aber das tolerieren sie, weil sie ja so gut sind...denen geht man dann besser aus dem Weg.

Und dann gibt es diese Leute, die sich selbst für von der Wahrhaftigkeit er- und ausgeleuchtet halten und in ihrer Selbstwahrnehmung alles überstrahlen, die in der Außenwahrnehmung aber eher verstrahlt sind und denen so manche*r Psycholog*in eine ausgewachsene Religionspsychose bescheinigen würde - oder zumindest ein Neuröschen.

Und dann gibt es natürlich diejenigen, die wirklich Dinge verstanden haben und die das nicht eitel für sich behalten, sondern mit anderen teilen wollen, um zu retten, zu heilen, sich für das Wohl aller einzusetzen. Die - so wie Mose - noch nicht einmal merken, dass sie eine unglaubliche Ausstrahlung besitzen, die manche Menschen in ihren Bann zieht, anderen aber Angst macht.

Es gelingt nicht immer, die Strahlenden von den Verstrahlten zu unterscheiden. Denn auch die Strahlenden verunsichern und konfrontieren uns mit unserer eigenen Unvollkommenheit. Das wollen wir nicht. Denen gehen wir aus dem Weg und wir wenden uns ab.

Und was tut die Lichtgestalt? Pragmatisch und uneitel verbirgt er den Glanz der von ihm ausgeht. Er trägt sein Wissen, seine Macht und seine Überlegenheit nicht wie eine Monstranz vor sich her, er verschont seine Mitmenschen und macht sich wieder nahbar.

Vielleicht ist das ein gutes Rezept in den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, Menschen zu begegnen, denen der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen ist, die einfach Tatsachen ignorieren und diejenigen, die unbequeme Wahrheiten aussprechen, direkt an die Wand stellen wollen, die sich von klugen, eloquenten, wissenschaftlich argumentierenden Erfolgsmenschen geblendet fühlen, bis es weh tut. Die nicht mit der eigenen Unzulänglichkeit, den Fehlern und der Schuld oder Verantwortung konfrontiert werden wollen, für die die Wahrheit ein Grauen ist, dem sie nicht ins Gesicht sehen können.

Eine Maske aufsetzen, um nahbar zu sein, um andere Menschen erreichen zu können, auch die mit dem zerbrechlichen Selbstwertgefühl.
Ich weiß nur nicht, was für eine Maske das wäre, mit welchen Inhalten diese Metapher zu füllen wäre, aber vielleicht fällt mir dazu ja noch etwas ein. Oder Ihnen.

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