Samstag, 30. Januar 2021
Lieblingsbuch - Ruth
c. fabry, 20:34h
Die letzten vier Beiträge zusammengehängt und anschließend gelöscht. So ist es übersichtlicher.
Im Beitrag die Kurzfassung mit sämtlichen Bildern, im Kommentar die epische Nacherzählung des Buches Ruth
Eine Familie verließ Bethlehem, weil dort eine Hungersnot war und zog nach Osten, in das Land Moab.
Die Söhne des Paares heirateten Frauen aus der neuen Heimat. Dann starben kurz hintereinander alle Männer der Familie.
Die Mutter wollte zurück nach Hause, denn da war die Hungersnot vorbei. Die eine Schwiegertochter ging zurück zu ihrer Familie in Moab, die andere begleitete die Schwiegermutter.
Das steht kurz und knapp im Predigttext für diesen Sonntag.
https://www.bibleserver.com/LUT/Rut1%2C1-19
Im letzten Abschnitt des Bibeltextes spricht die Schwiegertochter berühmte Worte, die noch immer vorzugsweise bei Trauungen zitiert werden:
„Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.“ (Ruth 1, 16f)
Aber hier spricht nicht die Braut zum Bräutigam oder umgekehrt, sondern die junge Witwe zu ihrer Schwiegermutter.
Beide Schwiegertöchter hielten große Stücke auf Naomi (oder Noomi), aber Orpa (die Wolke) kehrte zurück zur ihrer Herkunftsfamilie. Ruth (die Freundin) dagegen ließ sich ein auf den Sprung ins Ungewisse, vielleicht, weil das Wesen der Schwiegermutter aus dem fernen unbekannten Land sie davon überzeugt hatte, dass die fremde Kultur inklusive ihrer Religion einen großen Fortschritt bedeutete, etwas Heilsames und Zukunftsfähiges.
Man muss davon ausgehen, dass die Geschichte nahezu komplett frei erfunden ist. Alle Namen haben genau die Bedeutung, die sich aus ihrer Rolle ergibt (die flüchtige Wolke Orpa, die treue Freundin Ruth, die wenig widerstandsfähigen Söhne Machlon und Kiljon, was soviel bedeutet wie kränklich und schwächlich…)
Insofern ist sie vor allem eine lehrreiche Metapher, eine Sage voller theologischer Botschaften, ein religionspädagogisches Märchen. Im übrigen einer der spannendsten, bewegendsten und romantischsten „Romane“ im biblischen Kanon.
Und am Ende dieses Kapitels nehme ich den Hinweis mit, dass man sich manchmal im Leben entscheiden muss. Wenn man erkannt hat, welcher Weg der Richtige ist, diesen auch konsequent zu Ende gehen, statt den Trends hinterher zu laufen.
2. Teil
Die beiden Frauen kamen wohlbehalten in Bethlehem an und zogen wieder in Naomis Haus.
Vorläufig vollkommen Mittellos begann Ruth auf einem Feld während der Gerstenernte zu „Stoppeln“, so nennt man das Einsammeln von bei der Ernte liegen gebliebenen, durchaus verwertbaren Resten.
Der Besitzer des Feldes wurde Aufmerksam auf sie und sorgte dafür, dass sie eine reichliche Ernte nach Hause tragen konnte.
Als sie der Schwiegermutter davon berichtete, machte die ihr Hoffnung auf eine großartige Zukunft an der Seite eines wohlhabenden Mannes. Boas, der Grundbesitzer, war mit ihr verwandt und nach jüdischer Sitte einer der Männer, der an der Reihe war, die junge Witwe zu heiraten. Ruth arbeitete weiter auf seinen Feldern bis zum Ende der Gersten- und Weizenernte.
3. Teil
Naomi nimmt sich der Zukunft ihrer Schwiegertochter an und hilft der Liebe auf die Sprünge. Sie schickt Ruth frisch gebadet und hübsch gekleidet am Abend zum Dreschplatz, wo Boas allein arbeitet und voraussichtlich die Nacht verbringen wird.
Ganz im Sinne der schwiegermütterlichen Anweisungen versteckt Ruth sich, bis Boas eingeschlafen ist und legt sich dann zu seinen Füßen.
Erschreckt wacht er mitten in der Nacht auf, hält sie zunächst für eine Lilith, einen Dämon, den jüdische Männer seiner Zeit fürchteten und ist sichtlich erleichtert, dass es sich um die schöne Fremde handelt. Sie erklärt unverblümt, dass sie von ihm geheiratet werden möchte, da er als naher Verwandter auch als „Löser“ vorgesehen ist. Er ist begeistert, macht sich aber Sorgen, weil es noch einen in der Verwandtschaft gibt, der mehr Rechte an ihr hat, der muss zunächst verzichten. Voller Zuversicht schickt er Ruth am nächsten Morgen mit einem Haufen frischen Getreide nach Hause und Naomi wertet dies als gutes Zeichen. Boas wird alles daran setzen, Ruth am Ende zu heiraten.
4. Teil
:
Boas ging zum Stadttor und lauerte seinem Konkurrenten auf. Mit großem Verhandlungsgeschick und unter den Augen und Ohren zahlreicher Zeugen bewegte er ihn dazu, auf sein Vorkaufsrecht und den Anspruch auf die Witwe zu verzichten.
Boas kaufte Naomi das Feld ab und sorgte für ihren Lebensunterhalt. Boas und Ruth heirateten.
Bald wurde ihr erstes Kind geboren – ein Sohn namens Obed.
Für Naomi war der Enkelsohn wie ein eigenes Kind, um das sie sich von nun an kümmerte und ihre Nachbarinnen gratulierten ihr zu einem Enkel, der sie sicher im Alter versorgen würde, angesichts einer so wunderbaren Schwiegertochter.
Obed war der Vater Isais. Isai war der Vater Davids, des größten Königs von Israel. Und Jesus von Nazareth stammt direkt von David ab. So wurde Ruth, die Frau aus dem anderen Kulturkreis, mit der fremden Religion eine der wichtigsten Frauen in der jüdisch-christlichen Geschichte.
Im Beitrag die Kurzfassung mit sämtlichen Bildern, im Kommentar die epische Nacherzählung des Buches Ruth
Eine Familie verließ Bethlehem, weil dort eine Hungersnot war und zog nach Osten, in das Land Moab.
Die Söhne des Paares heirateten Frauen aus der neuen Heimat. Dann starben kurz hintereinander alle Männer der Familie.
Die Mutter wollte zurück nach Hause, denn da war die Hungersnot vorbei. Die eine Schwiegertochter ging zurück zu ihrer Familie in Moab, die andere begleitete die Schwiegermutter.
Das steht kurz und knapp im Predigttext für diesen Sonntag.
https://www.bibleserver.com/LUT/Rut1%2C1-19
Im letzten Abschnitt des Bibeltextes spricht die Schwiegertochter berühmte Worte, die noch immer vorzugsweise bei Trauungen zitiert werden:
„Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.“ (Ruth 1, 16f)
Aber hier spricht nicht die Braut zum Bräutigam oder umgekehrt, sondern die junge Witwe zu ihrer Schwiegermutter.
Beide Schwiegertöchter hielten große Stücke auf Naomi (oder Noomi), aber Orpa (die Wolke) kehrte zurück zur ihrer Herkunftsfamilie. Ruth (die Freundin) dagegen ließ sich ein auf den Sprung ins Ungewisse, vielleicht, weil das Wesen der Schwiegermutter aus dem fernen unbekannten Land sie davon überzeugt hatte, dass die fremde Kultur inklusive ihrer Religion einen großen Fortschritt bedeutete, etwas Heilsames und Zukunftsfähiges.
Man muss davon ausgehen, dass die Geschichte nahezu komplett frei erfunden ist. Alle Namen haben genau die Bedeutung, die sich aus ihrer Rolle ergibt (die flüchtige Wolke Orpa, die treue Freundin Ruth, die wenig widerstandsfähigen Söhne Machlon und Kiljon, was soviel bedeutet wie kränklich und schwächlich…)
Insofern ist sie vor allem eine lehrreiche Metapher, eine Sage voller theologischer Botschaften, ein religionspädagogisches Märchen. Im übrigen einer der spannendsten, bewegendsten und romantischsten „Romane“ im biblischen Kanon.
Und am Ende dieses Kapitels nehme ich den Hinweis mit, dass man sich manchmal im Leben entscheiden muss. Wenn man erkannt hat, welcher Weg der Richtige ist, diesen auch konsequent zu Ende gehen, statt den Trends hinterher zu laufen.
2. Teil
Die beiden Frauen kamen wohlbehalten in Bethlehem an und zogen wieder in Naomis Haus.
Vorläufig vollkommen Mittellos begann Ruth auf einem Feld während der Gerstenernte zu „Stoppeln“, so nennt man das Einsammeln von bei der Ernte liegen gebliebenen, durchaus verwertbaren Resten.
Der Besitzer des Feldes wurde Aufmerksam auf sie und sorgte dafür, dass sie eine reichliche Ernte nach Hause tragen konnte.
Als sie der Schwiegermutter davon berichtete, machte die ihr Hoffnung auf eine großartige Zukunft an der Seite eines wohlhabenden Mannes. Boas, der Grundbesitzer, war mit ihr verwandt und nach jüdischer Sitte einer der Männer, der an der Reihe war, die junge Witwe zu heiraten. Ruth arbeitete weiter auf seinen Feldern bis zum Ende der Gersten- und Weizenernte.
3. Teil
Naomi nimmt sich der Zukunft ihrer Schwiegertochter an und hilft der Liebe auf die Sprünge. Sie schickt Ruth frisch gebadet und hübsch gekleidet am Abend zum Dreschplatz, wo Boas allein arbeitet und voraussichtlich die Nacht verbringen wird.
Ganz im Sinne der schwiegermütterlichen Anweisungen versteckt Ruth sich, bis Boas eingeschlafen ist und legt sich dann zu seinen Füßen.
Erschreckt wacht er mitten in der Nacht auf, hält sie zunächst für eine Lilith, einen Dämon, den jüdische Männer seiner Zeit fürchteten und ist sichtlich erleichtert, dass es sich um die schöne Fremde handelt. Sie erklärt unverblümt, dass sie von ihm geheiratet werden möchte, da er als naher Verwandter auch als „Löser“ vorgesehen ist. Er ist begeistert, macht sich aber Sorgen, weil es noch einen in der Verwandtschaft gibt, der mehr Rechte an ihr hat, der muss zunächst verzichten. Voller Zuversicht schickt er Ruth am nächsten Morgen mit einem Haufen frischen Getreide nach Hause und Naomi wertet dies als gutes Zeichen. Boas wird alles daran setzen, Ruth am Ende zu heiraten.
4. Teil
:
Boas ging zum Stadttor und lauerte seinem Konkurrenten auf. Mit großem Verhandlungsgeschick und unter den Augen und Ohren zahlreicher Zeugen bewegte er ihn dazu, auf sein Vorkaufsrecht und den Anspruch auf die Witwe zu verzichten.
Boas kaufte Naomi das Feld ab und sorgte für ihren Lebensunterhalt. Boas und Ruth heirateten.
Bald wurde ihr erstes Kind geboren – ein Sohn namens Obed.
Für Naomi war der Enkelsohn wie ein eigenes Kind, um das sie sich von nun an kümmerte und ihre Nachbarinnen gratulierten ihr zu einem Enkel, der sie sicher im Alter versorgen würde, angesichts einer so wunderbaren Schwiegertochter.
Obed war der Vater Isais. Isai war der Vater Davids, des größten Königs von Israel. Und Jesus von Nazareth stammt direkt von David ab. So wurde Ruth, die Frau aus dem anderen Kulturkreis, mit der fremden Religion eine der wichtigsten Frauen in der jüdisch-christlichen Geschichte.
... comment
c. fabry,
Samstag, 30. Januar 2021, 20:36
Ruth
1. Teil
Zu der Zeit, als die Stämme Israels noch an der Regelung festhielten, sich keinem König zu unterwerfen, nicht einmal einem eigenen, hatten sogenannte Richter die Aufgabe, Streitigkeiten zu schlichten, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen. Es war eine Zeit, in der das Leben noch besonders einfach war, in der die Menschen den Bedingungen, die die Natur stellte, ausgeliefert waren. Und so kam es, dass infolge mehrerer Missernten eine Hungersnot entstand.
So ging es auch den Menschen in der Siedlung Bethlehem, was ironischerweise „Haus des Brotes“ bedeutet, aber in diesem Haus gab es schon lange kein Brot mehr.
Hier lebte auch das Ehepaar Elimelech und Naomi mit ihren beiden Söhnen Machlon und Kiljon.
Eines abends, als sie allesamt wieder hungrig schlafen gingen, erklärte Elimelech seiner Frau, dass etwas geschehen müsse: „Wie soll es mit uns weitergehen? Machlon wird jeden Tag schwächer. Es dauert vielleicht noch eine Woche, dann wird er bei der Arbeit zusammenbrechen und nicht wieder aufstehen. Kiljon hatte noch nie viel Mumm in den Knochen. Er hat so glasige Augen, ich frage mich, ob er die Nacht übersteht.“
„Mal nicht den Teufel an die Wand.“, erwiderte Naomi. „Es hilft nichts, wenn du dir vorstellst, was das Schlimmste ist, das passieren kann. Wir müssen einfach Geduld haben und beten. Es wird schon irgendwie weitergehen.“
„Ja, irgendwie geht das Leben weiter. Wir werden geduldig sterben und die Ratten haben ein Festessen. Deren Leben geht dann weiter. Geduld wird uns nicht retten. Wir müssen eine Lösung finden.“
„Aber was sollen wir tun? Stehlen? Die anderen haben doch auch nichts. Oder glaubst du, der Allmächtige wird Manna vom Himmel regnen lassen, wenn wir nur beharrlich genug beten? Wir sind doch fromm und treu. Ich frage mich, wofür wir bestraft werden.“
„Wir werden nicht bestraft. Wir hatten Missernten. Darum gibt es hier nichts zu essen. Wir müssen an einen Ort gehen, wo es genug zu essen gibt. In den Osten.“
„In den Osten? Nach Moab? Zu den schlechten Menschen, die zu grausamen Göttern beten? Wo nichts als Unsitte und Verfall herrschen? Der Allmächtige hat uns in dieses Land geführt, er hat es zuerst Abraham gegeben und dann hat er es uns noch einmal geschenkt. Es ist gutes Land. Wenn wir dieses Geschenk ausschlagen, werden wir es bereuen. Wir werden Gott zornig machen und er wird uns bestrafen.“
„Nun, dann ist er auch nicht besser als die grausamen, moabitischen Götter und dann können wir ja getrost da hin gehen, wo wir uns vor der Strafe eine Zeitlang ordentlich satt essen können. Dann überleben wir vielleicht beides: den Winter und die Strafe Gottes.“
Naomi fürchtete tatsächlich ein folgenschweres Schicksal und außerdem die bösen Zungen und scheelen Blicke all ihrer Verwandten und Bekannten. Aber als sie ihre bleichen Söhne dort liegen sah, das künftige Leben, die Vollendung ihres eigenen Daseins, als sie sich vor Augen führte, dass ihr Sterben täglich wahrscheinlicher wurde und dass dieses Sterben ihren, Naomis, ewigen Tod bedeutete, das endgültige ausgelöscht Werden ihres Daseins, das Ende ihrer Linie, da lenkte sie ein und erklärte sich einverstanden.
