Samstag, 16. April 2022
Karfreitagabend - Epilog
Manchen blieb nur noch wenig Zeit. Die Apostelgeschichte berichtet vom baldigen Tod des Jakobus, Bruder des Johannes, der von einem Soldaten des Herodes mit dem Schwert hingerichtet wurde. Ich frage mich, wie seine Eltern die Geschichte mit Jesus im Rückblick bewertet haben.
Von Simon Petrus heißt es, er sei in Rom kopfüber gekreuzigt worden, dafür gibt es aber keine biblischen Quellen und sein römisches Bischofsamt, auf das das Papsttum zurückgeht, gehört sehr wahrscheinlich auch ins Reich der Verherrlichungs-Märchen.
An die Stelle des Judas Iskarioth wurde ein Mann namens Matthias in den Kreis der Apostel berufen, um das Dutzend wieder voll zu machen.
Paulus kam erst später dazu. Der Zeltmacher aus Tarsus, der zunächst mit Feuereifer und gnadenloser Brutalität Christen verfolgen und als Feinde des wahren Glaubens hinrichten ließ, erlebte laut Apostelgeschichte eine tiefe Läuterung und kämpfte danach genauso verbissen für die andere Seite. Immerhin zog er danach nicht mehr mordend durch die Lande.

Die Bibel erzählt von der leiblichen Auferstehung Jesu. Viele Christ*innen glauben das auch heute noch so. Manche nicht so ganz. Was unbestreitbar ist, ist die Tatsache, dass das Leben der Hinterbliebenen nicht nur einfach so weiter ging, sondern dass sie sich erfolgreich ans Werk machten, eine weltweite Bewegung ins Leben zu rufen, eine Bewegung, die Jahrtausende überdauerte, nicht immer ruhmreich, anfällig für Störungen und schwere Fehlleitungen, aber eine Essenz, die die Welt verändert, die Menschheit positiv nach vorne gebracht hat. Sie haben den Schmerz überlebt und wieder Kraft bekommen. Weil sie an etwas geglaubt haben. Weil sie mit sich im Lot waren. Weil sie eine starke Gemeinschaft hatten. Und weil sie sich nicht selbst überhöht haben.

Es war Maria Magdalena, die den Auferstandenen zum ersten Mal zu Gesicht bekam und in seinem Auftrag die wunderbare Neuigkeit weitererzählte. Man glaubte ihr nicht, wieder eine von diesen durchgeknallten Weibern, deren Hormonschwankungen ihnen einen Streich spielen. Sie war ja vor der Begegnung mit Jesus vermutlich keine geachtete Dame der Gesellschaft gewesen, eher eine eigenartige Frau mittlerem Alters und von zweifelhaftem Ruf. Das von ihr verfasste Evangelium fand keine Aufnahme in den Kanon der Bibel. Ihre besondere Beziehung zu Jesus wurde von den Männern ihrer Zeit weitestgehend unter den Teppich gekehrt. Immerhin berichten alle vier Evangelisten übereinstimmend davon, dass sie die Erste oder zumindest in der Gruppe der ersten war.

Von Susanna erzählen Legenden, dass sie mit Maria Magdalena auf einem Boot die Provence erreichte.

Wer die ganze Geschichte noch einmal bequem lesen möchte. gibt's auch als E-book: Karfreitagabend von Cristina Fabry

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Achtzehnte Stunde
Maria Magdalena hatte das Haus des Zebedäus verlassen und war in ihre einfache Hütte zurückgekehrt. Das Haus, das ihr einmal gehört hatte, war längst verkauft, all ihre Habe hatte sie der Sache des Meisters geopfert und nur eine winzige Wohnung behalten, denn auch wenn die Gemeinschaft ihr gut getan hatte, war ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nie ganz verschwunden. Schließlich war sie ja eine unverheiratete Frau in den mittleren Jahren, sie hatte sich schon als junges Mädchen geschworen, niemals in die Falle der Ehe zu tappen und sich in die Sklaverei männlicher Willkür zu begeben. Über die gestandenen Mütter, die sie teils mit Argwohn, teils mit Mitleid betrachtet hatten, hatte sie nur immer müde lächeln können. Natürlich war es bequemer, einen Mann für die schweren Arbeiten und zum Schutz vor Übergriffen zu haben, aber nicht einmal die Hälfte der Ehemänner kam dieser Aufgabe in hinreichendem Maße nach. Und so hatten ihre Frauen einen Stall voller quengelnder Kinder mit hungrigen Mäulern und ein großes Kind dazu, vor dem sie sich am Ende auch noch in Acht nehmen mussten. Sie hatte es bei ihrer eigenen Mutter erlebt und sich geschworen, dass sie diese Bürde niemals auf sich nehmen würde. Sie hatte es geschafft, als Geschäftsfrau, die sich für die schweren Arbeiten Dienstleister kaufen konnte und als selbstbewusste Schönheit, die sich die Männer heimlich nahm, die ihr gefielen, wenn ihr der Sinn danach stand. Dadurch hatte natürlich ihr Ruf gelitten, sie war oft angegriffen worden und hatte mit der Zeit viele seelische Leiden entwickelt. Die Angst vor dem Alleinsein, die sie immer wieder zu bezwingen gesucht hatte, indem sie unverheiratete junge Männer bei sich übernachten ließ. Manchmal auch verheiratete, aber das machte die Sache ja am Ende schlimmer, weil die Ehefrauen sie hassten und mit dem Finger auf sie zeigten. Das machte sie reizbar, aufbrausend, angriffslustig und wenn ihr glühender Zorn verraucht war, sank sie regelmäßig in sich zusammen wie ein Häuflein Asche und blieb manchmal tagelang auf ihrem Lager und rührte sich nicht, bis die Geschäfte sie zwangen, wieder aufzustehen oder zumindest der Durst. So viele Nächte hatte sie wach gelegen und einfach nicht schlafen können, ohne zu wissen warum. Die Gedanken waren durch ihren vor Schmerzen pochenden Kopf gerast, ohne Ziel oder Zusammenhang. Morgens hatte sie sich dann gefühlt, wie ein ausgewrungener Wischlappen und so hatte sie wohl auch ausgesehen, denn die Männer auf der Straße hatten sich angewidert abgewandt und die Frauen hatten sie verspottet. Mit den Jahren hatte sich auch ein regelmäßig bohrender Schmerz unterhalb des Herzens eingestellt, der mal stach, mal brannte und den nur die weisen Kräuterfrauen zu lindern wussten.
Am schlimmsten aber war die Angst, die mehr war als nur Furcht, eine Todesangst, die aus ihrem Inneren kam, aus den tiefsten und unbekannten Abgründen, eine Gefahr, vor der es kein Entkommen gab und die niemand wahrnahm außer ihr selbst. "Meine sieben Dämonen", hatte sie all diese Leiden genannt und an dem Tag, an dem sie Jesus kennengelernt hatte, waren die ständigen Begleiter auf einen Schlag verschwunden. Wie hatte er das nur geschafft?

