Mittwoch, 14. August 2024
Augenblick
Leute gucken macht Laune. Hinter jeder Figur eine eigene Geschichte, ein Leben. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden einen Roman zu einem Wimmelbild verfassen, das Schicksal jedes Bauarbeiters, jeder mit Einkäufen bepackten Großmutter, jedes Ranzen tragenden Schulkindes, jeder dynamischen Fahrradfahrerin, jedes Pizzabäckers, jeder Eisverkäuferin.

Was ist schief gelaufen im Leben der verwirrten Bettlerin, der ich eben etwas von meinem Geld abgegeben habe, die kaum sprechen kann? Ist das eine Masche oder eine Krankheit? So oder so, selbst wenn es eine Masche sein sollte, trägt sie sicher an einem schweren Los, während ich meinen XL-Cappuccio genieße, im schattigen Korbsessel. Konnte ich mir früher auch nicht leisten.

Wespen lassen einen Passanten bizarre Tänze aufführen; zumindest vermute ich das. Vielleicht leider er auch an einer haptischen Störung. So wie er gerade an den Mülltonnen hantiert und randaliert, neigt er offenkundig zu ungewöhnlichem Verhalten. Was tat er als Kind? Was tat man mit ihm?

Und die Übergewichtige im maritimen Ringelkleid? Wünscht sie sich bei der Hitze ihre überflüssigen Kilos zum Mond? Oder ist sie hochzufrieden mit ihrer Fülle? Vielleicht wäre sie nicht mehr sie selbst mit sechzig Kilogramm, hätte das Gefühl zu verschwinden, leicht vom Wind umgeweht zu werden, sich aufzulösen.

All die jungen Frauen in äußerst knappen Shorts, von Streichholzbeinen bis zu stämmigen Schenkeln ist alles dabei. Wie fühlt sich so eine superschlanke Barbie? Überlegen oder ausgeliefert? Zufrieden oder zwanghaft und hungrig?

Und das ultrakurze, knallgrüne Kleid auf zwei knackebraunen Beinen, mit passenden Ohrringen, frischer Blondfrisur und altersmüdem Gesicht? Lässt sie es noch einmal krachen, nachdem die letzte Beziehung in die Brüche gegangen ist oder ist es einfach Gewohnheit, im blitzsauberen und sehr sexy Look durch Innenstädte zu flanieren? Wer weiß das schon?

Der Capuccio ist alle und ich will noch die abgeranzte Neustadt aufsuchen, White Peonie kaufen, meinen liebsten weißen Tee. Und ein ausgefallenes Abendessen für die Familie. Also vamos, andiamo, on va...bis zum nächsten Kaffeepäusschen.

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Freitag, 9. August 2024
Bin ich gut genug?
Wie viele Follower haben Sie auf Instagram? Wie viele Leser:innen auf blogger.de? Haben Sie überflüssige Fettpölsterchen abtrainiert? Die Schlupflider liften lassen? Haben Sie Demenzprävention betrieben durch Alkoholverzicht, das Lernen einer neuen Sprache, regelmäßigen Ausdauersport und gesunde Ernährung? Wie stehen ihre Chancen auf dem Paarungsmarkt? Ist Ihr Auto halbwegs klimaneutral, wenn Sie denn noch eines brauchen? Kaufen sie Ihre Kleidung und Lebensmittel aus fairem Handel?

Sie können sich noch so anstrengen. Sie werden niemals perfekt sein, niemals makellos. Also rauf aufs Sofa, Netflixserien bingewatchen, Chips und Biermix kübeln und Onlineshopping soviel das Konto hergibt? Ist ja eh alles sinnlos?

Lesen Sie mal diesen Text:
https://www.bibleserver.com/NG%C3%9C/Galater2%2C16-21
Gerecht bedeutet in diesem Zusammenhang vermutlich so etwas wie untadelig, frei von Schuld, in Ordnung.
Wenn Menschen eine Kultur entwickeln, schaffen sie Regeln für ihr Zusammenleben, damit es funktioniert, damit niemand übervorteilt wird, damit es so etwas wie Sicherheit gibt.
Religionen vermischen den pragmatischen Nutzen von Gesetzen mit höheren Sinnfragen. Es wird behauptet, die Gesetze kämen von Gott oder den Göttern selbst, sie seien sein oder ihr Wille und er oder sie würden Übertretungen höchstpersönlich bestrafen.

Das christliche Gottesbild hob sich davon ab. Der Mensch ist nicht liebenswert, weil er untadelig ist, weil er sich an die vereinbarten Regeln hält – er ist untadelig, weil er ein Mensch ist, der sich und sein Leben bewusst unter Gottes Schutz stellt. Er muss nicht hunderte akribischer Regeln befolgen und jeglichen Fehler vermeiden, er muss lediglich mit gutem Willen, Wertschätzung und Respekt gegenüber anderen Menschen und der Natur durchs Leben gehen und mit dem Vertrauen darauf, dass auch er ein Recht auf Liebe und Wertschätzung hat.

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Samstag, 29. Juni 2024
Sich ruhig mal ein paar Schwachheiten erlauben
„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“, so lautete die Jahreslosung 2012 und dieser Vers stammt in überarbeiteter Formulierung aus dem sonntäglichen Predigtext für den 30.06.2024:
https://www.bibleserver.com/NG%C3%9C/2.Korinther12%2C1-10

Wie ist das zu verstehen? Gerade wenn ich schwach bin, bin ich stark? Das klingt wenig plausibel.
Es wird vermutet, dass Paulus, der den Korintherbrief verfasste, an Epilepsie litt. Das ist auch in der heutigen Zeit mit einigen Schwierigkeiten verbunden, war in der Antike aber sicher erheblich schlimmer, schließlich gab es keine Medikamente, keinen Schutz vor Selbstverletzung und vor allem kein ausgebildetes Personal, das angemessen auf Anfälle reagieren konnte.
Warum meinte dieser Mann, ausgerechnet sein Leiden mache ihn stark?

Ich weiß es nicht, aber ich vermute, es ist ihm aufgefallen, dass gerade seine Unperfektheit, seine gelegentliche Hilfsbedürftigkeit ihn menschlicher machte, zugänglicher für andere, die Hilfe oder Rat suchten. Jemand der selbst hin und wieder versagt, reagiert nicht so gnadenlos auf die Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen. Und wer selbst das Leiden kennt, kann sich besser einfühlen.
Manchmal ist es auch so, dass man, nachdem man eine schwere Zeit überstanden hat, viel mehr positive Energie in sich hat als vorher, mehr Kraft, Mut, Zuversicht, Phantasie und Motivation.
Und wenn man will, kann man das als Gnade Gottes begreifen.

Wenn man das nicht will, ist trotzdem etwas dran an dem Phänomen, auch ohne Gott.

Genießen sie den Sonntag, sammeln Sie Kräfte! 😉

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