Es gab nicht viel, das sie mitnehmen mussten, denn sie hatten nicht viel. Ein paar Krüge mit Wasser, etwas Salz, die Gewänder, die sie am Leib trugen, einige Decken. Den Rest ließen sie im Haus. Vielleicht konnten sie ja schon in wenigen Jahre zurückkehren. Naomi hatte bei ihrer Nachbarin geklopft: „Kannst du bitte achtgeben, dass niemand sich in unserem Haus einnistet, so lange wir fort sind? Wir wissen nicht, wann wir zurückkehren, aber ich glaube nicht, dass ich in der Fremde sterben will.“
Dann machten sie sich auf den Weg. Wochenlang wanderten sie in Richtung Osten. Sie fingen kleine Tiere mit ihren Steinschleudern und brieten sie über winzigen Feuern. Schließlich gelangten sie auf moabitisches Gebiet, Städte und kleinere Siedlungen, dazwischen Felder, Brunnen, gesundes Vieh. Die Sprache war fremd und unverständlich, die Moabiter aber viel offener und freundlicher, als sie erwartet hatten. Mit Händen und Füßen ließen sich die wichtigsten Botschaften übermitteln und schon bald hatten sie die ersten Vokabeln gelernt. Sie arbeiteten als Tagelöhner und schliefen nachts in einem Zelt, das sie aus ihren mitgebrachten Decken bauten, genauso wie zuvor auf der Wanderschaft. Vom ersten Lohn, kauften sie reichlich zu essen, schon bald reichte es für ein ordentliches Zelt, in dem man sich einrichten konnte und schließlich, nach einigen Jahren, reichte es für ein eigenes Haus aus Lehm, mit einer festen Feuerstelle, erhöhten Schlafplätzen, einem Tisch und weichen Decken, auf denen man sich niederlassen konnte.
Doch kaum waren sie in ihrem neuen Leben in der Fremde angekommen, starb Elimelech an einer rätselhaften Krankheit. Dies war ein harter Schlag für Naomi, denn sie hatte keine Freundinnen oder Freunde in diesem fremden Land, war sie doch den ganzen Tag im Haus und damit beschäftigt, das Essen zuzubereiten, die Kleidung herzustellen und in Ordnung zu halten und für Sauberkeit zu sorgen. Sie beherrschte die Sprache noch immer kaum und ihr fehlte der warme, feste Körper ihres geliebten Mannes, mit dem sie sich immer wohlgefühlt und der ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte, sogar in der Zeit der Wanderschaft und in den ersten Wochen und Monaten in der neuen Heimat. Jetzt blieb sie mit ihren erwachsenen Söhnen zurück, von deren Geschick nun ihre Zukunft abhing.
Machlon und Kiljon machten sich prächtig und schon bald hatten sich beide in moabitische Schönheiten verliebt. Kiljon hatte eine junge Frau namens Orpa kennengelernt und geheiratet. Sie war eine große Schönheit, voller Anmut und Sinnlichkeit. Fröhlich war sie, mit ihr gab es immer viel zu lachen und die Arbeit ging ihr gut von der Hand. Manchmal machte sie sich lustig über die seltsamen Gewohnheiten der Familie ihres Ehemannes, das Anzünden der Sabbathlichter und das Rezitieren der immer gleichen Worte. Auch dass sie sich so anstellten mit dem Essen: „Was ist das für ein Blödsinn, dass man Milch und Rindfleisch nicht zusammen garen darf, habt ihr Angst, dass das Fleisch dann zum Leben erweckt wird und ohne den Rest der Kuh herumläuft und die Kinder erschreckt?“
Sie verstand auch nicht, dass die Tiere auf ganz besondere Weise geschlachtet werden mussten: „Wozu soll das gut sein, dass die Ziege mit dem Kopf nach unten ausblutet? Damit sie erkennt, wie verkehrt es ist, dass man ihr die Kehle durchschneidet?“
Das Schächten fanden die Moabiter und Moabiterinnen höchst sonderbar und verdächtig – Orpa fand es nur skurril. Sie liebte ihre ganze Schwiegerfamilie, aber so richtig ernst nehmen konnte sie sie nicht immer.
Machlon lernte ebenfalls eine moabitische Schönheit kennen. Ihr Name war Ruth und über ihre Herkunftsfamilie sprach sie kaum. Vordergründig war sie nicht so attraktiv wie Orpa, zurückhaltender im Auftreten, ernsthafter und ruhiger, aber ebenso schnell Teil der Familie und voller Liebe für jede und jeden Einzelnen.
So wurden sie eine größere Familie und Naomi fasste wieder Mut: Zwei Schwiegertöchter, das bedeutete die baldige Ankunft von Kindern und Kinder bedeuteten Zukunft und Leben. Es würde schon irgendwie weitergehen – und mit den beiden wunderbaren Schwiegertöchtern allemal.
Etwa zehn Jahre waren vergangen, seit Naomis Familie ausgewandert war. Keine der beiden Schwiegertöchter war bisher schwanger geworden, da befiel den jüngeren, Kiljon eines Abends ein schreckliches Fieber. Zuerst zitterte er, war blass und konnte kaum die Augen offenhalten. Er klagte über Kopfschmerzen und große Kälte. Orpa röstete Körner auf dem Feuer, bedeutete ihm, sich hinzulegen, deckte ihn zu und als die Körner heiß waren, wickelte sie sie in ein Tuch und steckte das unter seine Decke, damit ihm warm wurde. Ruth braute einen Aufguss aus Kräutern und Wurzeln, den flößte Orpa Kiljon ein. Im Laufe der Nacht begann er entsetzlich zu schwitzen, das Wasser lief seinen Körper herunter, sein Kopf war glühend heiß und es wurde nicht besser. Irgendwann war seine Frau einfach zu müde, um länger auf ihn zu achten und schlief ein. Als sie im Morgengrauen von einem Hahnenschrei erwachte, war sie zunächst erleichtert. Kiljon war ganz ruhig und die Hitze war aus seinem Körper gewichen. Doch als sie sich liebevoll über ihn beugte, musste sie feststellen, dass auch das Leben aus ihm gewichen war. Orpas Trauer war entsetzlich, sie schrie und weinte und trommelte auf die Brust ihres verstorbenen Mannes. Ruth nahm sie tröstend in den Arm, während Machlon stumm vor Entsetzen auf seinen toten Bruder herabblickte und Naomi mit ihrem Schmerz allein ließ. Die umschlang ihren Erstgeborenen voller Verzweiflung und begoss ihn mit ihren Tränen, bis ihr auch dazu die Kraft fehlte.
Zwei Tage später, als Kiljon gerade unter der Erde war, zeigten sich bei Machlon die gleichen Symptome. Nun war es Ruth, die neben ihrem kranken Mann lag und vor Sorge um ihn fast verrückt wurde. Von Naomi ganz zu schweigen, die mehrmals in der Nacht aufstand und nach dem Fiebernden sah. In den frühen Morgenstunden war das Fieber gesunken, er zitterte nicht mehr und bat um etwas zu Trinken. Voll Freude und Erleichterung bereitete Naomi einen Kräuteraufguss und Ruth gab Machlon vorab ein wenig Wasser. Er lächelte dankbar, mit Hilfe der Frauen hatte er die Krankheit besiegt.
Doch schon wenige Tage später erlitt er einen Rückfall. Es waren Naomi und Ruth, die an seiner Seite saßen und seine Hände hielten, während Orpa alles anderen Notwendige erledigte, als er plötzlich das Atmen einstellte. Klagend und weinend beugten sie sich über Machlon, den letzten Mann in ihrer kleinen Familie, den sie nun ebenfalls zu Grabe trugen.
Am Morgen nach der Bestattung bat Naomi ihre Schwiegertöchter an den Tisch. „Ich muss mit Euch reden.“, sagte sie. „Es ist mir gut ergangen in eurem Land. Es war schlimm, dass ich meinen Mann und meine Söhne verloren habe, aber das liegt nicht an diesem Land, das wäre bei uns zu Hause sicher ebenso passiert. Wir wurden hier aufgenommen, hatten immer genug zu essen, wurden nie schlecht behandelt und ihr zwei wunderbaren Schwiegertöchter seid Teil meiner Familie geworden. Ihr seid jetzt meine ganze Familie. Ich liebe euch sehr und gerade weil ich euch liebe, möchte ich, dass ihr möglichst bald wieder heiratet, solange ihr noch jung seid und Kinder bekommen könnt. Für mich ist dieses Kapitel abgeschlossen und wenn ihr beide neu anfangen wollt, wäre ich nur im Weg. Ich habe aber in diesem Land sonst keinen Menschen, der mir nahesteht. Von Reisenden habe ich gehört, dass es in Juda nun wieder reiche Ernten gegeben hat, sodass ich in meine alte Heimat zurückkehren könnte. Ich habe da noch ein Haus und etwas Land, um mich zu versorgen und vielleicht finde ich jemanden, der einen Teil meines Landes bearbeitet und mich dafür im Alter versorgt. Darum trennen sich hier unsere Wege. Ihr könnt das Haus verkaufen und das Geld teilen und mit euren neuen Familien von vorn anfangen.
„Nein!“, rief Orpa. „Wir lassen dich auf keinen Fall allein! Du hättest mich nach Kiljons Tod direkt vor die Tür setzen können. Das ist dir nicht eingefallen. Ich jedenfalls bleibe bei dir. Und wenn du zurück nach Bethlehem gehen willst, dann komme ich eben mit und lerne endlich die Heimat meines verstorbenen Ehemannes kennen.“
„Ich bleibe auf jeden Fall bei dir.“, sagte Ruth. „Du und Orpa, ihr seid jetzt meine Familie.“
Als Naomi das Haus verkaufte, erfuhr sie, dass die Söhne sich an verschiedenen Orten verschuldet hatten und als sie all die Schulden bezahlt hatte, blieb kaum etwas übrig. So machten sie sich mit fast ebenso wenig Hab und Gut auf den Weg wie zehn Jahre zuvor. Als sie die Stadt verließen, bekam Naomi ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Schwiegertöchtern. Menschen aus Moab waren in ihrer Heimat nicht gut gediehen. Vielleicht würden beide Frauen nie einen guten Mann finden, wären dazu in einem fremden Land, mit einer alten Frau als einziger Verbindung zu ihrem bisherigen Leben. Das wollte sie ihnen unbedingt ersparen, darum sagte sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: „Geht zurück in eure Elternhäuser! Ich wünsche euch, dass ihr vielfach all das Gute zurück bekommt, was ihr mir und meinen Söhnen getan habt. Der Allmächtige schenke euch einen guten und anständigen Ehemann, der euch Sicherheit gibt und euch ein Leben lang gut versorgt.“
Beide klammerten sich weinend an Naomi und sagten: „Nein, wir wollen bei dir bleiben, dich in deine Heimat begleiten, das haben wir doch gesagt.“
Aber Naomi insistierte: „Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Ich kann euch nicht garantieren, dass ihr in Bethlehem gute Männer findet. Und ich kann keine neuen Söhne mehr zur Welt bringen. Und selbst wenn ich es könnte, wärt ihr wohl zu alt, wenn sie ins heiratsfähige Alter kämen. Ihr habt in meiner Heimat vermutlich keine Zukunft. Mich hat ein schlimmes Schicksal ereilt, aber ich habe kein Recht euch mit in den Abgrund zu ziehen. Ihr seid jung und gesund. Geht euren Weg. Findet euer Glück.“
Sie jammerten und weinten und klammerten sich noch fester an Naomi. Diese Schwiegermutter war immer freundlich, geduldig und wohlwollend mit ihnen gewesen. So eine würden sie aller Voraussicht nach nicht noch einmal finden. Orpa kannte viele Mütter junger Männer, die sie voller Missgunst und Verachtung betrachteten, weil sie sie um ihre Schönheit und Jugend beneideten und ihre Sinnlichkeit mit Willfährigkeit und Hang zur Untreue verwechselten. So etwas hatte sie von Naomi nie erdulden müssen. Trotzdem realisierte sie allmählich, dass die Wanderung nach Bethlehem das Ende ihres Glücks bedeuten könnte und das sie es kaum aus eigener Kraft schaffen würde, in ihre Heimat zurückzukehren, wenn der Versuch fehlschlug. Um wie viel mehr würde man sie bei ihrer Rückkehr argwöhnisch betrachten und als Schwiegertochter kategorisch ablehnen? Naomi hatte Recht. Ihre Zukunft lag in Moab, bei ihrer Familie, den Menschen und Sitten, die ihr vertraut waren. Und so gab sie ihr einen innigen Abschiedskuss und machte sich auf den Rückweg.
Ruth dagegen klammerte sich noch immer an Naomi. Sie hatte die eigene Mutter bereits als kleines Mädchen verloren, war immer von der Bereitschaft verschiedener Nachbarinnen abhängig gewesen, den Vater bei der Aufzucht seiner fünf kleinen Kinder zu unterstützen. Der Vater hatte keine neue Frau gefunden, denn er hatte nichts zu bieten als fünf hungrige Kinder, ein winziges, schäbiges Haus und das Risiko eines frühzeitigen Todes. Schon als kleines Mädchen hatte Ruth gelernt, durch gefälliges und überangepasstes Verhalten zu überleben. Wäre sie forsch oder gar übermütig aufgetreten, hätten die mürrischen, freiwilligen Helferinnen sie solange gedemütigt, bis nur noch ein Häufchen Elend von ihr übrig geblieben wäre. So hatte sie wenigstens hin und wieder ein Lächeln oder ein freundliches Wort ergattern können.