Sie war ja vorher auch kein zerbrechliches Ding gewesen, das Leben hatte sie abgehärtet. Ihre Gedanken gingen auf die Reise, in ihre Kindheit in Magdala, an den Ufern des Sees Genezareth.
"Maria, wach auf, ich muss auf den Markt und frisches Getreide kaufen. In der Zwischenzeit kannst du schon einmal Wasser holen und Feuer machen. Der Vater ist aus dem Haus gegangen, je mehr wir schaffen, bis er zurückkommt, umso besser."
Elias lag natürlich unangefochten in Morpheus Armen, für das Prinzlein gab es nichts zu tun und die Kleinen wurden besser erst später wach, denn wenn sie erst anfingen vor Hunger und Langeweile zu quengeln und Maria und die Mutter ständig aufpassen mussten, dass sie dem nichtsnutzigen, jähzornigen Vater nicht in die Quere kamen, war das Leben dreimal so anstrengend wie jetzt und jetzt war es eigentlich schon zu viel.
Maria stand auf, warf sich eine graue, teilweise zerrissene Tunika über und bedeckte die schlimmsten Stellen mit einem fadenscheinigen Tuch. Sie nahm den Tragestock mit den Wasserkrügen und machte sich auf den Weg zum See.
Viele Frauen waren bereits in den Straßen unterwegs, auch etliche Kinder. Die Männer waren überwiegend entweder draußen beim Fischen oder lagen faul in ihren Betten. Marias Vater hatte wohl ausnahmsweise eine Arbeit als Tagelöhner bekommen, man wusste aber nie, wann er zurückkam, denn meistens war er lange vor Ende eines Arbeitstages wieder zu Hause, weil man ihn zu fast nichts gebrauchen konnte.
An der Schöpfstelle herrschte bereits großer Andrang, überall in den Häusern gingen die Frauen Wasser holen oder schickten ihre Kinder. Auf einer nahe gelegenen Mauer lungerten einige Tagelöhner herum, die für diesen Tag nichts gefunden hatten. Einer von ihnen starrte Maria beharrlich an und sie gab sich Mühe, so zu tun, als bemerke sie es nicht. Als sie an der Reihe war und sich über das Wasser beugte, um zu schöpfen, war er blitzschnell bei ihr. ?Komm Mädchen, ich helfe dir.?, sagte er mit unangenehm bebender Stimme und war auf einmal überall um sie herum. Er roch unangenehm, nach schlechtem Atem, altem Schweiß und getrocknetem Urin. Maria wagte nicht, ihn zurückzuweisen, als er ihr das Holz auf die Schultern legte, nachdem er die vollen Wasserkrüge befestigt hatte und diesen Moment nutzte, um mit seinen groben Händen, nach ihren sprießenden Brüsten zu grapschen.
?Ist da schon was??, rief ein anderer, schmutziger Kerl von der Mauer und der Grapscher lachte dreckig. Maria verließ fluchtartig die Wasserstelle, das höhnische Männergelächter noch immer in den Ohren, auch als sie längst außer Hörweite waren. Vor lauter Aufregung stolperte sie über einen Stein, schlug lang hin und einer der Krüge zerbrach. Der andere war nur noch halb voll. So musste sie noch einmal zur Wasserstelle zurückkehren, voller Sorge, dass die widerlichen Kerle wieder auf sie aufmerksam wurden, aber sie hatte Glück, sie hatten sich einer anderen Tätigkeit zugewandt und bemerkten sie nicht. Der Andrang war auch abgeklungen, sodass sie schnell den noch unversehrten Krug füllen und heil nach Hause bringen konnte.
Die Mutter empfing sie mit Schimpftiraden, warum sie so getrödelt habe, dann bemerkte sie den zerbrochenen Krug. Der Vater war mittlerweile zurückgekehrt und schlug ihr mit der flachen Hand direkt ins Gesicht. ?Für so einen Krug muss ich einen Tag lang arbeiten!?, brüllte er und das war schlimm, denn wie so oft hatte die Arbeit für ihn heute wieder nur für eine Stunde gereicht.
Die Tage der heranwachsenden Maria aus Magdala glichen wie ein Ei dem anderen: viel Arbeit, wenig Schlaf, Schläge, Erniedrigungen und immer musste sie auf der Hut sein, um ihre Unschuld und ihr Leben zu schützen.

Sie wurde allmählich stärker und wehrhafter, aber oft sah sie sich so enden wie ihre Mutter und eines Tages fasste sie den Entschluss, an einen Ort zu gehen, an dem es mehr Möglichkeiten gab, und so zog sie fort nach Jerusalem, wo sie sich eine Existenz aufbaute.
Die Angst, das auf der Hut sein Müssen, der Druck und die viele Arbeit, das ließ nicht nach, trotz der endlich erreichten Unabhängigkeit. Die Zeiten waren schlimm für Frauen und oft beschlich sie das Gefühl, dass es kein Entkommen gab, dass die Bedrohung, die Gewalt, die Selbstverständlichkeit, mit der Männer über sie verfügten, einfach nicht aufhören wollte.

Bei Jesus konnte sie sich zum ersten Mal entspannen. Sie entdeckte die heilsame Kraft der Nächstenliebe, der einfachen Arbeit und des meditativen Gebets. Sie verliebte sich in Jesus, hielt es aber aus, dass sie ihn nicht für sich allein haben konnte und fand ihren inneren Frieden.
Ihr Leben war endlich gut geworden, drei wunderbare Jahre hindurch. Doch jetzt war Jesus
gestorben und sie war außer sich vor Trauer und hatte dieses Gefühl bisher nur durch Aktionismus bewältigen können.
Die unheimliche Stille und Dunkelheit der Nacht ließen sie die entsetzliche Leere spüren, die sich seit der neunten Stunde in ihr ausbreitete. Sie war unendlich erschöpft und brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf, aber ihr Herz wollte sich nicht beruhigen, der Meister war fort für immer und es gab nichts, was sie hätte tun können, um dieses Unglück rückgängig zu machen oder wenigstens abzumildern.
Sie träumte von ihm, dachte an die vielen besonders vertrauten Momente, die Nähe, seine herzlichen Umarmungen und wie sich sein junger, drahtiger Körper angefühlt hatte. Wie sollte sie es ertragen, wenn sie ihn übermorgen wusch und salbte, der schlaffe, kalte Körper aus dem die Totenstarre sich bereits wieder gelöst haben würde, der seltsam wächsern oder anderweitig verfärbt aussehen würde und womöglich bereits den Geruch der Zersetzung verbreitete. Und wie wunderbar frisch und gesund Jesus gerochen hatte, selbst wenn sich mehrere Tage keine Gelegenheit zum Waschen geboten hatte. Sie hätte lieber den lebenden Jesus mit kostbarem Duftöl eingerieben, hätte die straffen Muskeln unter der glatten Haut sanft geknetet, seinen Atem gespürt und zugesehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten, ohne ihre Lebendigkeit zu verlieren.
Sie liebte ihn so sehr, nicht etwa, weil er so ein atemberaubend schöner Mann gewesen war, das war er nämlich gar nicht, eigentlich hatte er ziemlich durchschnittlich ausgesehen, wie die meisten Männer seines Alters, die in dieser Gegend aufgewachsen waren. Es waren seine Worte, sein Benehmen, die Aufmerksamkeit und Behutsamkeit, mit der er ihr immer wieder begegnet war. Gesehen werden, Wertschätzung und Liebe erfahren, bedingungslos und ohne Einschränkung, das war eine gänzlich neue Erfahrung für sie gewesen. Aber auch all die klugen Gedanken, die neuen Ideen, die sie sich auch wegen ihrer bestechenden Einfachheit sofort zu Eigen gemacht hatte. "Und wenn ich mich einfach weigere anzuerkennen, dass Jesus tot ist?", dachte sie. "Und wenn ich einfach so weiterlebe, als sei er auf eine große Reise gegangen und hätte mir zum Abschied Anweisungen erteilt, sein Werk bis zu seiner Rückkehr weiterzuführen, sodass gelingt, was er geplant und angefangen hat? Wenn ich einfach alles tue, um seine Liebe weiterzugeben? Wenn ich jederzeit und überall so handele, wie er gehandelt hätte? Dann ist er für immer bei mir, bleibt ein Teil von mir und bleibt auch ein Teil dieser Welt, zumindest so lange ich lebe. Und wenn ich es schaffe, meinen Jesus an Jüngere weiterzugeben, so gut, dass sie es auch schaffen, dann, ja dann wird er ewig leben. Und plötzlich breitete sich ein unbestimmtes Gefühl der Zuversicht in ihr aus, Wärme durchströmte ihren erschöpften Körper und mit dem Gefühl, Jesus nun wieder ganz nah bei sich zu haben, schlief sie ein.


Maria, die Mutter Jesu, lag ebenfalls noch wach, während ihre Kinder ruhig atmeten und den Schlaf der Gerechten schliefen.
Was konnte jetzt noch kommen? Was hatte sie noch vom Leben zu erwarten? Sie hatte bis hierher ein schönes Leben gehabt, aufregend, voller Höhen und Tiefen, voller Schicksalsschläge und glücklicher Wendungen, doch jetzt war es wohl vorbei, denn Jesus, der Grund ihres Daseins, der Mensch, den zu gebären und zu beschützen sie bestimmt war, war tot. Nun war es Zeit ihm zu folgen. Sie träumte sich zurück in die Zeit ihrer ersten Erinnerungen überhaupt, als das Leben noch voller Verheißungen gewesen war, die Zukunft wie eine verschlossene Schriftrolle voll von Segnungen und Abenteuern.

"Maria, komm ins Haus und hilf deiner Schwester beim Teig machen."
Die erschöpfte Stimme der Mutter riss Maria aus ihrer Welt. Sie hatte besondere Hölzchen gefunden, entrindete Olivenzweige. Wenn sie die nass machte, trat die bizarre Maserung deutlich hervor, ein beinahe goldgelber Grundton, durchzogen von tiefstem Braun und Schwarz. Man konnte daraus ein Tischchen bauen oder sich vorstellen, dass jedes Stöckchen eine Seele hatte, eine eigene Geschichte, Erinnerungen; und dass es an einem geheimen Ort wohnte, ganz in der Nähe, aber im Verborgenen.
Als Annas Stimme sie an die Wirklichkeit erinnerte, hatte sie sofort ein schlechtes Gewissen. Es gab so viel Arbeit und sie saß hier, spielte und träumte. Sie lief ins Haus und hatte schon vergessen, worin ihr Auftrag bestand.
"Was willst du?", zischte die ältere Schwester, die gerade Öl in die Mehlmulde goss.
"Ich soll dir beim Teigmachen helfen.", antwortete Maria zaghaft.
"Wie willst du mir dabei helfen?", fauchte die Schwester. "Geh Wasser holen! Dabei kannst du wenigstens nichts verkehrt machen. Aber beeil dich!"
Maria gehorchte. Der Brunnen war ganz nah. Sie nahm einen kleinen Krug, den sie auch im gefüllten Zustand mit ihren sechs Jahren schon tragen konnte. Als sie zurückkam, hatte die Schwester das Mehl schon mit Öl und Salz vermischt, eine neue Mulde gemacht und etwas Sauerteig eingefüllt. Ungeduldig nahm sie Maria den Krug ab und goss Wasser in die Mulde. Dann begann sie zu kneten.
?Schieb du mal das Mehl immer zurück auf den Haufen.?, sagte sie, ?dann geht es etwas schneller.?
Vorsichtig wischte Maria das Mehl vom Rand der Tischplatte in die Mitte.
?Nicht so zaghaft!?, schimpfte die Schwester. Wir müssen fertig werden.?
Nun ging sie zügiger zu Werke und die Schwester rief: ?Sachte, sachte, so schnell komme ich nun auch nicht hinterher. Das musst du doch merken!?
Maria hielt inne. Sie beobachtete das Muskelspiel in den Händen der Schwester. Kraftvoll gruben sich die langen, schmalen Finger in den noch klumpigen, ungleichmäßigen Teig. Fasziniert betrachtete sie das helle Mehl auf der glatten, braunen Haut, die geschmeidigen Bewegungen, die sich allmählich verändernde Konsistenz des ungebackenen Brotes.
"Träum nicht!", rief die Schwester. Das war wohl der Satz, den Maria in ihrer Kindheit am häufigsten gehört hatte. Dabei war Träumen so wichtig. Nur, wer sich eine Vorstellung von dem machte, worauf er hoffte, konnte ein Ziel ansteuern, eine Richtung einschlagen, Entscheidungen treffen und den eigene Weg gehen. Tief drinnen war sie bis heute das träumende Kind geblieben. Es war eine schwierige Kindheit, einsam und dunkel, es sei denn, die Verwandtschaft war zu Gast. Wenn Elisabeth zu Besuch kam, feierte das Leben Chanukka, egal zu welcher Jahreszeit. Alles war hell und fröhlich und jeder Tag mit der erwachsenen Cousine war ein Geschenk.
Elisabeth war verheiratet, aber damals noch kinderlos und darüber sehr unglücklich. Darum hatte sie viel Zeit und große Lust, sich um Kinder zu kümmern, auch um die fünfzehn Jahre jüngere Maria. Noch spannender wurden ihre Besuche, als aus dem kleinen Mädchen allmählich eine Frau wurde. Elisabeth hatte auf jede dringenden Frage eine zufriedenstellende Antwort: was es mit den Blutungen auf sich hatte, woher die Traurigkeit kam und wie die Liebe sich anfühlte. Manchmal unternahmen sie eine Wanderung auf den Hügel, um sich ungestört unterhalten zu können.
"Gibt es schon einen Verehrer?", hatte Elisabeth einmal gefragt, aber das war noch nie das gewesen, was Maria am meisten im Kopf herumging.