Naomi sah Ruth in die tränenverhangenen Augen und sagte bestimmt: „Guck mal, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; jetzt geh auch zurück zu deinen Leuten, die für dich da sein werden.“
„Schick mich nicht weg!“, schluchzte Ruth. „Ich will dahin gehen und da bleiben wo du hingehst. Ich habe kein Volk und auch keinen Gott, der sich um mich gekümmert hätte, bevor ich dich kennengelernt habe. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Ich gehe jetzt mit dir und bleibe bei dir bis zu deinem Tod. Und wenn ich einmal sterbe, dann will ich neben dir begraben werden. Nur der Tod kann mich von dir trennen, sonst nichts, egal, was das Leben noch für uns bereit hält. Ich bleibe bei dir und ich halte zu dir.“
Naomi begann zu verstehen. Das war keine Höflichkeit, auch kein schlechtes Gewissen, das Ruth an ihrer Seite hielt. Als die junge Frau Machlon geheiratet hatte, hatte sie sich nicht nur für einen Mann entschieden, sondern für seine Familie, seine Kultur, seine Lebensweise. Offenbar gab es nichts und niemanden, was sie in ihrer Heimat hielt. Naomi wusste nicht, was die junge Frau Schlimmes erlebt hatte. Sie würde auch jetzt nicht danach fragen. Das könnte Ruth ihr noch rechtzeitig erzählen. Schließlich würden sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen. So setzten sie gemeinsam einen Fuß vor den anderen, Tag für Tag, Woche für Woche, bis sie in Bethlehem ankamen.
2. Teil
Nach einigen Wochen erreichten die beiden Frauen erschöpft das Städtchen Bethlehem. Hier herrschte wieder munteres Treiben, nichts war mehr zu spüren von der Agonie die vor einer Dekade geherrscht hatte und die weiblichen Neuankömmlinge zogen eine Reihe neugieriger Blicke auf sich.
Rebekka und Abigail, die gerade vom Einkauf auf dem Markt kamen musterten die beiden ausgiebig, bis Rebekka Abigail plötzlich am Ärmel zupfte: „Ist das eine nicht Naomi, die mit Elimelech und ihren zwei Söhnen vor zehn Jahren ausgewandert ist?“
„Tatsache!“, erwiderte Abigail. „Dass die sich noch hier her traut. Sind die nicht zu den Ungläubigen gegangen? Haben da wohl nicht ihr Glück gefunden.“
„Wie kommst du darauf?“
„Wie ich darauf komme? Siehst du ihre Männer irgendwo? Stattdessen schleppt sie hier so ein junges, fremdes Ding an. Ganz hübsch, die Kleine. Ist vermutlich aus einem moabitischen Bordell geflohen und hat sich an Naomi rangewanzt. Naomi war schon immer ein bisschen zu gutmütig und leichtgläubig.“
Die beiden Klatschtanten liefen von Haus zu Haus und verbreiteten die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Bald kam Naomis Nachbarin Rahel den beiden mit ihren Freundinnen entgegen und begrüßte sie herzlicher und wohlwollender, als die stadtbekannten Tratschen es getan hatten. „Naomi, liebe Nachbarin, wie schön, dich nach so vielen Jahren endlich wieder zu sehen! Wie ist es dir in der Ferne ergangen? Kommt mit in mein Haus. Bei Brot und Wein musst du uns alles erzählen!“
Naomi entgegnete: „Nennt mich nicht Naomi, der Name bedeutet schließlich die Freude und die Freude ist längst von mir genommen. Nennt mich stattdessen Mara; denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. Ich hatte einen Mann und zwei Söhne und dachte, ich hätte eine reiche und selige Zukunft vor mir, aber keiner ist mir geblieben, in der Fremde sind sie alle gestorben. Nur meine liebe Ruth ist hier, um mich in meiner Einsamkeit zu trösten. Sie ist Machlons Witwe, leider kinderlos, genau wie ihre Schwägerin. Wie könnt ihr mich also noch Naomi nennen, wo der Herr mich doch derartig gedemütigt hat?“
Die Einladung ihrer Nachbarin, nahm Naomi dankend an, erzählte ausführlich von ihrem Schicksal, fragte aber auch, wie es allen, die sie kannte in der Zwischenzeit ergangen war.
„Dein Haus habe ich in Ordnung gehalten.“, schloss Rahel schließlich ihren Bericht. „Auf dein Feld musst du noch ein paar Monde warten, das wird zur Zeit von Benajah bewirtschaftet. Bald beginnt überall die Gerstenernte, da könnt ihr euch sicher eine Zeitlang über Wasser halten. Und bis dahin findest du sicher einen, der dein Feld bestellt und euch im Gegenzug mit dem Nötigsten versorgt.“
Naomi und Ruth bedankten sich schließlich bei ihrer Gastgeberin, dann nahmen sie Naomis altes und Ruths neues Zuhause in Augenschein. Rahel hatte gute Arbeit geleistet, es roch kein bisschen muffig, war sauber und freundlich, sodass sie direkt einziehen konnten. Ruth tanzte fröhlich durch den Raum und begutachtete die Feuerstelle, den Essplatz und die Schlafebene. Sie ließ Licht durch die Luken und Naomi stand da, völlig überwältigt von den widerstreitenden Gefühlen in ihrem Inneren. Da wechselten sich Wiedersehensfreude mit wehmütigen Erinnerungen ab, das Gefühl der Geborgenheit mit dem des Scheiterns, der Eindruck von Reichtum mit dem schmerzlichen Bewusstsein der großen Verluste. Das geliebte Zuhause führte ihr auch vor Augen, was sie für den Rest ihres Lebens entbehren musste. Sie hatte es damals vorausgesehen, der Allmächtige würde sie bestrafen, weil sie das von ihm geschenkte Land in der schweren Zeit verschmäht und verlassen hatten. Nun war es genau so gekommen. Aber es half nichts, darüber zu jammern und sich zu beklagen. Ruth war für diesen Schritt nicht verantwortlich, sie verdiente eine Zukunft und Naomi betrachtete es als ihre Aufgabe, dafür Sorge zu tragen.
Es gab noch einen Verwandten aus der Linie des verstorbenen Elimelechs. Sein Name war Boas und er genoss großes Ansehen und galt als grundanständig. Naomi machte sich Gedanken, wie sie ihn am geschicktesten auf sich und ihre Schwiegertochter aufmerksam machen konnte, ohne aufdringlich zu erscheinen wie eine lästige Bettlerin.
Nachdem sie eine Nacht tief und fest geschlafen hatte, hatte sie eine Idee. Da war kein fester, klarer Plan in ihrem Kopf, nur ein Ansatz, ein Anfang, alles andere würde sich finden.
Als sie sich von ihrem Lager erhob, hatte Ruth bereits die letzten Körner aus ihrem Reiseproviant geröstet und Wasser gekocht für einen Kräuteraufguss. Es roch köstlich und heimelig. Die Schwiegertochter sagte: „Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen. Du hast doch erzählt, dass es bei euch das Recht der Besitzlosen ist, bei der Ernte aufzusammeln, was die Schnitter fallen lassen. So bekomme ich bis zum Abend bestimmt ein oder zwei Mahlzeiten für uns zusammen, dann sehen wir weiter.“
„Ja.“, antwortete Naomi. „Das ist eine gute Idee. Ich werde in der Zwischenzeit gucken, ob ich ein wenig Grünzeug für uns finde und vielleicht hat Rahel noch ein Stück Ziegenkäse für uns, dann haben wir heute Abend ein kleines Festmahl.“
Ruth machte sich auf den Weg, hielt Ausschau nach einem Feld, auf dem die Ernte begonnen hatte, bis sie von weitem eine Reihe von Arbeitern entdeckte. Sie trat an einen der Männer heran und fragte in der ihr nicht ganz fremden Sprache, ob es erlaubt sei, herabgefallene Ähren aufzulesen. Sie sei die Schwiegertochter der zurückgekehrten Naomi, der Frau Elimelechs und sie seien vorläufig ohne Einkünfte und ohne männlichen Schutz, weil sowohl Naomis Mann als auch ihre Söhne in der Fremde gestorben seien.
„Ja, natürlich.“, erwiderte der Gefragte und musterte mitleidig ihr von der Reise staubig und fadenscheinig gewordenes Gewand. Sie bedankte sich, und folgte den Schnittern auf Schritt und Tritt und sammelte Ähren in ihrem Überwurf.
Was sie nicht wissen konnte: der Zufall hatte sie auf das Feld eines Blutsverwandten ihres Schwiegervaters geführt, nämlich auf das Feld des Boas, über den Naomi am Vorabend schon ausführlich nachgedacht hatte. Um die Mittagszeit kam der Grundbesitzer vom Ortskern zum Feld hinaus, um nach dem rechten zu sehen. Er grüßte die Schnitter mit herzlichen Segenswünschen, die sie gleichermaßen erwiderten. Sie waren allesamt froh, bei Boas arbeiten zu dürfen – er zahlte großzügig und gerecht und behandelte sie anständig.
Boas Blick fiel auf die weibliche Gestalt, die sich unermüdlich nach den herabgefallenen Ähren bückte. Voller Anmut bewegte sie sich und sie sah irgendwie besonders aus, wie eine seltene Blume. Er fragte den Vorabeiter: „Wer ist denn dieses Mädchen auf dem Feld? Die habe ich hier ja noch nie gesehen.“
Der Knecht antwortete: „Es ist eine Moabiterin, die mit Naomi aus Moab gekommen ist. Ihre Schwiegertochter. Die Männer in der Familie sind wohl alle gestorben. Sie hat gefragt, ob sie Ähren lesen darf. Gleich heute Morgen war sie da und hat seitdem durchgearbeitet. Wenn du mich fragst, haben die beiden Frauen es wirklich dringend nötig.“
Boas ging langsam auf Ruth zu und sprach sie an: „Guten Tag, liebes Frau, hör mir zu: , Sammle so viele Ähren, wie du magst und geh nicht auf ein anderes Feld als dieses hier. Halte dich am besten in der Nähe der Mägde auf, damit du in Sicherheit bist und dich niemand belästigt. Hier in Bethlehem gibt es einige Kerle, die nicht einen Hauch von Respekt für junge Frauen aufbringen, sie könnten dir übel mitspielen. Mach einfach so weiter wie heute morgen, immer hinter den Schnittern bleiben. Meine Knechte werden dich nicht belästigen, da habe ich eine klare Ansage gemacht. Wenn du Durst hast, lass dir etwas zu Trinken geben.“
Überwältigt von der unverhofften Fürsorge fiel Ruth vor Boas auf die Knie. Und nicht nur seine Herzensgüte hatte Ruth beeindruckt. Er war ein stattlicher und schöner Mann, hoch gewachsen, schlank und gut gebaut, mit vollem Haar und feinen Zügen und dem sanftesten Blick, den sie je bei einem Mann bemerkt hatte. Sie fragte: Womit hab ich so große Freundlichkeit verdient, wo ich doch eine Fremde bin?“
Boas antwortete: „Man hat mir alles erzählt, was du für deine Schwiegermutter getan hast, dass du nach dem Tod deines Mannes an ihrer Seite geblieben bist; dass du deine vertraute Umgebung, Freunde und Familie verlassen hast, um in ein Land zu ziehen, das du vorher nicht kanntest. Ich wünsche dir, dass du dafür reichlich belohnt wirst vom Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um unter seinen Flügeln Zuflucht zu suchen.“
Ruth sagte: „Wie kann ich dir dafür danken, edler Herr? Ich hatte erwartet, fortgejagt zu werden und mich von Feld zu Feld zu schleichen, so lange es etwas zu sammeln gibt, immer auf der Hut vor missgünstigen und jähzornigen Menschen. Du bist auf mich zugekommen voller Freundlichkeit und hast mich getröstet, dabei bin ich doch nicht einmal wie eine deiner Mägde.“
Boas lächelte. Vielleicht war sie ein kleines bisschen zu devot. Da regte sich schon kurzweilig der Verdacht, dass sie eine berechnende und ausgezeichnete Schauspielerin sein könnte. Und wer wollte es ihr verdenken? Sie kämpfte verzweifelt um ihr Überleben, da war nahezu jedes Mittel recht. Aber wenn er in ihre klaren Augen sah, konnte er sich kaum vorstellen, dass da auch nur ein Hauch von Boshaftigkeit in ihr steckte. Sie war eine Heldin und außerdem wunderschön.
Wenig später, als die Knechte sich zu einer Essenspause sammelten, ging Boas erneut zu Ruth und lud sie ein: „Komm hierher und iss von unserem Brot und tauche deinen Bissen in den Essigtrank!“
Schüchtern setzte sie sich neben die Schnitter. Boas bot ihr geröstete Körner an, die waren köstlich und reichlich, sodass sie nicht einmal alles aufessen konnte.
Als Ruth ihre Pause beendete, um weiter zu sammeln, nahm Boas seine Knechte beiseite: „ Lasst sie auch zwischen den Garben lesen und belästigt sie nicht! Und ich wäre euch dankbar, wenn ihr es hinbekämt, unauffällig die eine oder andere fette Ähre aus den Garben herauszuziehen und liegen zu lassen, damit sie reichlich findet und sich das Sammeln für sie lohnt. Wir haben mehr als genug, wir müssen nicht knausrig sein.“
„Du könntest ihr doch einfach etwas schenken. Wofür so viel Aufwand?“
„Ich denke“, erwiderte Boas, „dafür wäre sie zu stolz und würde es nicht annehmen.“
Das sah der Vorarbeiter ein und Boas schärfte ihm ein: „Sieh zu, dass niemand von den Arbeitern sie angeht, wenn sie die prallen Ähren einsammelt. Manch einer ist ja übereifrig, wenn es darum geht, meinen Besitz zu schützen und zu mehren. Das weiß ich zu schätzen, aber in diesem Fall würde es mich zutiefst verärgern.“
„Ist angekommen.“, antwortete der Vorabeiter und teilte seine Schnitter wieder ein.
Ruth arbeitete bis zum Abend, solange wie die Erntearbeiten andauerten. Als sie damit fertig war, drosch sie die Ähren aus und fegte die Körner auf ein Tuch, um sie nach Hause zu tragen. Es war etwa ein Scheffel, ein großer Krug voller Gerste dabei herausgekommen.