Eines Tages - die ältere Schwester war schon aus dem Haus und erwartete ihr zweites Kind - fragte Anna: "Wie kommt es nur, dass bis jetzt keiner um deine Hand anhalten will? Du bist jung, gesund, ehrbar, aus gutem Haus, wohlgestaltet und fleißig. Womit verschreckst du die Männer, dass keiner was von dir wissen will? Du müsstest längst verlobt sein. Wer soll dich versorgen, wenn ich einmal nicht mehr auf der Welt bin?"
"Ha Shem wird für mich sorgen.", antwortete Maria.
"Bei so viel Gottvertrauen wird der Herr dich nicht im Stich lassen.", seufzte die Mutter. "Wir müssen Geduld haben."

Und dann war es geschehen. Eines Tages hatte Josef vor der Tür gestanden, der Zimmermann. Er war da, um das Dach zu richten. Das dauerte ein paar Tage und Maria hatte ihn versorgt, mit Wasser, Brot, Oliven, etwas Lammfleisch und frischen Feigen. Manchmal hatten sie geredet. "Josef", hatte Maria gefragt, "was glaubst du, warum sind wir auf der Welt?"
Jeder junge Mann in der Stadt hätte laut aufgelacht und irgendetwas geantwortet wie: "Überlass solche Fragen dem Rabbi, Mädchen!" oder "Ich bin auf der Welt, du bist auf der Welt, was gibt es da noch zu fragen?"
Josef war anders. Er war auch nicht mehr ganz so jung. Er sagte erst einmal gar nichts, kaute ein Stück Brot, nahm einen Schluck Wasser. Schließlich antwortete er: "Ich glaube, dass jeder von uns etwas tun muss, um Gottes Garten zu bebauen und zu bewahren."
Was musst du tun?", fragte Maria.
"Ich weiß es nicht. Das musst du selbst herausfinden. Auch mal still sein und einfach nur hören."
"Das tue ich täglich.", antwortete Maria.
"Dann wirst du es sicher bald erfahren."

Als das Dach gerichtet war, fasste der ernsthafte und zurückhaltende Handwerker einen Entschluss. "Maria", sagte er, ?wie würde es dir gefallen, wenn ich deine Mutter bäte, dich zur Frau nehmen zu dürfen?"
"Das weiß ich gar nicht.", antwortete Maria verwundert. Josef wäre eher ein Mann für ihre Cousine Elisabeth gewesen, aber die war schon mit Zacharias verheiratet. Andererseits konnte sie mit Josef scheinbar über alles reden. Er war fromm, gutmütig, fleißig und in der Lage, eine Familie zu versorgen. "Nimm mich in deine Arme", sagte Maria, "damit ich spüre, ob es Liebe ist."
Josef war erstaunt, aber auch gerührt von der herzerwärmenden Offenheit dieser jungen Frau, von der zu befürchten stand, dass sie ohne einen starken Beschützer unterging. Und so umarmte er sie, hielt sie lange fest, sog den Duft ihrer Haare ein, und Maria spürte das süße Sehnen, das sich von oben bis unten durch ihren Körper zog, genauso, wie Elisabeth es beschrieben hatte.
"Ja, Josef", sagte sie schließlich. "Geh zu meiner Mutter. Sie wird überglücklich sein. Und ich auch."
In der Stadt sprach man über das seltsame Paar, aber Anna war zufrieden, Maria war gut versorgt. Doch Maria wusste nicht, was sie davon halten sollte. War sie dafür auf der Welt? Einfach, damit Josef seine Linie fortsetzen konnte?