Als sie damit nach Hause kam und Naomi die mehr als reichliche Ausbeute sah, dazu noch die Essensreste vom Mittagsimbiss, fragte sie ihre Schwiegertochter: „Aber Ruth, das ist ja unglaublich! Da hat es aber jemand mehr als gut mit dir gemeint. Wo hast du gearbeitet?“
Ruth erklärte: „Auf dem Feld dort unten, nicht weit von hier. Es gehört einem besonders freundlichen Mann, der seine Knechte und Mägde gut behandelt. Boas heißt er und stell dir vor, er hatte schon von mir gehört und von all den schlimmen Dingen, die uns passiert sind. Er war so verständnisvoll und höflich, so fürsorglich und umsichtig. Ich wusste gar nicht, dass es solche Männer außerhalb deiner Familie noch gibt.“
„Oh mein Gott, gesegnet sei Boas und gelobt sei Gott, der uns nicht im Stich gelassen hat, nicht uns beide, die wir noch leben, aber auch nicht unsere verstorbenen Männer, deren Linie nun vielleicht doch nicht endet!“
„Wie soll ich das denn verstehen?“, fragte Ruth mit einem Ausdruck von Verwirrung.
„Ja, das muss ich dir genauer erklären.“, antwortete Naomi. „Bei meinem Volk gibt es eine Sitte, die dir sicher nicht vertraut ist. Wenn ein Mann stirbt und hinterlässt keine Nachkommen, dann ist seine Linie zu Ende und sein Leben endgültig und für immer ausgelöscht, denn da sind keine Kinder und Kindeskinder, in denen er weiterleben wird. Wenn nun aber seine Witwe erneut heiratet und mit dem neuen Mann Kinder bekommt, so gelten ihre Kinder als die Nachkommen ihres verstorbenen Mannes. Was aber für dich noch viel wichtiger ist: Boas steht uns nahe; er gehört zu unsern Lösern. Er ist einer von denen die das Recht und die Pflicht haben, Elimelechs und Machlons Linie fortzusetzen. Meine natürlich auch. Er könnte dich heiraten und wir beide wären für den Rest unseres Lebens gut versorgt.“
Ruth erwiderte: „Ach jetzt verstehe ich auch, warum er sich so um mich gekümmert hat und darauf bestand, dass ich ausschließlich auf seinem Feld arbeite.“
„Ja, es ist gut, dass er dich der Obhut seiner Mägde anvertraut hat, damit dich niemand belästigt oder dir Schlimmeres antut.“
Und Ruth ging bis zum Ende der Gersten- und der Weizenernte täglich auf die Felder des Boas und sorgte für volle Vorratskammern in Naomis Haus.
3. Teil
Am Ende der Erntezeit kam ein wenig Ruhe in das Haus der beiden Frauen. Für Ruth gab es nichts mehr auf den Feldern zu tun und so konnte sie Naomi bei der Arbeit im Haus unterstützen. Es blieb ihnen viel Zeit für Gespräche, Träume zu spinnen und. Zukunftspläne zu schmieden. Ruth vermied dabei das Thema einer neuen Heirat, es wäre ihr wie ein Verrat an Naomi vorgekommen. Doch dann schnitt Naomi eines Tages das bis dahin gemiedene Thema an: „Ruth, es wird Zeit, dass wir einen neuen Mann für Dich finden.“
„Ach, das hat doch keine Eile.“, erwiderte die Schwiegertochter. „Das findet sich schon.“
„Wenn du wartest bis es sich findet, musst du am Ende den Rest deines Lebens einem Säufer und Faulpelz dienen, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hart arbeiten und doch alles entbehren, was das Leben angenehm macht.“
„Aber das mit Machlon hat sich doch damals auch einfach so ergeben.“
„Ja, aber wer garantiert dir, dass du beim zweiten Mal wieder so ein Glück hast? Ich will ehrlich sein: Ich denke dabei auch an meine Zukunft. Nur wenn Du einen anständigen Mann findest, dazu einen, der auch als Löser infrage kommt, ist auch meine Zukunft gesichert.“
„Oh, das habe ich nicht bedacht.“, sagte Ruth voller Verlegenheit. „Entschuldige bitte. Aber was soll ich tun?“
„Ich werden dir helfen, den richtigen Mann zu finden“, erklärte Naomi, „einen, bei dem du endlich entspannt in die Zukunft sehen kannst, bei dem du es gut hast. Ich habe mir etwas überlegt. Boas, unser Verwandter, bei dem du auf dem Feld gearbeitet hast, worfelt diese Nacht Gerste auf der Tenne.“
„Worfelt?“, fragte Ruth.
„Ja, er wirft das gedroschene Getreide mit einer Schaufel in die Luft. Dann trägt der Wind die Spreu fort und übrig bleiben die Körner.“
„Und wo tut er das?“
„Auf der Tenne, das ist der Dreschplatz, draußen vor der Stadt.“
„Ach so.“, sagte Ruth. „Aber warum erzählst du mir das?“
„Weil du da hingehen sollst. Nimm zuerst ein Bad, zieh ein schönes Kleid an und geh herunter zur Tenne. Versteck dich irgendwo, bis Boas gegessen und getrunken hat. Wenn er sich dann schlafen legt, schleiche dich zu ihm. Nimm die Decke an seinen Füßen hoch und leg dich dort unten hin. Danach ist er am Zug. Er wird dir sagen, was du tun sollst und ich bin sicher, alles wird sich so fügen, wie wir es wollen.“
Ruth antwortete: „Wenn du das so sagst, dann werde ich alles tun, was du mir aufträgst. Welches Kleid soll ich anziehen, was meinst du?“
„Das Rote.“, schlug Naomi vor. „Das hattest du schon an, als Machlon sich in dich verliebt hat.“
Ruth erhitzte Wasser auf der Feuerstelle, machte einen Sud aus frischen Kräutern und wusch ihren Körper gründlich damit ab. Von Rahel, der Nachbarin, hatte Naomi etwas Rosenöl besorgt, damit cremte die junge Frau sich ein, so dass sie frisch und sinnlich duftete. Die Schwiegermutter kämmte ihr das Haar und als die Dämmerung hereinbrach, legte Ruth das rote Kleid an, das ihr so gut stand und ihre aparte, feminine Silhouette umschmeichelte. Dann ging sie mit pochendem Herzen zur Tenne.
Boas hatte den ganzen Tag hart gearbeitet, nun war er müde und erschöpft, aber auch sehr zufrieden, mit dem, was er geschafft hatte. Er würde am Morgen weiterarbeiten, aber für heute war es genug. Er packte Brot, Oliven und Käse aus, ein paar frische Datteln und einen kleinen Krug Wein. Das war das schönste am Sommer, wenn das Korn in so prallen, satten Haufen da lag und einem ein Gefühl von Sicherheit gab. Er erinnerte sich an die schlimme Hungersnot in seiner frühen Jugend, damals wäre sein kleiner Bruder fast gestorben, der Vater war gereizt gewesen, die Mutter vollkommen entkräftet. Das lag nun lange zurück. Er war wohlhabend und besaß reichlich Vorräte. Voller Dankbarkeit breitete er sein Abendessen aus und blinzelte schmausend in den Sonnenuntergang. Als er satt und ein kleines bisschen beschwipst war, wurde seine Laune noch besser und er sang sich selbst ein paar fröhliche Lieder vor. Dann wurden die Augenlider immer schwerer und er bereitete sein Nachtlager hinter einem Kornhaufen.
Ruth lauerte hinter einem alten Baum. Als Boas schon eine ganze Weile da lag, schlich sie sich behutsam immer näher an ihn heran, bis sie seinen Atem hören konnte. Die Züge waren tief und gleichmäßig, er schlief offensichtlich. Vorsichtig hob sie die Decke über seinen Füßen hoch und rollte sich neben ihm wie eine Katze zusammen.
Gegen Mitternacht wachte Boas plötzlich auf, bemerkte, dass da etwas war, das vor dem Einschlafen noch nicht da gewesen war und erschrak heftig, als er bemerkte, dass da eine Frau zu seinen Füßen lag. Er befürchtete eine Lilith, ein weiblicher Dämon, die vorzugsweise allein schlafende Männer aufsucht, habe sich seiner bemächtigt. Beherzt fragte er: „Wer bist du?“
Sie antwortete: „Ich bin Ruth, deine Magd. Breite den Saum deines Gewandes über deine Magd, denn du bist der Löser.“
Sofort erinnerte er sich und atmete auf vor Erleichterung. „Ach du bist es Ruth, aus Moab, Naomis Schwiegertochter. Sei gesegnet!“, sagte er. „So einen Liebesbeweis habe ich noch nie erfahren, dazu von dir, einer großen Schönheit, die wirklich jeden haben könnte und dabei doch den Männern gegenüber so zurückhaltend ist. Keiner hätte es dir übel genommen, wenn du längst dem Sohn eines vermögenden, angesehenen Mannes schöne Augen gemacht hättest, aber du hast immer nur gearbeitet und dich um deine Schwiegermutter gekümmert. Und jetzt lieferst du dich mir derartig aus. Ich muss schon sagen, ich bin wirklich verblüfft.“
„Ich liefere mich aus?“, fragte Ruth. „Was willst du damit sagen?“
„Nun ja, wir zwei sind allein hier. Es könnte viel passieren. Gleichzeitig steht zu befürchten, dass neugierige Augen gesehen haben, wie du am Abend hier hergekommen und nicht bald wieder zurück gegangen bist. Das könnte Gerede geben.“
„Oh“
„Keine Angst. Weder werde ich diesen Moment schamlos ausnutzen, noch werde ich es versäumen, dafür zu sorgen, dass dein Ruf nicht beschädigt wird. Im Gegenteil: Ich werde dein Löser sein und dich zur Frau nehmen. Alle in der Stadt wissen, was für eine tugendhafte Frau du bist. Warum sollte ich an dir zweifeln?
Leider gibt es noch ein Problem. Ich bin zwar als Löser geeignet, aber es gibt jemanden, der näher verwandt mit Naomi ist als ich, und der ist auch unverheiratet und möglicherweise äußerst interessiert an dir. Ich muss es klug anstellen, dass er von diesem Vorhaben ablässt. Am besten wird es sein, du bleibst heute Nacht bei mir. Ich werde ihm davon erzählen. Dann hat er vielleicht Sorge, dass er sich nicht auf dich verlassen kann. Ich bin sicher, so wie ich ihn kenne, dass er darum auf dich verzichten wird und dann steht unserer Verbindung nichts mehr im Wege. Schlaf jetzt, wir haben noch eine Menge vor.“
Dieser Mann strahlte eine solche Sicherheit aus und hatte so etwas unglaublich Beruhigendes an sich und weil der ganze Tag und der Abend bis tief in die Nacht so wahnsinnig aufregend gewesen waren, schlief Ruth tatsächlich bald an Boas Seite ein und wachte erst in der Morgendämmerung wieder auf. Es war noch nicht richtig hell, als sie aufstand. Boas sah sie an und dachte: Wenn nur niemand erfährt, dass eine Frau auf die Tenne gekommen ist. Die Tratschen werden es überall herumerzählen und sich schnell zusammenreimen, dass es nur Ruth gewesen sein kann. Ich gebe ihr einen Grund für den Gang zum Dreschplatz. Und er sagte zu ihr: „Nimm das Tuch, das du umhast, und halt es auf.“
Sie tat, wie er ihr sagte und er füllte sechs Maß Gerste hinein und half ihr das schwere Paket auf die Schultern zu heben. Dann ging er zurück in die Stadt.
Ruth kehrte um zu ihrer Schwiegermutter.
„Wie steht's mit dir, meine Tochter?“, fragte Naomi zur Begrüßung.
Ruth erzählte haarklein, was sich in den letzten zwölf Stunden zugetragen hatte. Sie schloss mit den Worten: „Zum Abschied hat er mir diesen Haufen Gerste mitgegeben und gesagt, du sollst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter kommen. - Dann bin ich nach Hause gegangen.“
Naomi lächelte weise und sagte: „Warte nun ab, mein Täubchen, bis du erfährst, was er im Schilde führt, denn der Mann wird nicht ruhen, bis er sein Ziel erreicht hat.“
4. Teil
Am Morgen setzte Boas sich direkt an das Stadttor, an den Platz, an dem die Ältesten sich oft zum Rat versammelten und wo jeder vorbei kam, der etwas zu erledigen hatte. Hier würde Menachem, der nähere Verwandte Naomis sicher vorbei kommen. Boas kannte ihn gut. Er war ein weniger als mittelmäßig anziehender Mann, der stets auf seinen Vorteil bedacht war. Sicher witterte er die Chance auf einen Gewinn an neuer Ackerfläche und darüber hinaus die Zweitehe mit einer wunderschönen, jungen Frau, der er nichts bieten musste, als einen Platz in seinem Haus. Doch Boas hatte längst einen Plan geschmiedet, um ihn auszutricksen.
Genau wie Boas vermutet hatte, tauchte Menachem schon bald im Stadttor auf. Boas sprach ihn an: „Guten Morgen, Großvetter, komm, setz dich zu mir und lass uns ein bisschen plaudern.“
Menachem blickte seinen entfernten Verwandten argwöhnisch an. Sonst ging er oft an ihm vorbei, als habe er ihn nicht bemerkt, was führte er im Schilde, dass er plötzlich so einladend daherredete? Er hatte kein Lust, sich von dem glattzüngigen Boas an der Nase herumführen zu lassen. Am Ende wollte er ihm nur Geld aus der Tasche ziehen oder noch schlimmer, ihm wertvolles Land abluchsen.
„Ach, lass mich.“, winkte er darum ab. „Ich habe viel vor heute, Plaudereien sind etwas für alte Männer. Und du? Hast du nicht noch auf der Tenne zu tun?“
„Ja, sicher.“, erwiderte Boas. „Aber die Tenne kann ein paar Augenblicke warten, denn ich habe wichtiges mit dir zu besprechen: es geht um dich!“
„Um mich?“ Nun war Menachem doch neugierig geworden und setze sich dort hin.
„Wie geht es dir?“ fragte Boas, .
„Danke der Nachfrage.“, erwiderte Menachem. „Ich bin gesund, wenn ich auch viel Arbeit habe. Worum geht es denn nun?“
Doch Boas antwortete noch nicht auf seine Frage. Stattdessen rief er: „Ezechiel, Amos, Hananja, kommt, setzt euch zu uns, wir brauchen euren Rat!“
Die drei gehörten zu den Ältesten der Stadt, Männer mit Weisheit, Würde und hohem Ansehen. Und Boas rückte nicht eher mit der Sprache heraus, als bis er zehn Zeugen für sein Gespräch versammelt hatte. Das war eine alte Sitte, um ein Geschäft rechtskräftig zu machen.
Menachem hatte längst gewittert, dass es hier um ein Geschäft ging und war hochkonzentriert und äußerst auf der Hut.
Boas wandte sich nun erneut an Menachem: „Naomi, die aus Moab zurückgekehrt ist, will den Acker, den sie von ihrem Mann Elimelech geerbt hat, verkaufen. Du bist der erste in der Rangfolge der Löser und ich frage dich ob du das Land übernehmen willst? Falls du das tun willst, dann schlag hier vor den Ältesten ein, die die Abmachung bezeugen können. Wenn du aber kein Interesse daran hast, dann sag es jetzt, denn dann bin ich der nächste und nach mir keiner mehr, dann würde ich es übernehmen.“
Da musste Menachem nicht lange nachdenken. Der Preis wäre sicher günstig, denn Naomi war in Not und ein besseres Geschäft konnte er nicht machen, also antwortete er „Ich will's lösen. Vorausgesetzt der Preis ist angemessen.“
Boas erklärte daraufhin: „An dem Tage, an dem du von Naomi das Feld kaufst, musst du auch Ruth, die Moabiterin, die Frau des verstorbenen Machlon, nehmen, um die Linie Elimelechs und Machlons fortzusetzen.“
Nun überkamen Menachem Zweifel. Ihm wurde plötzlich bewusst, was das bedeutete: Das Land, das er mit viel Schweiß und Einsatz viele Jahre bearbeiten würde, fiele automatisch in die Hände des ersten Sohnes, den die Moabiterin Ruth ihm gebären würde. Dieser Sohn gälte dann noch nicht einmal als sein Nachkomme, sondern als der des verstorbenen Machlon. Seine eigenen Kinder hätten rein gar nichts von dem Erbe. Er würde nur eine Witwe aus der Fremde versorgen, von der er noch nicht einmal wusste, ob er ihr über den Weg trauen konnte. Und wer konnte schon wissen, wie viele Bastarde sie in die Welt setzte, die ihm die Haare vom Kopf fraßen, ohne seinen Namen fortzuführen? Nein, das war kein gutes Geschäft. Er wollte sich keinesfalls ausnutzen lassen.
Er antwortete: „Wenn ich es mir recht überlege, wäre ich mit dem Land überfordert. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste und meine zwei Söhne sind zwar fleißig aber auch gut beschäftigt mit dem, was wir haben. Am Ende hätte ich nur Scherereien mit den Nachkommen Machlons, die dann meinen Söhnen ihr Erbteil streitig machen würden. Dazu fehlen mir die Nerven. Vielleicht ist es besser, wenn du dich dieser Aufgabe annimmst. Du bist noch jung und kräftig und hast noch keine Kinder, um die du dich sorgen musst.“
Ein uralter Brauch in Israel bestand darin, ein Geschäft zu besiegeln, indem man einen Schuh auszog und ihn dem Verhandlungspartner reichte. Also zog Menachem seinen Schuh aus und gab ihn Boas. Nur schnell raus aus der Nummer, dachte er, bevor der liebestolle Kerl wieder zu Verstand kommt und es sich anders überlegt.
Boas wandte sich an die Anwesenden: „Ihr seid heute Zeugen, dass ich von Naomi alles gekauft habe, was Elimelech, und alles, was Kiljon und Machlon gehört hat. Außerdem verspreche ich hiermit, Ruth, die Moabiterin, die Frau Machlons, zur Frau zu nehmen, dass ich den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil erhalte und sein Name nicht ausgerottet werde.“
Und alle Anwesenden bezeugten, dass sie das soeben Gesagte gehört hatten. Sie sprachen Segensworte für Ruth und Boas und verglichen beide mit großen und ehrwürdigen Männern und Frauen aus dem Kreis ihrer Ahnen.
Als alles beschlossen war, machte Boas sich auf den Weg zu Naomis Haus und bat um ein Gespräch.
„Wenn es euch recht ist“, begann er, „würde ich mich gern als Löser anbieten, Naomis Land kaufen, Ruth zur Frau nehmen und die Linie Elimelechs und Machlons fortsetzen.“
Naomi schlug vor Freude die Hände zusammen und rief: „Was für ein größeres Glück könnte uns begegnen?“
„Und wie ist es mit dir Ruth?“, fragte Boas schüchtern. „Willst du mich heiraten?“
Strahlend gab Ruth ihr Jawort und wenig später feierten sie eine fröhliche Hochzeit mit vielen Gästen, gutem Essen und lebensfroher Musik.
Schon bald darauf wurde Ruth schwanger und brachte einen Sohn zur Welt. Naomis Freundinnen gratulierten der Großmutter und sagten: „Gelobt sei Gott, der dich nicht im Stich gelassen und dir einen so großartigen Löser geschenkt hat. Nun hast du einen Enkelsohn, er dich im Alter versorgen wird, denn bei einer so wunderbaren Schwiegertochter wie deiner Ruth, kannst du dich darauf bestimmt verlassen. Diese Frau ist mehr wert als sieben Söhne!“
Naomi nahm den kleinen Jungen auf ihren Schoß und für einen Augenblick fühlte es sich so an, als sei er ihr eigenes Kind. Von Anfang an war es klar, dass sie sich um ihn kümmern würde, ihm beim Aufwachsen nicht nur zusehen, sondern ihn begleiten, trösten und lieben würde. Da gaben die Nachbarinnen dem Kind den Namen Obed, was so viel heißt wie „Diener“ oder „Verehrer“.
Als Obed erwachsen wurde, bekam er einen Sohn namens Isai. Der wiederum war der Vater Davids, des größten Königs Israels, des Stammvaters des Jesus von Nazareth.
Der Name des anderen Verwandten geriet in Vergessenheit.
Die Urgroßmutter des großen Davids war eine Nichtjüdin, eine Einwanderin, eine ursprünglich „Ungläubige“, eine, die eigentlich nicht dazu gehörte. Und sie war das beste, was Machlon, Naomi und Boas passieren konnte.
ENDE
Zu der Zeit, als die Stämme Israels noch an der Regelung festhielten, sich keinem König zu unterwerfen, nicht einmal einem eigenen, hatten sogenannte Richter die Aufgabe, Streitigkeiten zu schlichten, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen. Es war eine Zeit, in der das Leben noch besonders einfach war, in der die Menschen den Bedingungen, die die Natur stellte, ausgeliefert waren. Und so kam es, dass infolge mehrerer Missernten eine Hungersnot entstand.
So ging es auch den Menschen in der Siedlung Bethlehem, was ironischerweise „Haus des Brotes“ bedeutet, aber in diesem Haus gab es schon lange kein Brot mehr.
Hier lebte auch das Ehepaar Elimelech und Naomi mit ihren beiden Söhnen Machlon und Kiljon.
Eines abends, als sie allesamt wieder hungrig schlafen gingen, erklärte Elimelech seiner Frau, dass etwas geschehen müsse: „Wie soll es mit uns weitergehen? Machlon wird jeden Tag schwächer. Es dauert vielleicht noch eine Woche, dann wird er bei der Arbeit zusammenbrechen und nicht wieder aufstehen. Kiljon hatte noch nie viel Mumm in den Knochen. Er hat so glasige Augen, ich frage mich, ob er die Nacht übersteht.“
„Mal nicht den Teufel an die Wand.“, erwiderte Naomi. „Es hilft nichts, wenn du dir vorstellst, was das Schlimmste ist, das passieren kann. Wir müssen einfach Geduld haben und beten. Es wird schon irgendwie weitergehen.“
„Ja, irgendwie geht das Leben weiter. Wir werden geduldig sterben und die Ratten haben ein Festessen. Deren Leben geht dann weiter. Geduld wird uns nicht retten. Wir müssen eine Lösung finden.“
„Aber was sollen wir tun? Stehlen? Die anderen haben doch auch nichts. Oder glaubst du, der Allmächtige wird Manna vom Himmel regnen lassen, wenn wir nur beharrlich genug beten? Wir sind doch fromm und treu. Ich frage mich, wofür wir bestraft werden.“
„Wir werden nicht bestraft. Wir hatten Missernten. Darum gibt es hier nichts zu essen. Wir müssen an einen Ort gehen, wo es genug zu essen gibt. In den Osten.“
„In den Osten? Nach Moab? Zu den schlechten Menschen, die zu grausamen Göttern beten? Wo nichts als Unsitte und Verfall herrschen? Der Allmächtige hat uns in dieses Land geführt, er hat es zuerst Abraham gegeben und dann hat er es uns noch einmal geschenkt. Es ist gutes Land. Wenn wir dieses Geschenk ausschlagen, werden wir es bereuen. Wir werden Gott zornig machen und er wird uns bestrafen.“
„Nun, dann ist er auch nicht besser als die grausamen, moabitischen Götter und dann können wir ja getrost da hin gehen, wo wir uns vor der Strafe eine Zeitlang ordentlich satt essen können. Dann überleben wir vielleicht beides: den Winter und die Strafe Gottes.“
Naomi fürchtete tatsächlich ein folgenschweres Schicksal und außerdem die bösen Zungen und scheelen Blicke all ihrer Verwandten und Bekannten. Aber als sie ihre bleichen Söhne dort liegen sah, das künftige Leben, die Vollendung ihres eigenen Daseins, als sie sich vor Augen führte, dass ihr Sterben täglich wahrscheinlicher wurde und dass dieses Sterben ihren, Naomis, ewigen Tod bedeutete, das endgültige ausgelöscht Werden ihres Daseins, das Ende ihrer Linie, da lenkte sie ein und erklärte sich einverstanden.
Es gab nicht viel, das sie mitnehmen mussten, denn sie hatten nicht viel. Ein paar Krüge mit Wasser, etwas Salz, die Gewänder, die sie am Leib trugen, einige Decken. Den Rest ließen sie im Haus. Vielleicht konnten sie ja schon in wenigen Jahre zurückkehren. Naomi hatte bei ihrer Nachbarin geklopft: „Kannst du bitte achtgeben, dass niemand sich in unserem Haus einnistet, so lange wir fort sind? Wir wissen nicht, wann wir zurückkehren, aber ich glaube nicht, dass ich in der Fremde sterben will.“
Dann machten sie sich auf den Weg. Wochenlang wanderten sie in Richtung Osten. Sie fingen kleine Tiere mit ihren Steinschleudern und brieten sie über winzigen Feuern. Schließlich gelangten sie auf moabitisches Gebiet, Städte und kleinere Siedlungen, dazwischen Felder, Brunnen, gesundes Vieh. Die Sprache war fremd und unverständlich, die Moabiter aber viel offener und freundlicher, als sie erwartet hatten. Mit Händen und Füßen ließen sich die wichtigsten Botschaften übermitteln und schon bald hatten sie die ersten Vokabeln gelernt. Sie arbeiteten als Tagelöhner und schliefen nachts in einem Zelt, das sie aus ihren mitgebrachten Decken bauten, genauso wie zuvor auf der Wanderschaft. Vom ersten Lohn, kauften sie reichlich zu essen, schon bald reichte es für ein ordentliches Zelt, in dem man sich einrichten konnte und schließlich, nach einigen Jahren, reichte es für ein eigenes Haus aus Lehm, mit einer festen Feuerstelle, erhöhten Schlafplätzen, einem Tisch und weichen Decken, auf denen man sich niederlassen konnte.
Doch kaum waren sie in ihrem neuen Leben in der Fremde angekommen, starb Elimelech an einer rätselhaften Krankheit. Dies war ein harter Schlag für Naomi, denn sie hatte keine Freundinnen oder Freunde in diesem fremden Land, war sie doch den ganzen Tag im Haus und damit beschäftigt, das Essen zuzubereiten, die Kleidung herzustellen und in Ordnung zu halten und für Sauberkeit zu sorgen. Sie beherrschte die Sprache noch immer kaum und ihr fehlte der warme, feste Körper ihres geliebten Mannes, mit dem sie sich immer wohlgefühlt und der ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte, sogar in der Zeit der Wanderschaft und in den ersten Wochen und Monaten in der neuen Heimat. Jetzt blieb sie mit ihren erwachsenen Söhnen zurück, von deren Geschick nun ihre Zukunft abhing.
Machlon und Kiljon machten sich prächtig und schon bald hatten sich beide in moabitische Schönheiten verliebt. Kiljon hatte eine junge Frau namens Orpa kennengelernt und geheiratet. Sie war eine große Schönheit, voller Anmut und Sinnlichkeit. Fröhlich war sie, mit ihr gab es immer viel zu lachen und die Arbeit ging ihr gut von der Hand. Manchmal machte sie sich lustig über die seltsamen Gewohnheiten der Familie ihres Ehemannes, das Anzünden der Sabbathlichter und das Rezitieren der immer gleichen Worte. Auch dass sie sich so anstellten mit dem Essen: „Was ist das für ein Blödsinn, dass man Milch und Rindfleisch nicht zusammen garen darf, habt ihr Angst, dass das Fleisch dann zum Leben erweckt wird und ohne den Rest der Kuh herumläuft und die Kinder erschreckt?“
Sie verstand auch nicht, dass die Tiere auf ganz besondere Weise geschlachtet werden mussten: „Wozu soll das gut sein, dass die Ziege mit dem Kopf nach unten ausblutet? Damit sie erkennt, wie verkehrt es ist, dass man ihr die Kehle durchschneidet?“
Das Schächten fanden die Moabiter und Moabiterinnen höchst sonderbar und verdächtig – Orpa fand es nur skurril. Sie liebte ihre ganze Schwiegerfamilie, aber so richtig ernst nehmen konnte sie sie nicht immer.
Machlon lernte ebenfalls eine moabitische Schönheit kennen. Ihr Name war Ruth und über ihre Herkunftsfamilie sprach sie kaum. Vordergründig war sie nicht so attraktiv wie Orpa, zurückhaltender im Auftreten, ernsthafter und ruhiger, aber ebenso schnell Teil der Familie und voller Liebe für jede und jeden Einzelnen.
So wurden sie eine größere Familie und Naomi fasste wieder Mut: Zwei Schwiegertöchter, das bedeutete die baldige Ankunft von Kindern und Kinder bedeuteten Zukunft und Leben. Es würde schon irgendwie weitergehen – und mit den beiden wunderbaren Schwiegertöchtern allemal.