Sie hatte die halbe Nacht wachgelegen, todmüde war sie und dennoch unruhig und aufgewühlt. Der Vorhang zu ihrer Schlafkammer wurde beiseitegeschoben. Da stand ein Mann in einem hellen Gewand. Der Mond schien durch das kleine, geöffnete Fenster und verlieh dem hellen Kleid eine geradezu himmlische Strahlkraft. Sie erschrak und richtete sich auf. Was wollte der Fremde? Er lächelte sie freundlich an und sagte: "Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!"
Nun erschrak Maria erst recht. Was hatte er vor? Meinte er, es sei eine Gnade, dass er sie in der Nacht besuchen kam? Elisabeth hatte sie vor solchen Männern gewarnt, die Freundlichkeit vortäuschten, Frauen in eine Falle lockten und ihnen Gewalt antaten. Der Fremde schien ihre Gedanken lesen zu können.
"Du musst keine Angst haben, Maria. Gott beschenkt dich mit seiner Gnade und ich bin der, der dich darauf vorbereiten soll. Gabriel bin ich, ein Bote des Herrn. Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Jesus soll er heißen, er wird der neue König des Hauses Israel sein und sein Reich wird ewig bleiben."
In Marias Kopf rasten die Gedanken.
"Wie soll ich ein Kind bekommen?", fragte sie verwirrt. "Ich habe ja nicht einmal einen Mann."
"Dieser Sohn kommt von keinem Mann. Gott selbst wird ihn zeugen mit seinem Heiligen Geist. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Deine Cousine Elisabeth ist bereits im sechsten Monat schwanger, obwohl die weisen Frauen sie bereits aufgegeben hatten, sie ist doch schon so alt. Und du wirst nun von Gottes Geist erfüllt. Und ich bin sein Bote."
Gabriel bewegte sich sanft lächelnd auf Maria zu. In seinen Augen spiegelte sich der Mondschein. Er strich ihr übers Haar, flüsterte ihr unverständliche Worte ins Ohr, plötzlich waren seine Hände überall, genauso wie seine Lippen, ihr ganzer Körper brannte, als stehe sie in Flammen und sie spürte, wie die Flamme des Herrn sie umgab und gleichzeitig in ihr loderte, sie war eins mit Gott, schaute den Himmel und blieb doch auf der Erde.
Zum Abschied hielt Gabriel sie an den Händen und blickte ihr tief in die Augen. Endlich wusste sie, wofür sie geboren war. Sie würde den größten König des Gottesvolkes zur Welt bringen und sie behielt ihren Platz für die Ewigkeit. Voller Dankbarkeit sagte sie: "Meine Seele ist außer sich vor Freude. Ich bin die Magd des Herrn und alles soll so geschehen, wie du es gesagt hast."
Gabriel drückte ein letztes Mal ihre Hände und verschwand.

Nach wenigen Tagen bemerkte Maria, wie sich ihr Körper veränderte. Sie bat ihre Mutter, Elisabeth besuchen zu dürfen, sie habe einen Traum gehabt.
"Nun", sagte Anna, "ich muss mich sowieso daran gewöhnen, dass du mein Haus verlässt. Richte Elisabeth meine Grüße aus."
Sie hatte sich auf den Weg gemacht, sich mit Elisabeth über deren lang ersehnte Schwangerschaft gefreut, Ratschläge erteilt, die sie hier und da aufgeschnappt hatte und schließlich von ihrer Begegnung mit dem Engel berichtet.
Elisabeth riss die Augen auf: "Du wirst es nicht glauben, aber in dem Moment, als du davon berichtet hast, hat das Kind in meinem Bauch vor Freude gehüpft. Die zwei werden im gleichen Jahr geboren, zusammen aufwachsen, zusammen spielen. Sie werden womöglich genauso gute Freunde wie wir."
Diese Vorstellung gefiel Maria, ahnte sie damals noch nicht, dass alles ganz anders kommen sollte.
Voller Freude kehrte sie nach Hause zurück und überbrachte die Neuigkeiten. Doch hier freute sich niemand. "Wer soll das glauben?", fragte ihre Mutter. "Noch nie ist einer Frau von Gott selbst ein Kind eingepflanzt worden, warum sollte dies ausgerechnet bei dir geschehen? Bist du eine Priesterin? Du bist eine gewöhnliche, kleine Nazarenerin. Die Leute werden dich steinigen, wenn sie davon erfahren. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen mit Josef reden. Er muss sich zu dem Kind bekennen."
Josef sagte gar nichts. Er hörte nur zu und ging irgendwann.
"Er wird dich verlassen.", sagte Anna. "Er will nicht für das Kind eines Fremden und seiner untugendhaften Verlobten sorgen."

Aber Josef hatte sie nicht verlassen. Er hatte es vorgehabt, das hatte er später zugegeben. Doch wilde Träume und gründliches Nachdenken hatten ihn am Ende überzeugt, dass der Glaube an einen allmächtigen Schöpfer auch die Möglichkeit eines jungfräulich empfangenen Gottessohnes beinhaltete. In den alten Schriften wurde er angekündigt; und wer, wenn nicht die tugendhafte und tiefsinnige Maria sollte für diese Aufgabe bestimmt sein? Warum sie auf der Welt seien, hatte sie gefragt. Nun wusste sie es. Und Josef wusste nun, warum er auf der Welt war. Um Jesus großzuziehen und zu beschützen und um für Maria da zu sein, die Mutter des Gottessohnes. Und sollte sie doch auf einen spitzfindigen Betrüger hereingefallen sein, der sich als Engel ausgab und sich so folgenlose Freuden für seine Lenden erschlich, so würde er trotzdem bei ihr bleiben, denn sie war eine gute Frau, eine die seinen Schutz brauchte und er liebte sie.

In der Stadt sickerte trotzdem einiges durch, denn die Wände der Häuser von Nazareth die dicht beieinander standen, waren dünn und die Fenster und Türen waren nie ganz verschlossen. Die Schande, die heimliche Verachtung blieben Maria nicht erspart. Josef wurde dagegen gelobt und schlimmstenfalls mitleidig belächelt.

Johannes, der Sohn ihrer Cousine Elisabeth, war schon fast ein halbes Jahr alt, da kam die Aufforderung zur Volkszählung, Josef musste nach Bethlehem, an seinen Geburtsort reisen und Maria musste ihn als seine Ehefrau begleiten. Alles war so vorherbestimmt gewesen, damit sich die Schrift erfüllte, das war ihr später klar geworden. Aber auf der Reise und erst recht bei der erfolglosen Suche nach einer Unterkunft hatte sie große Angst um das Kind gehabt, und zum ersten Mal hatte sie ein Zweifel beschlichen, ob sie nicht das Opfer eines Betruges oder einer Sinnestäuschung geworden war, ob da vielleicht gar kein großer Held in ihrem Bauch heranwuchs, sondern ein gewöhnliches Menschenkind, dem das Geschenk des Lebens verwehrt wurde.
Aber dann hatte sich alles gefügt, der warme Stall, die freigiebigen Hirten, die sich kümmerten und später sogar die weisen, reichen Männer, die extra von weit her angereist waren, nur um ihren Jesus kennenzulernen, zu begrüßen und zu beschenken. Schon damals hatte der mächtigste Mann im Land ihm nach dem Leben getrachtet, aber Gott hatte dieses Kind mehrfach beschützt und so waren sie den Auftragsmördern entkommen und rechtzeitig nach Ägypten geflohen.