Etwa zehn Jahre waren vergangen, seit Naomis Familie ausgewandert war. Keine der beiden Schwiegertöchter war bisher schwanger geworden, da befiel den jüngeren, Kiljon eines Abends ein schreckliches Fieber. Zuerst zitterte er, war blass und konnte kaum die Augen offenhalten. Er klagte über Kopfschmerzen und große Kälte. Orpa röstete Körner auf dem Feuer, bedeutete ihm, sich hinzulegen, deckte ihn zu und als die Körner heiß waren, wickelte sie sie in ein Tuch und steckte das unter seine Decke, damit ihm warm wurde. Ruth braute einen Aufguss aus Kräutern und Wurzeln, den flößte Orpa Kiljon ein. Im Laufe der Nacht begann er entsetzlich zu schwitzen, das Wasser lief seinen Körper herunter, sein Kopf war glühend heiß und es wurde nicht besser. Irgendwann war seine Frau einfach zu müde, um länger auf ihn zu achten und schlief ein. Als sie im Morgengrauen von einem Hahnenschrei erwachte, war sie zunächst erleichtert. Kiljon war ganz ruhig und die Hitze war aus seinem Körper gewichen. Doch als sie sich liebevoll über ihn beugte, musste sie feststellen, dass auch das Leben aus ihm gewichen war. Orpas Trauer war entsetzlich, sie schrie und weinte und trommelte auf die Brust ihres verstorbenen Mannes. Ruth nahm sie tröstend in den Arm, während Machlon stumm vor Entsetzen auf seinen toten Bruder herabblickte und Naomi mit ihrem Schmerz allein ließ. Die umschlang ihren Erstgeborenen voller Verzweiflung und begoss ihn mit ihren Tränen, bis ihr auch dazu die Kraft fehlte.
Zwei Tage später, als Kiljon gerade unter der Erde war, zeigten sich bei Machlon die gleichen Symptome. Nun war es Ruth, die neben ihrem kranken Mann lag und vor Sorge um ihn fast verrückt wurde. Von Naomi ganz zu schweigen, die mehrmals in der Nacht aufstand und nach dem Fiebernden sah. In den frühen Morgenstunden war das Fieber gesunken, er zitterte nicht mehr und bat um etwas zu Trinken. Voll Freude und Erleichterung bereitete Naomi einen Kräuteraufguss und Ruth gab Machlon vorab ein wenig Wasser. Er lächelte dankbar, mit Hilfe der Frauen hatte er die Krankheit besiegt.
Doch schon wenige Tage später erlitt er einen Rückfall. Es waren Naomi und Ruth, die an seiner Seite saßen und seine Hände hielten, während Orpa alles anderen Notwendige erledigte, als er plötzlich das Atmen einstellte. Klagend und weinend beugten sie sich über Machlon, den letzten Mann in ihrer kleinen Familie, den sie nun ebenfalls zu Grabe trugen.
Am Morgen nach der Bestattung bat Naomi ihre Schwiegertöchter an den Tisch. „Ich muss mit Euch reden.“, sagte sie. „Es ist mir gut ergangen in eurem Land. Es war schlimm, dass ich meinen Mann und meine Söhne verloren habe, aber das liegt nicht an diesem Land, das wäre bei uns zu Hause sicher ebenso passiert. Wir wurden hier aufgenommen, hatten immer genug zu essen, wurden nie schlecht behandelt und ihr zwei wunderbaren Schwiegertöchter seid Teil meiner Familie geworden. Ihr seid jetzt meine ganze Familie. Ich liebe euch sehr und gerade weil ich euch liebe, möchte ich, dass ihr möglichst bald wieder heiratet, solange ihr noch jung seid und Kinder bekommen könnt. Für mich ist dieses Kapitel abgeschlossen und wenn ihr beide neu anfangen wollt, wäre ich nur im Weg. Ich habe aber in diesem Land sonst keinen Menschen, der mir nahesteht. Von Reisenden habe ich gehört, dass es in Juda nun wieder reiche Ernten gegeben hat, sodass ich in meine alte Heimat zurückkehren könnte. Ich habe da noch ein Haus und etwas Land, um mich zu versorgen und vielleicht finde ich jemanden, der einen Teil meines Landes bearbeitet und mich dafür im Alter versorgt. Darum trennen sich hier unsere Wege. Ihr könnt das Haus verkaufen und das Geld teilen und mit euren neuen Familien von vorn anfangen.
„Nein!“, rief Orpa. „Wir lassen dich auf keinen Fall allein! Du hättest mich nach Kiljons Tod direkt vor die Tür setzen können. Das ist dir nicht eingefallen. Ich jedenfalls bleibe bei dir. Und wenn du zurück nach Bethlehem gehen willst, dann komme ich eben mit und lerne endlich die Heimat meines verstorbenen Ehemannes kennen.“
„Ich bleibe auf jeden Fall bei dir.“, sagte Ruth. „Du und Orpa, ihr seid jetzt meine Familie.“
Als Naomi das Haus verkaufte, erfuhr sie, dass die Söhne sich an verschiedenen Orten verschuldet hatten und als sie all die Schulden bezahlt hatte, blieb kaum etwas übrig. So machten sie sich mit fast ebenso wenig Hab und Gut auf den Weg wie zehn Jahre zuvor. Als sie die Stadt verließen, bekam Naomi ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Schwiegertöchtern. Menschen aus Moab waren in ihrer Heimat nicht gut gediehen. Vielleicht würden beide Frauen nie einen guten Mann finden, wären dazu in einem fremden Land, mit einer alten Frau als einziger Verbindung zu ihrem bisherigen Leben. Das wollte sie ihnen unbedingt ersparen, darum sagte sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: „Geht zurück in eure Elternhäuser! Ich wünsche euch, dass ihr vielfach all das Gute zurück bekommt, was ihr mir und meinen Söhnen getan habt. Der Allmächtige schenke euch einen guten und anständigen Ehemann, der euch Sicherheit gibt und euch ein Leben lang gut versorgt.“
Beide klammerten sich weinend an Naomi und sagten: „Nein, wir wollen bei dir bleiben, dich in deine Heimat begleiten, das haben wir doch gesagt.“
Aber Naomi insistierte: „Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Ich kann euch nicht garantieren, dass ihr in Bethlehem gute Männer findet. Und ich kann keine neuen Söhne mehr zur Welt bringen. Und selbst wenn ich es könnte, wärt ihr wohl zu alt, wenn sie ins heiratsfähige Alter kämen. Ihr habt in meiner Heimat vermutlich keine Zukunft. Mich hat ein schlimmes Schicksal ereilt, aber ich habe kein Recht euch mit in den Abgrund zu ziehen. Ihr seid jung und gesund. Geht euren Weg. Findet euer Glück.“
Sie jammerten und weinten und klammerten sich noch fester an Naomi. Diese Schwiegermutter war immer freundlich, geduldig und wohlwollend mit ihnen gewesen. So eine würden sie aller Voraussicht nach nicht noch einmal finden. Orpa kannte viele Mütter junger Männer, die sie voller Missgunst und Verachtung betrachteten, weil sie sie um ihre Schönheit und Jugend beneideten und ihre Sinnlichkeit mit Willfährigkeit und Hang zur Untreue verwechselten. So etwas hatte sie von Naomi nie erdulden müssen. Trotzdem realisierte sie allmählich, dass die Wanderung nach Bethlehem das Ende ihres Glücks bedeuten könnte und das sie es kaum aus eigener Kraft schaffen würde, in ihre Heimat zurückzukehren, wenn der Versuch fehlschlug. Um wie viel mehr würde man sie bei ihrer Rückkehr argwöhnisch betrachten und als Schwiegertochter kategorisch ablehnen? Naomi hatte Recht. Ihre Zukunft lag in Moab, bei ihrer Familie, den Menschen und Sitten, die ihr vertraut waren. Und so gab sie ihr einen innigen Abschiedskuss und machte sich auf den Rückweg.
Ruth dagegen klammerte sich noch immer an Naomi. Sie hatte die eigene Mutter bereits als kleines Mädchen verloren, war immer von der Bereitschaft verschiedener Nachbarinnen abhängig gewesen, den Vater bei der Aufzucht seiner fünf kleinen Kinder zu unterstützen. Der Vater hatte keine neue Frau gefunden, denn er hatte nichts zu bieten als fünf hungrige Kinder, ein winziges, schäbiges Haus und das Risiko eines frühzeitigen Todes. Schon als kleines Mädchen hatte Ruth gelernt, durch gefälliges und überangepasstes Verhalten zu überleben. Wäre sie forsch oder gar übermütig aufgetreten, hätten die mürrischen, freiwilligen Helferinnen sie solange gedemütigt, bis nur noch ein Häufchen Elend von ihr übrig geblieben wäre. So hatte sie wenigstens hin und wieder ein Lächeln oder ein freundliches Wort ergattern können.
Naomi sah Ruth in die tränenverhangenen Augen und sagte bestimmt: „Guck mal, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; jetzt geh auch zurück zu deinen Leuten, die für dich da sein werden.“
„Schick mich nicht weg!“, schluchzte Ruth. „Ich will dahin gehen und da bleiben wo du hingehst. Ich habe kein Volk und auch keinen Gott, der sich um mich gekümmert hätte, bevor ich dich kennengelernt habe. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Ich gehe jetzt mit dir und bleibe bei dir bis zu deinem Tod. Und wenn ich einmal sterbe, dann will ich neben dir begraben werden. Nur der Tod kann mich von dir trennen, sonst nichts, egal, was das Leben noch für uns bereit hält. Ich bleibe bei dir und ich halte zu dir.“
Naomi begann zu verstehen. Das war keine Höflichkeit, auch kein schlechtes Gewissen, das Ruth an ihrer Seite hielt. Als die junge Frau Machlon geheiratet hatte, hatte sie sich nicht nur für einen Mann entschieden, sondern für seine Familie, seine Kultur, seine Lebensweise. Offenbar gab es nichts und niemanden, was sie in ihrer Heimat hielt. Naomi wusste nicht, was die junge Frau Schlimmes erlebt hatte. Sie würde auch jetzt nicht danach fragen. Das könnte Ruth ihr noch rechtzeitig erzählen. Schließlich würden sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen. So setzten sie gemeinsam einen Fuß vor den anderen, Tag für Tag, Woche für Woche, bis sie in Bethlehem ankamen.
2. Teil
Nach einigen Wochen erreichten die beiden Frauen erschöpft das Städtchen Bethlehem. Hier herrschte wieder munteres Treiben, nichts war mehr zu spüren von der Agonie die vor einer Dekade geherrscht hatte und die weiblichen Neuankömmlinge zogen eine Reihe neugieriger Blicke auf sich.
Rebekka und Abigail, die gerade vom Einkauf auf dem Markt kamen musterten die beiden ausgiebig, bis Rebekka Abigail plötzlich am Ärmel zupfte: „Ist das eine nicht Naomi, die mit Elimelech und ihren zwei Söhnen vor zehn Jahren ausgewandert ist?“
„Tatsache!“, erwiderte Abigail. „Dass die sich noch hier her traut. Sind die nicht zu den Ungläubigen gegangen? Haben da wohl nicht ihr Glück gefunden.“
„Wie kommst du darauf?“
„Wie ich darauf komme? Siehst du ihre Männer irgendwo? Stattdessen schleppt sie hier so ein junges, fremdes Ding an. Ganz hübsch, die Kleine. Ist vermutlich aus einem moabitischen Bordell geflohen und hat sich an Naomi rangewanzt. Naomi war schon immer ein bisschen zu gutmütig und leichtgläubig.“
Die beiden Klatschtanten liefen von Haus zu Haus und verbreiteten die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Bald kam Naomis Nachbarin Rahel den beiden mit ihren Freundinnen entgegen und begrüßte sie herzlicher und wohlwollender, als die stadtbekannten Tratschen es getan hatten. „Naomi, liebe Nachbarin, wie schön, dich nach so vielen Jahren endlich wieder zu sehen! Wie ist es dir in der Ferne ergangen? Kommt mit in mein Haus. Bei Brot und Wein musst du uns alles erzählen!“
Naomi entgegnete: „Nennt mich nicht Naomi, der Name bedeutet schließlich die Freude und die Freude ist längst von mir genommen. Nennt mich stattdessen Mara; denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. Ich hatte einen Mann und zwei Söhne und dachte, ich hätte eine reiche und selige Zukunft vor mir, aber keiner ist mir geblieben, in der Fremde sind sie alle gestorben. Nur meine liebe Ruth ist hier, um mich in meiner Einsamkeit zu trösten. Sie ist Machlons Witwe, leider kinderlos, genau wie ihre Schwägerin. Wie könnt ihr mich also noch Naomi nennen, wo der Herr mich doch derartig gedemütigt hat?“
Die Einladung ihrer Nachbarin, nahm Naomi dankend an, erzählte ausführlich von ihrem Schicksal, fragte aber auch, wie es allen, die sie kannte in der Zwischenzeit ergangen war.
„Dein Haus habe ich in Ordnung gehalten.“, schloss Rahel schließlich ihren Bericht. „Auf dein Feld musst du noch ein paar Monde warten, das wird zur Zeit von Benajah bewirtschaftet. Bald beginnt überall die Gerstenernte, da könnt ihr euch sicher eine Zeitlang über Wasser halten. Und bis dahin findest du sicher einen, der dein Feld bestellt und euch im Gegenzug mit dem Nötigsten versorgt.“
Naomi und Ruth bedankten sich schließlich bei ihrer Gastgeberin, dann nahmen sie Naomis altes und Ruths neues Zuhause in Augenschein. Rahel hatte gute Arbeit geleistet, es roch kein bisschen muffig, war sauber und freundlich, sodass sie direkt einziehen konnten. Ruth tanzte fröhlich durch den Raum und begutachtete die Feuerstelle, den Essplatz und die Schlafebene. Sie ließ Licht durch die Luken und Naomi stand da, völlig überwältigt von den widerstreitenden Gefühlen in ihrem Inneren. Da wechselten sich Wiedersehensfreude mit wehmütigen Erinnerungen ab, das Gefühl der Geborgenheit mit dem des Scheiterns, der Eindruck von Reichtum mit dem schmerzlichen Bewusstsein der großen Verluste. Das geliebte Zuhause führte ihr auch vor Augen, was sie für den Rest ihres Lebens entbehren musste. Sie hatte es damals vorausgesehen, der Allmächtige würde sie bestrafen, weil sie das von ihm geschenkte Land in der schweren Zeit verschmäht und verlassen hatten. Nun war es genau so gekommen. Aber es half nichts, darüber zu jammern und sich zu beklagen. Ruth war für diesen Schritt nicht verantwortlich, sie verdiente eine Zukunft und Naomi betrachtete es als ihre Aufgabe, dafür Sorge zu tragen.