Die Jahre in der Fremde waren nicht leicht gewesen. Von dem geschenkten Gold mieteten sie eine winzige Unterkunft, für den täglichen Lebensunterhalt schlug Josef sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lernte ein wenig von der fremden Sprache, während Maria sich in aller Zurückgezogenheit um ihr Kind kümmerte, Essen zubereitete, Wäsche wusch und das Haus sauer hielt. Nur, wenn sie auf dem Markt einkaufte, unter den argwöhnischen Blicken der einheimischen Frauen, dankbar, dass sie die schlüpfrigen Bemerkungen mancher gieriger Lüstlinge nicht dem Wortlaut nach verstand, nur dann hatte sie Kontakt zu anderen Menschen. Nach und nach lernte sie die Namen der verschiedenen Lebensmittel und die Zahlen, damit sie die Preise verstand. Und das wichtigste Wort lernte sie: Shokran ? Danke.
Immer wieder erfuhr sie auch Freundlichkeit und helfende Hände, aber es blieb das Gefühl der Fremdheit, die Sehnsucht nach der Heimat und die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis ihres Volkes, das Wissen um die Jahre der Sklaverei in Ägypten und die spektakuläre Flucht zurück nach Kanaan. Sie war dankbar für den Schutz, den diese Umgebung bot, aber sie fühlte, dass sie nicht dorthin gehörte.

Nach etwa drei Jahren war es Josef, der sagte, er habe nun so viele Nächte hintereinander von Nazareth geträumt und man höre sogar, dass König Herodes verstorben sei. Darum sei es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Und so waren sie heimgekehrt mit ihrem Kleinkind, waren zunächst bei Marias Mutter geblieben, weil sich in Josefs Haus eine arme Familie eingerichtet hatte, denen sie Zeit geben wollten, sich eine neue Unterkunft zu suchen. Kaum waren sie wieder ganz zu Hause angekommen, wurde Maria erneut schwanger.
Mit der Geburt des Jakobus war Jesus immer ungezogener geworden, oft scheinbar grundlos wütend und manchmal sorgte Maria sich um seinen kleinen Bruder. Schon bald kam Joses hinterher und wenn Maria gehofft hatte, Jesus gewöhne sich allmählich daran, so hatte sie sich geirrt. Er wurde immer aufbrausender, unwilliger und war kaum zu bändigen. Maria gab ihr Bestes, aber sie konnte nicht erkennen, wie tief erschüttert und voller Angst ihr Erstgeborener war, der als Dreijähriger aus seiner gewohnten Umgebung gerissen worden war. Als er sich gerade an die neuen Menschen im neuen Zuhause gewöhnt hatte, die ihn alle liebevoll umsorgt und vergöttert hatten, hatte schon wieder ein Wechsel stattgefunden, und dann war da plötzlich ein neuer Sonnenschein und er sollte sich auf einmal zurücknehmen, leise sein, beiseitetreten und geduldig warten. Als er gerade Hoffnung geschöpft hatte, dass es nun bald wieder besser würde, war das nächste Prinzlein hinterher gekommen.
Doch als Miriam zur Welt kam, hatte er versöhnlicher reagiert. Vielleicht, weil er in einem Mädchen weniger Konkurrenz witterte, vielleicht auch, weil er allmählich in einem Alter war, in dem er mehr verstehen und von sich selbst absehen konnte.
Mit den ersten beiden Brüdern blieb es aber schwieriger. Alles, was sie anfassten, nahm er ihnen aus der Hand, alles wusste er besser, nichts konnten sie gut genug machen. Und wie abfällig er über Frauen sprach. Er liebte seine Großmutter, seine Mutter und seine Schwester, denen konnte keine das Wasser reichen. Im Übrigen hielt er die Weiber jedoch für schwach, dumm, wehleidig und unansehnlich; sie sollten sich lieber im Verborgenen aufhalten. Sollte aus diesem Jungen einmal ein großer Erlöser werden? Maria hielt daran fest. Josef dagegen hatte seine Zweifel, ließ ihn in der Werkstatt lernen und nahm ihn besonders hart ran, um ihm seine Seltsamkeiten auszutreiben.
Auf die Geburten von Judas und Simon hatte er immerhin gelassener reagiert, aber je älter er wurde, umso mehr entwickelte er sich zu einem arroganten Naseweis. Den Gipfel seiner Anmaßung hatten sie beim Pessach in Jerusalem erlebt, als er sich als erst Zwölfjähriger vor dem Heimweg einfach in den Tempel abgesetzt hatte, um mit den Schriftgelehrten zu diskutieren. Zum ersten Mal hatte sie ihm gegenüber ungehalten die Stimme erhoben, weil sie sich so große Sorgen um ihn gemacht hatte und er mit seinem Alleingang die ganze Sippe in helle Aufregung versetzt hatte. Und wie frech er geantwortet hatte: ?Wisst ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss??
Maria war sprachlos gewesen, aber auch beeindruckt. Er hatte so erwachsen gewirkt, und die weisen Männer waren ganz hingerissen von seiner Klugheit. Ein bisschen stolz war sie damals gewesen, aber auch ein bisschen befremdet. Mit jedem Jahr, das er älter wurde, entglitt ihr Sohn ihr und sie konnte nichts dagegen tun.
In der Ausbildung zum Zimmermann, die nun zügig Fahrt aufnahm, tat Jesus sich schwer. Er geriet oft mit seinem Vater aneinander, stellte sich nicht sonderlich geschickt an, wollte sich aber auch nichts sagen lassen. Ermahnungen machten ihn ungeduldig, oft lief er einfach weg, um dann weit draußen vor der Stadt im Schatten eines Baumes stundenlang nachzudenken.
?Er ist zu klug fürs Handwerk.?, sagte Maria.
?Wer klug ist, lernt eins.?, hatte Josef erwidert. ?Denn wer nicht arbeiten kann, hat auch nichts zu Essen.?
Jesus nutzte jede sich bietende Gelegenheit, die Synagoge aufzusuchen, und auf dem Heimweg schimpfte er wie ein Rohrspatz über die starrsinnigen Schriftgelehrten. Doch obwohl Maria und Josef das Gefühl hatten, bei der Erziehung ihres Ältesten zu versagen, war er überall gern gesehen und schien sich außerhalb der Familie angemessen zu verhalten.

Er war schon ein junger Erwachsener, als die Familie sich um Josefs Sterbebett versammelte und es war Jesus, der seinem Vater beim letzten Atemzug die Hand auflegte und ihn segnete. Die drei Ältesten führten den Handwerksbetrieb gemeinsam weiter, bis Jesus schließlich feststellte, dass Jakobus und Joses mit Abstand bessere Zimmerleute waren als er und es hatte ihn ja auch nie wirklich begeistert, mit den Händen zu bauen. So war er auf eine lange Reise gegangen, um zu suchen, zu lernen und die Wahrheit zu finden. Viele Jahre des Wartens und Bangens waren das für Maria gewesen. Sie schlief schlecht, hatte Alpträume, denn sie hatte keine Ahnung, wo er steckte und wann sie ihn zurückerwarten durfte,
Und dann, nach vielen Jahren, stand er plötzlich vor der Tür. Schmal war er geworden und erste Fältchen durchzogen das Gesicht eines nun fast dreißigjährigen Mannes. Doch der ständige Zorn schien verraucht. Er blickte sie aus warmen, sanften Augen an und seinen Mund umspielte der Hauch eines zärtlichen Lächelns. Er verbrachte viel Zeit mit der Familie, erzählte nur wenig, stellte stattdessen viele interessierte Fragen und hörte aufmerksam zu. Geduldig war er geworden und er sprach plötzlich mit solcher Wertschätzung vom Handwerk seines Vaters und seiner Brüder, dass es Maria die Tränen der Rührung in die Augen trieb. Doch das Glück hatte sich als trügerisch erwiesen und nur von kurzer Dauer. Verpflichtungen gegenüber der Familie wies Jesus entschieden von sich, er war kein Sohn, der sich um seine verwitwete Mutter sorgte. Das überließ er seinen Brüdern.
Jesus ging wieder auf Reisen, allerdings blieb er von dieser Zeit an in Galiläa, sodass Maria ihren Sohn regelmäßig treffen konnte. Aber er verhielt sich nie wie ein Sohn, sondern stets wie ein entfernter Verwandter.

Wie groß war Marias Angst gewesen, als Johannes, der Sohn ihrer Cousine Elisabeth, von Herodes Antipas hingerichtet wurde, nur weil er offen darüber geredet hatte, was er für falsch und was er für richtig hielt. Sie litt mit Elisabeth und sie schrie zu Gott, dass er ihrem Sohn dieses Schicksal ersparen möge. Er hatte sich vierzig Tage in die Wüste zurückgezogen, was sie überhaupt nicht verstehen konnte. Was hatte er da nur gesucht? Und ob er es am Ende gefunden hatte?
Auf jeden Fall hatte er seine Verachtung gegenüber der Weiblichkeit abgelegt. Nach und nach schloss er immer mehr Freundschaften mit Frauen. Er heiratete nicht, schien noch nicht einmal eine Geliebte zu haben. Stattdessen redete er mit den Frauen, fragte sie nach ihrer Meinung, hörte ihnen zu, schätzte und ehrte sie und zeigte ihnen das auch. Für seine Mutter hatte er allerdings kaum noch Zeit. Wenn Maria es wagte, seine Unterstützung im Alltag einzufordern, wies er sie jedes Mal freundlich, aber entschieden zurück. Selbst wenn sie protestierte oder weinte, blieb er unerbittlich. Er wahrte ihr gegenüber eine unangemessene, geradezu verletzende Distanz, die sie aber schließlich erduldete, weil sie sich noch immer als Magd des Herrn sah und in Jesus den verheißenen Retter, dem zu dienen sie auf die Welt gekommen war.
Wie gut es doch war, dass sie die anderen Kinder hatte, die so lebenstüchtig waren, so voller Familiensinn. Jesus kam so selten zu Besuch, ohne seine Geschwister wäre Maria verloren gewesen. Maria schämte sich, dass sie die sieben anderen in ihrer Trauer vollends ausgeblendet hatte. Außerdem hatte Jesus sie unmittelbar vor seinem Tod beauftragt, auch dem Johannes eine Mutter zu sein. Seltsam, dachte sie, der hatte doch noch Mutter und Vater. Was hatte Jesus sich nur dabei gedacht? Sie würde es nie erfahren.

Es war nicht richtig, wenn Kinder vor ihren Eltern starben, aber es geschah immer wieder. Und würden alle Eltern, die ein Kind verlieren, ihr Leben wegwerfen, so würden viel mehr traurige und verlassene Kinder in dieser Welt zurückbleiben, als ohnehin schon. Sie musste noch ein bisschen hier bleiben. Sie entschied, sich den Augenblick von Jesu Sterben nicht länger vor Augen zu führen. Sie wollte lieber an den guten, fürsorglichen, lebendigen Menschen denken, der er für so viele gewesen war. Sie wollte ihn niemals vergessen und tun, was er getan hätte: für andere sorgen.