Es gab noch einen Verwandten aus der Linie des verstorbenen Elimelechs. Sein Name war Boas und er genoss großes Ansehen und galt als grundanständig. Naomi machte sich Gedanken, wie sie ihn am geschicktesten auf sich und ihre Schwiegertochter aufmerksam machen konnte, ohne aufdringlich zu erscheinen wie eine lästige Bettlerin.
Nachdem sie eine Nacht tief und fest geschlafen hatte, hatte sie eine Idee. Da war kein fester, klarer Plan in ihrem Kopf, nur ein Ansatz, ein Anfang, alles andere würde sich finden.
Als sie sich von ihrem Lager erhob, hatte Ruth bereits die letzten Körner aus ihrem Reiseproviant geröstet und Wasser gekocht für einen Kräuteraufguss. Es roch köstlich und heimelig. Die Schwiegertochter sagte: „Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen. Du hast doch erzählt, dass es bei euch das Recht der Besitzlosen ist, bei der Ernte aufzusammeln, was die Schnitter fallen lassen. So bekomme ich bis zum Abend bestimmt ein oder zwei Mahlzeiten für uns zusammen, dann sehen wir weiter.“
„Ja.“, antwortete Naomi. „Das ist eine gute Idee. Ich werde in der Zwischenzeit gucken, ob ich ein wenig Grünzeug für uns finde und vielleicht hat Rahel noch ein Stück Ziegenkäse für uns, dann haben wir heute Abend ein kleines Festmahl.“
Ruth machte sich auf den Weg, hielt Ausschau nach einem Feld, auf dem die Ernte begonnen hatte, bis sie von weitem eine Reihe von Arbeitern entdeckte. Sie trat an einen der Männer heran und fragte in der ihr nicht ganz fremden Sprache, ob es erlaubt sei, herabgefallene Ähren aufzulesen. Sie sei die Schwiegertochter der zurückgekehrten Naomi, der Frau Elimelechs und sie seien vorläufig ohne Einkünfte und ohne männlichen Schutz, weil sowohl Naomis Mann als auch ihre Söhne in der Fremde gestorben seien.
„Ja, natürlich.“, erwiderte der Gefragte und musterte mitleidig ihr von der Reise staubig und fadenscheinig gewordenes Gewand. Sie bedankte sich, und folgte den Schnittern auf Schritt und Tritt und sammelte Ähren in ihrem Überwurf.
Was sie nicht wissen konnte: der Zufall hatte sie auf das Feld eines Blutsverwandten ihres Schwiegervaters geführt, nämlich auf das Feld des Boas, über den Naomi am Vorabend schon ausführlich nachgedacht hatte. Um die Mittagszeit kam der Grundbesitzer vom Ortskern zum Feld hinaus, um nach dem rechten zu sehen. Er grüßte die Schnitter mit herzlichen Segenswünschen, die sie gleichermaßen erwiderten. Sie waren allesamt froh, bei Boas arbeiten zu dürfen – er zahlte großzügig und gerecht und behandelte sie anständig.
Boas Blick fiel auf die weibliche Gestalt, die sich unermüdlich nach den herabgefallenen Ähren bückte. Voller Anmut bewegte sie sich und sie sah irgendwie besonders aus, wie eine seltene Blume. Er fragte den Vorabeiter: „Wer ist denn dieses Mädchen auf dem Feld? Die habe ich hier ja noch nie gesehen.“
Der Knecht antwortete: „Es ist eine Moabiterin, die mit Naomi aus Moab gekommen ist. Ihre Schwiegertochter. Die Männer in der Familie sind wohl alle gestorben. Sie hat gefragt, ob sie Ähren lesen darf. Gleich heute Morgen war sie da und hat seitdem durchgearbeitet. Wenn du mich fragst, haben die beiden Frauen es wirklich dringend nötig.“
Boas ging langsam auf Ruth zu und sprach sie an: „Guten Tag, liebes Frau, hör mir zu: , Sammle so viele Ähren, wie du magst und geh nicht auf ein anderes Feld als dieses hier. Halte dich am besten in der Nähe der Mägde auf, damit du in Sicherheit bist und dich niemand belästigt. Hier in Bethlehem gibt es einige Kerle, die nicht einen Hauch von Respekt für junge Frauen aufbringen, sie könnten dir übel mitspielen. Mach einfach so weiter wie heute morgen, immer hinter den Schnittern bleiben. Meine Knechte werden dich nicht belästigen, da habe ich eine klare Ansage gemacht. Wenn du Durst hast, lass dir etwas zu Trinken geben.“
Überwältigt von der unverhofften Fürsorge fiel Ruth vor Boas auf die Knie. Und nicht nur seine Herzensgüte hatte Ruth beeindruckt. Er war ein stattlicher und schöner Mann, hoch gewachsen, schlank und gut gebaut, mit vollem Haar und feinen Zügen und dem sanftesten Blick, den sie je bei einem Mann bemerkt hatte. Sie fragte: Womit hab ich so große Freundlichkeit verdient, wo ich doch eine Fremde bin?“
Boas antwortete: „Man hat mir alles erzählt, was du für deine Schwiegermutter getan hast, dass du nach dem Tod deines Mannes an ihrer Seite geblieben bist; dass du deine vertraute Umgebung, Freunde und Familie verlassen hast, um in ein Land zu ziehen, das du vorher nicht kanntest. Ich wünsche dir, dass du dafür reichlich belohnt wirst vom Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um unter seinen Flügeln Zuflucht zu suchen.“
Ruth sagte: „Wie kann ich dir dafür danken, edler Herr? Ich hatte erwartet, fortgejagt zu werden und mich von Feld zu Feld zu schleichen, so lange es etwas zu sammeln gibt, immer auf der Hut vor missgünstigen und jähzornigen Menschen. Du bist auf mich zugekommen voller Freundlichkeit und hast mich getröstet, dabei bin ich doch nicht einmal wie eine deiner Mägde.“
Boas lächelte. Vielleicht war sie ein kleines bisschen zu devot. Da regte sich schon kurzweilig der Verdacht, dass sie eine berechnende und ausgezeichnete Schauspielerin sein könnte. Und wer wollte es ihr verdenken? Sie kämpfte verzweifelt um ihr Überleben, da war nahezu jedes Mittel recht. Aber wenn er in ihre klaren Augen sah, konnte er sich kaum vorstellen, dass da auch nur ein Hauch von Boshaftigkeit in ihr steckte. Sie war eine Heldin und außerdem wunderschön.
Wenig später, als die Knechte sich zu einer Essenspause sammelten, ging Boas erneut zu Ruth und lud sie ein: „Komm hierher und iss von unserem Brot und tauche deinen Bissen in den Essigtrank!“
Schüchtern setzte sie sich neben die Schnitter. Boas bot ihr geröstete Körner an, die waren köstlich und reichlich, sodass sie nicht einmal alles aufessen konnte.
Als Ruth ihre Pause beendete, um weiter zu sammeln, nahm Boas seine Knechte beiseite: „ Lasst sie auch zwischen den Garben lesen und belästigt sie nicht! Und ich wäre euch dankbar, wenn ihr es hinbekämt, unauffällig die eine oder andere fette Ähre aus den Garben herauszuziehen und liegen zu lassen, damit sie reichlich findet und sich das Sammeln für sie lohnt. Wir haben mehr als genug, wir müssen nicht knausrig sein.“
„Du könntest ihr doch einfach etwas schenken. Wofür so viel Aufwand?“
„Ich denke“, erwiderte Boas, „dafür wäre sie zu stolz und würde es nicht annehmen.“
Das sah der Vorarbeiter ein und Boas schärfte ihm ein: „Sieh zu, dass niemand von den Arbeitern sie angeht, wenn sie die prallen Ähren einsammelt. Manch einer ist ja übereifrig, wenn es darum geht, meinen Besitz zu schützen und zu mehren. Das weiß ich zu schätzen, aber in diesem Fall würde es mich zutiefst verärgern.“
„Ist angekommen.“, antwortete der Vorabeiter und teilte seine Schnitter wieder ein.
Ruth arbeitete bis zum Abend, solange wie die Erntearbeiten andauerten. Als sie damit fertig war, drosch sie die Ähren aus und fegte die Körner auf ein Tuch, um sie nach Hause zu tragen. Es war etwa ein Scheffel, ein großer Krug voller Gerste dabei herausgekommen.
Als sie damit nach Hause kam und Naomi die mehr als reichliche Ausbeute sah, dazu noch die Essensreste vom Mittagsimbiss, fragte sie ihre Schwiegertochter: „Aber Ruth, das ist ja unglaublich! Da hat es aber jemand mehr als gut mit dir gemeint. Wo hast du gearbeitet?“
Ruth erklärte: „Auf dem Feld dort unten, nicht weit von hier. Es gehört einem besonders freundlichen Mann, der seine Knechte und Mägde gut behandelt. Boas heißt er und stell dir vor, er hatte schon von mir gehört und von all den schlimmen Dingen, die uns passiert sind. Er war so verständnisvoll und höflich, so fürsorglich und umsichtig. Ich wusste gar nicht, dass es solche Männer außerhalb deiner Familie noch gibt.“
„Oh mein Gott, gesegnet sei Boas und gelobt sei Gott, der uns nicht im Stich gelassen hat, nicht uns beide, die wir noch leben, aber auch nicht unsere verstorbenen Männer, deren Linie nun vielleicht doch nicht endet!“
„Wie soll ich das denn verstehen?“, fragte Ruth mit einem Ausdruck von Verwirrung.
„Ja, das muss ich dir genauer erklären.“, antwortete Naomi. „Bei meinem Volk gibt es eine Sitte, die dir sicher nicht vertraut ist. Wenn ein Mann stirbt und hinterlässt keine Nachkommen, dann ist seine Linie zu Ende und sein Leben endgültig und für immer ausgelöscht, denn da sind keine Kinder und Kindeskinder, in denen er weiterleben wird. Wenn nun aber seine Witwe erneut heiratet und mit dem neuen Mann Kinder bekommt, so gelten ihre Kinder als die Nachkommen ihres verstorbenen Mannes. Was aber für dich noch viel wichtiger ist: Boas steht uns nahe; er gehört zu unsern Lösern. Er ist einer von denen die das Recht und die Pflicht haben, Elimelechs und Machlons Linie fortzusetzen. Meine natürlich auch. Er könnte dich heiraten und wir beide wären für den Rest unseres Lebens gut versorgt.“
Ruth erwiderte: „Ach jetzt verstehe ich auch, warum er sich so um mich gekümmert hat und darauf bestand, dass ich ausschließlich auf seinem Feld arbeite.“
„Ja, es ist gut, dass er dich der Obhut seiner Mägde anvertraut hat, damit dich niemand belästigt oder dir Schlimmeres antut.“
Und Ruth ging bis zum Ende der Gersten- und der Weizenernte täglich auf die Felder des Boas und sorgte für volle Vorratskammern in Naomis Haus.
3. Teil
Am Ende der Erntezeit kam ein wenig Ruhe in das Haus der beiden Frauen. Für Ruth gab es nichts mehr auf den Feldern zu tun und so konnte sie Naomi bei der Arbeit im Haus unterstützen. Es blieb ihnen viel Zeit für Gespräche, Träume zu spinnen und. Zukunftspläne zu schmieden. Ruth vermied dabei das Thema einer neuen Heirat, es wäre ihr wie ein Verrat an Naomi vorgekommen. Doch dann schnitt Naomi eines Tages das bis dahin gemiedene Thema an: „Ruth, es wird Zeit, dass wir einen neuen Mann für Dich finden.“
„Ach, das hat doch keine Eile.“, erwiderte die Schwiegertochter. „Das findet sich schon.“
„Wenn du wartest bis es sich findet, musst du am Ende den Rest deines Lebens einem Säufer und Faulpelz dienen, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hart arbeiten und doch alles entbehren, was das Leben angenehm macht.“
„Aber das mit Machlon hat sich doch damals auch einfach so ergeben.“
„Ja, aber wer garantiert dir, dass du beim zweiten Mal wieder so ein Glück hast? Ich will ehrlich sein: Ich denke dabei auch an meine Zukunft. Nur wenn Du einen anständigen Mann findest, dazu einen, der auch als Löser infrage kommt, ist auch meine Zukunft gesichert.“
„Oh, das habe ich nicht bedacht.“, sagte Ruth voller Verlegenheit. „Entschuldige bitte. Aber was soll ich tun?“
„Ich werden dir helfen, den richtigen Mann zu finden“, erklärte Naomi, „einen, bei dem du endlich entspannt in die Zukunft sehen kannst, bei dem du es gut hast. Ich habe mir etwas überlegt. Boas, unser Verwandter, bei dem du auf dem Feld gearbeitet hast, worfelt diese Nacht Gerste auf der Tenne.“
„Worfelt?“, fragte Ruth.
„Ja, er wirft das gedroschene Getreide mit einer Schaufel in die Luft. Dann trägt der Wind die Spreu fort und übrig bleiben die Körner.“
„Und wo tut er das?“
„Auf der Tenne, das ist der Dreschplatz, draußen vor der Stadt.“
„Ach so.“, sagte Ruth. „Aber warum erzählst du mir das?“
„Weil du da hingehen sollst. Nimm zuerst ein Bad, zieh ein schönes Kleid an und geh herunter zur Tenne. Versteck dich irgendwo, bis Boas gegessen und getrunken hat. Wenn er sich dann schlafen legt, schleiche dich zu ihm. Nimm die Decke an seinen Füßen hoch und leg dich dort unten hin. Danach ist er am Zug. Er wird dir sagen, was du tun sollst und ich bin sicher, alles wird sich so fügen, wie wir es wollen.“
Ruth antwortete: „Wenn du das so sagst, dann werde ich alles tun, was du mir aufträgst. Welches Kleid soll ich anziehen, was meinst du?“
„Das Rote.“, schlug Naomi vor. „Das hattest du schon an, als Machlon sich in dich verliebt hat.“
Ruth erhitzte Wasser auf der Feuerstelle, machte einen Sud aus frischen Kräutern und wusch ihren Körper gründlich damit ab. Von Rahel, der Nachbarin, hatte Naomi etwas Rosenöl besorgt, damit cremte die junge Frau sich ein, so dass sie frisch und sinnlich duftete. Die Schwiegermutter kämmte ihr das Haar und als die Dämmerung hereinbrach, legte Ruth das rote Kleid an, das ihr so gut stand und ihre aparte, feminine Silhouette umschmeichelte. Dann ging sie mit pochendem Herzen zur Tenne.
Boas hatte den ganzen Tag hart gearbeitet, nun war er müde und erschöpft, aber auch sehr zufrieden, mit dem, was er geschafft hatte. Er würde am Morgen weiterarbeiten, aber für heute war es genug. Er packte Brot, Oliven und Käse aus, ein paar frische Datteln und einen kleinen Krug Wein. Das war das schönste am Sommer, wenn das Korn in so prallen, satten Haufen da lag und einem ein Gefühl von Sicherheit gab. Er erinnerte sich an die schlimme Hungersnot in seiner frühen Jugend, damals wäre sein kleiner Bruder fast gestorben, der Vater war gereizt gewesen, die Mutter vollkommen entkräftet. Das lag nun lange zurück. Er war wohlhabend und besaß reichlich Vorräte. Voller Dankbarkeit breitete er sein Abendessen aus und blinzelte schmausend in den Sonnenuntergang. Als er satt und ein kleines bisschen beschwipst war, wurde seine Laune noch besser und er sang sich selbst ein paar fröhliche Lieder vor. Dann wurden die Augenlider immer schwerer und er bereitete sein Nachtlager hinter einem Kornhaufen.
Ruth lauerte hinter einem alten Baum. Als Boas schon eine ganze Weile da lag, schlich sie sich behutsam immer näher an ihn heran, bis sie seinen Atem hören konnte. Die Züge waren tief und gleichmäßig, er schlief offensichtlich. Vorsichtig hob sie die Decke über seinen Füßen hoch und rollte sich neben ihm wie eine Katze zusammen.
Gegen Mitternacht wachte Boas plötzlich auf, bemerkte, dass da etwas war, das vor dem Einschlafen noch nicht da gewesen war und erschrak heftig, als er bemerkte, dass da eine Frau zu seinen Füßen lag. Er befürchtete eine Lilith, ein weiblicher Dämon, die vorzugsweise allein schlafende Männer aufsucht, habe sich seiner bemächtigt. Beherzt fragte er: „Wer bist du?“
Sie antwortete: „Ich bin Ruth, deine Magd. Breite den Saum deines Gewandes über deine Magd, denn du bist der Löser.“
Sofort erinnerte er sich und atmete auf vor Erleichterung. „Ach du bist es Ruth, aus Moab, Naomis Schwiegertochter. Sei gesegnet!“, sagte er. „So einen Liebesbeweis habe ich noch nie erfahren, dazu von dir, einer großen Schönheit, die wirklich jeden haben könnte und dabei doch den Männern gegenüber so zurückhaltend ist. Keiner hätte es dir übel genommen, wenn du längst dem Sohn eines vermögenden, angesehenen Mannes schöne Augen gemacht hättest, aber du hast immer nur gearbeitet und dich um deine Schwiegermutter gekümmert. Und jetzt lieferst du dich mir derartig aus. Ich muss schon sagen, ich bin wirklich verblüfft.“
„Ich liefere mich aus?“, fragte Ruth. „Was willst du damit sagen?“
„Nun ja, wir zwei sind allein hier. Es könnte viel passieren. Gleichzeitig steht zu befürchten, dass neugierige Augen gesehen haben, wie du am Abend hier hergekommen und nicht bald wieder zurück gegangen bist. Das könnte Gerede geben.“
„Oh“
„Keine Angst. Weder werde ich diesen Moment schamlos ausnutzen, noch werde ich es versäumen, dafür zu sorgen, dass dein Ruf nicht beschädigt wird. Im Gegenteil: Ich werde dein Löser sein und dich zur Frau nehmen. Alle in der Stadt wissen, was für eine tugendhafte Frau du bist. Warum sollte ich an dir zweifeln?
Leider gibt es noch ein Problem. Ich bin zwar als Löser geeignet, aber es gibt jemanden, der näher verwandt mit Naomi ist als ich, und der ist auch unverheiratet und möglicherweise äußerst interessiert an dir. Ich muss es klug anstellen, dass er von diesem Vorhaben ablässt. Am besten wird es sein, du bleibst heute Nacht bei mir. Ich werde ihm davon erzählen. Dann hat er vielleicht Sorge, dass er sich nicht auf dich verlassen kann. Ich bin sicher, so wie ich ihn kenne, dass er darum auf dich verzichten wird und dann steht unserer Verbindung nichts mehr im Wege. Schlaf jetzt, wir haben noch eine Menge vor.“
Dieser Mann strahlte eine solche Sicherheit aus und hatte so etwas unglaublich Beruhigendes an sich und weil der ganze Tag und der Abend bis tief in die Nacht so wahnsinnig aufregend gewesen waren, schlief Ruth tatsächlich bald an Boas Seite ein und wachte erst in der Morgendämmerung wieder auf. Es war noch nicht richtig hell, als sie aufstand. Boas sah sie an und dachte: Wenn nur niemand erfährt, dass eine Frau auf die Tenne gekommen ist. Die Tratschen werden es überall herumerzählen und sich schnell zusammenreimen, dass es nur Ruth gewesen sein kann. Ich gebe ihr einen Grund für den Gang zum Dreschplatz. Und er sagte zu ihr: „Nimm das Tuch, das du umhast, und halt es auf.“
Sie tat, wie er ihr sagte und er füllte sechs Maß Gerste hinein und half ihr das schwere Paket auf die Schultern zu heben. Dann ging er zurück in die Stadt.
Ruth kehrte um zu ihrer Schwiegermutter.
„Wie steht's mit dir, meine Tochter?“, fragte Naomi zur Begrüßung.
Ruth erzählte haarklein, was sich in den letzten zwölf Stunden zugetragen hatte. Sie schloss mit den Worten: „Zum Abschied hat er mir diesen Haufen Gerste mitgegeben und gesagt, du sollst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter kommen. - Dann bin ich nach Hause gegangen.“
Naomi lächelte weise und sagte: „Warte nun ab, mein Täubchen, bis du erfährst, was er im Schilde führt, denn der Mann wird nicht ruhen, bis er sein Ziel erreicht hat.“
4. Teil
Am Morgen setzte Boas sich direkt an das Stadttor, an den Platz, an dem die Ältesten sich oft zum Rat versammelten und wo jeder vorbei kam, der etwas zu erledigen hatte. Hier würde Menachem, der nähere Verwandte Naomis sicher vorbei kommen. Boas kannte ihn gut. Er war ein weniger als mittelmäßig anziehender Mann, der stets auf seinen Vorteil bedacht war. Sicher witterte er die Chance auf einen Gewinn an neuer Ackerfläche und darüber hinaus die Zweitehe mit einer wunderschönen, jungen Frau, der er nichts bieten musste, als einen Platz in seinem Haus. Doch Boas hatte längst einen Plan geschmiedet, um ihn auszutricksen.
Genau wie Boas vermutet hatte, tauchte Menachem schon bald im Stadttor auf. Boas sprach ihn an: „Guten Morgen, Großvetter, komm, setz dich zu mir und lass uns ein bisschen plaudern.“
Menachem blickte seinen entfernten Verwandten argwöhnisch an. Sonst ging er oft an ihm vorbei, als habe er ihn nicht bemerkt, was führte er im Schilde, dass er plötzlich so einladend daherredete? Er hatte kein Lust, sich von dem glattzüngigen Boas an der Nase herumführen zu lassen. Am Ende wollte er ihm nur Geld aus der Tasche ziehen oder noch schlimmer, ihm wertvolles Land abluchsen.
„Ach, lass mich.“, winkte er darum ab. „Ich habe viel vor heute, Plaudereien sind etwas für alte Männer. Und du? Hast du nicht noch auf der Tenne zu tun?“
„Ja, sicher.“, erwiderte Boas. „Aber die Tenne kann ein paar Augenblicke warten, denn ich habe wichtiges mit dir zu besprechen: es geht um dich!“
„Um mich?“ Nun war Menachem doch neugierig geworden und setze sich dort hin.
„Wie geht es dir?“ fragte Boas, .
„Danke der Nachfrage.“, erwiderte Menachem. „Ich bin gesund, wenn ich auch viel Arbeit habe. Worum geht es denn nun?“
Doch Boas antwortete noch nicht auf seine Frage. Stattdessen rief er: „Ezechiel, Amos, Hananja, kommt, setzt euch zu uns, wir brauchen euren Rat!“
Die drei gehörten zu den Ältesten der Stadt, Männer mit Weisheit, Würde und hohem Ansehen. Und Boas rückte nicht eher mit der Sprache heraus, als bis er zehn Zeugen für sein Gespräch versammelt hatte. Das war eine alte Sitte, um ein Geschäft rechtskräftig zu machen.
Menachem hatte längst gewittert, dass es hier um ein Geschäft ging und war hochkonzentriert und äußerst auf der Hut.
Boas wandte sich nun erneut an Menachem: „Naomi, die aus Moab zurückgekehrt ist, will den Acker, den sie von ihrem Mann Elimelech geerbt hat, verkaufen. Du bist der erste in der Rangfolge der Löser und ich frage dich ob du das Land übernehmen willst? Falls du das tun willst, dann schlag hier vor den Ältesten ein, die die Abmachung bezeugen können. Wenn du aber kein Interesse daran hast, dann sag es jetzt, denn dann bin ich der nächste und nach mir keiner mehr, dann würde ich es übernehmen.“
Da musste Menachem nicht lange nachdenken. Der Preis wäre sicher günstig, denn Naomi war in Not und ein besseres Geschäft konnte er nicht machen, also antwortete er „Ich will's lösen. Vorausgesetzt der Preis ist angemessen.“
Boas erklärte daraufhin: „An dem Tage, an dem du von Naomi das Feld kaufst, musst du auch Ruth, die Moabiterin, die Frau des verstorbenen Machlon, nehmen, um die Linie Elimelechs und Machlons fortzusetzen.“
Nun überkamen Menachem Zweifel. Ihm wurde plötzlich bewusst, was das bedeutete: Das Land, das er mit viel Schweiß und Einsatz viele Jahre bearbeiten würde, fiele automatisch in die Hände des ersten Sohnes, den die Moabiterin Ruth ihm gebären würde. Dieser Sohn gälte dann noch nicht einmal als sein Nachkomme, sondern als der des verstorbenen Machlon. Seine eigenen Kinder hätten rein gar nichts von dem Erbe. Er würde nur eine Witwe aus der Fremde versorgen, von der er noch nicht einmal wusste, ob er ihr über den Weg trauen konnte. Und wer konnte schon wissen, wie viele Bastarde sie in die Welt setzte, die ihm die Haare vom Kopf fraßen, ohne seinen Namen fortzuführen? Nein, das war kein gutes Geschäft. Er wollte sich keinesfalls ausnutzen lassen.
Er antwortete: „Wenn ich es mir recht überlege, wäre ich mit dem Land überfordert. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste und meine zwei Söhne sind zwar fleißig aber auch gut beschäftigt mit dem, was wir haben. Am Ende hätte ich nur Scherereien mit den Nachkommen Machlons, die dann meinen Söhnen ihr Erbteil streitig machen würden. Dazu fehlen mir die Nerven. Vielleicht ist es besser, wenn du dich dieser Aufgabe annimmst. Du bist noch jung und kräftig und hast noch keine Kinder, um die du dich sorgen musst.“
Ein uralter Brauch in Israel bestand darin, ein Geschäft zu besiegeln, indem man einen Schuh auszog und ihn dem Verhandlungspartner reichte. Also zog Menachem seinen Schuh aus und gab ihn Boas. Nur schnell raus aus der Nummer, dachte er, bevor der liebestolle Kerl wieder zu Verstand kommt und es sich anders überlegt.
Boas wandte sich an die Anwesenden: „Ihr seid heute Zeugen, dass ich von Naomi alles gekauft habe, was Elimelech, und alles, was Kiljon und Machlon gehört hat. Außerdem verspreche ich hiermit, Ruth, die Moabiterin, die Frau Machlons, zur Frau zu nehmen, dass ich den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil erhalte und sein Name nicht ausgerottet werde.“
Und alle Anwesenden bezeugten, dass sie das soeben Gesagte gehört hatten. Sie sprachen Segensworte für Ruth und Boas und verglichen beide mit großen und ehrwürdigen Männern und Frauen aus dem Kreis ihrer Ahnen.
Als alles beschlossen war, machte Boas sich auf den Weg zu Naomis Haus und bat um ein Gespräch.
„Wenn es euch recht ist“, begann er, „würde ich mich gern als Löser anbieten, Naomis Land kaufen, Ruth zur Frau nehmen und die Linie Elimelechs und Machlons fortsetzen.“
Naomi schlug vor Freude die Hände zusammen und rief: „Was für ein größeres Glück könnte uns begegnen?“
„Und wie ist es mit dir Ruth?“, fragte Boas schüchtern. „Willst du mich heiraten?“
Strahlend gab Ruth ihr Jawort und wenig später feierten sie eine fröhliche Hochzeit mit vielen Gästen, gutem Essen und lebensfroher Musik.
Schon bald darauf wurde Ruth schwanger und brachte einen Sohn zur Welt. Naomis Freundinnen gratulierten der Großmutter und sagten: „Gelobt sei Gott, der dich nicht im Stich gelassen und dir einen so großartigen Löser geschenkt hat. Nun hast du einen Enkelsohn, er dich im Alter versorgen wird, denn bei einer so wunderbaren Schwiegertochter wie deiner Ruth, kannst du dich darauf bestimmt verlassen. Diese Frau ist mehr wert als sieben Söhne!“
Naomi nahm den kleinen Jungen auf ihren Schoß und für einen Augenblick fühlte es sich so an, als sei er ihr eigenes Kind. Von Anfang an war es klar, dass sie sich um ihn kümmern würde, ihm beim Aufwachsen nicht nur zusehen, sondern ihn begleiten, trösten und lieben würde. Da gaben die Nachbarinnen dem Kind den Namen Obed, was so viel heißt wie „Diener“ oder „Verehrer“.
Als Obed erwachsen wurde, bekam er einen Sohn namens Isai. Der wiederum war der Vater Davids, des größten Königs Israels, des Stammvaters des Jesus von Nazareth.
Der Name des anderen Verwandten geriet in Vergessenheit.
Die Urgroßmutter des großen Davids war eine Nichtjüdin, eine Einwanderin, eine ursprünglich „Ungläubige“, eine, die eigentlich nicht dazu gehörte. Und sie war das beste, was Machlon, Naomi und Boas passieren konnte.
ENDE
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