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Donnerstag, 14. April 2022
Karfreitagabend - Siebzehnte Stunde
Thomas goss seinen Becher erneut randvoll mit dem guten Wein, der noch vom Vorabend übrig war.
Philippus ergriff seinen Arm. "Trink nicht so viel, Thomas. Das tut dir nicht gut."
"Lass mich in Ruhe!", fuhr Thomas ihn an. "Ich will mich betrinken, dann kann ich vielleicht für ein paar Stunden vergessen in welcher verzweifelten Lage wir uns befinden. Danach sehe ich weiter."
"Danach siehst du erst mal gar nichts.", wandte Nathanael ein. "Im Weinrausch macht man leicht Fehler. Das können wir uns im Augenblick nicht leisten."
"Du redest so, als hättest du einen Plan.", erwiderte Thomas. "Aber wie soll es jetzt weitergehen? Das weiß doch keiner von uns."
"Geht es überhaupt weiter?", lautete Nathanaels Gegenfrage.
"Vielleicht.", meinte Philippus. "Falls sie uns nicht erwischen. Allerdings frage ich mich, wo wir vor der Verfolgung durch den Hohen Rat und die Römer am sichersten sind."
"Gute Frage.", sagte Thomas. "Der Zeltmacher aus Tarsus trommelt schon seine Truppen zusammen. Er will uns jagen. Und wen er erwischt, will er hinrichten lassen. Er ist jüdischer als jeder Israelit und will alle ausmerzen, die nicht dem wahren Glauben folgen."
"Auch die Römer?", fragte Nathanael.
"Nein.", erwiderte Thomas. "Die natürlich nicht. Mit den Mächtigen legt er sich nicht an. Dafür ist er zu feige ? oder zu schlau. Ich glaube, er ist so einer, der am liebsten auf der Gewinnerseite steht. Auf jeden Fall hat man ihn hier in der Gegend häufiger gesehen. Vielleicht sollten wir irgendwo hin ziehen, wo man uns am wenigsten erwartet, wo wir auch unseren Lebensunterhalt mit Fischerei verdienen können und so tun, als wären wir irgendeine Sippe, die von zu Hause weggezogen ist, weil das Haus abgebrannt ist oder weil es zu viel Streit gab."
"Aber welchen Sinn hat unser Dasein denn noch, wenn wir uns irgendwo verkriechen und gar nichts tun als fischen, essen und warten?", fragte Nathanael.
"Jesus hat ja mal gesagt, er sei der Weg.", gab Thomas zur Antwort. "Nur jetzt ist er tot. Sollen wir auch den Weg eines Toten gehen, uns verhaften, verhören und kreuzigen lassen? Über den Weg zum Vater sagte er einmal, dass er die Stätte für uns bereitet und wenn alles bereit sei, dürften wir nachkommen. Vielleicht wartet er schon auf uns."
"Ob wir wirklich alle dort ankommen werden?", zweifelte Philippus. "Ich habe nie zu dem erlesenen Kreis gehört, der vom Meister in alle Geheimnisse eingeweiht wurde, obwohl ich doch genauso aus Betsaida stamme wie Simon und Andreas."
"Die Herkunft dürfte dabei keine Rolle gespielt haben.", überlegte Nathanael. "Schließlich stammen die Söhne des Zebedäus auch nicht von da. Die Vier sind vermutlich die mit dem stärksten Glauben. Bei uns dreien ist der ja nicht so ausgeprägt."
"Dafür arbeitet unser Kopf so wie er soll.", entgegnete Thomas. "Im Schabbat-Leuchter des Petrus brennen die Kerzen nur mit kurzem Docht."
"Vielleicht die Kerzen des Verstandes.", meinte Philippus. "Für seine Flammen der Liebe und des Glaubens reicht aber keine noch so große Feuerschale."
"Und was nützt es ihm?", fragte Thomas. "Er sitzt genauso traurig, untätig und mutlos herum wie wir."
"Natürlich tut er das.", erklärte Nathanael. "Gestern um diese Zeit hat Jesus noch gelebt. Es braucht ein bisschen Zeit, um zu begreifen, dass der Mensch, der einem von allen der Wichtigste war, für immer verschwunden ist. Ich werde nie vergessen, wie ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Weißt du noch Philippus? Du sagtest, sie hätten den Messias gefunden, er sei der Sohn des Josef aus Nazareth. Nazareth, dieses gottverlassene Nest, wo es nichts gibt als Staub und ein paar arme Leute. Und ich habe dich gefragt: Was soll aus Nazareth Gutes kommen? Du hast mich aber bedrängt und schließlich war ich neugierig und bin mitgekommen. Und als wir ihn gefunden hatten, da sagte er mir auf den Kopf zu: 'Du bist ein richtiger Israelit, an dem nichts Falsches ist.'
Ich dachte, was redet der, der kennt mich doch überhaupt nicht. Also fragte ich ihn, woher er mich zu kennen glaubte. Und da sagte er, er hätte mich schon unter dem Feigenbaum sitzen sehen, bevor Philippus mich rief, aber das konnte er gar nicht wissen, dass ich da gesessen hatte, er hätte mich in dem Menschenauflauf nicht einmal sehen können.
Ich war ehrlich beeindruckt und habe ihm sofort gesagt, dass ich ihm glaube, dass er der Messias ist. Und da hat er mich ausgelacht. Ich kam mir richtig dämlich vor. Er meinte: 'Wenn du wegen solcher Kleinigkeiten schon an mich glaubst, was passiert dann mit dir, wenn du Zeuge wirklicher Wunder wirst. Und das verspreche ich dir: du wirst noch Größeres sehen.'"
"Und? Hast du?", fragte Thomas.
"Was für eine Frage!", erwiderte Nathanael. "Kurz darauf waren wir bei der Hochzeit zu Kana. Und du weißt doch selbst, was da noch alles kam: Heilungen, Brotwunder, Fischzug, Sturmstillung, Jesus auf dem See, die Auferweckung Toter."
"Nur sich selbst konnte er nicht retten.", erwiderte Thomas.
"Weil er es nicht wollte.", entgegnete Philippus.
"Aber warum nicht?", fragte Thomas mit einem Unterton der Verzweiflung. "Was zum Teufel soll gut daran sein, wenn der Meister sich umbringen lässt? Wem nützt das etwas außer den Mächtigen und denen, die wollen, das alles genauso bleibt wie es ist?"
"Wir müssen Geduld haben.", mahnte Philippus.
"Worauf warten wir denn?", fragte Thomas.
Philippus seufzte. "Ich weiß es nicht."
Nach einer Minute der Stille zwischen den Dreien sprach Nathanael seine Gedanken aus: "Ich habe immer darauf gewartet, dass es endlich losgeht, dass das Richtige passiert in meinem Leben. Dann kam Jesus. Drei Jahre lang hatte ich das wunderbare Gefühl, dass ich gebraucht werde, dass ich lebe, dass ich Teil von etwas Großem bin, dass ich etwas tun kann. Und jetzt soll ich schon wieder warten? Ich will nicht mehr warten. Ich will weitermachen."
"Das will ich auch.", erwiderte Philippus. "Ich weiß nur noch nicht wie."

Thomas wollte auch weitermachen, weiter suchen nach dem, das er noch nicht gefunden hatte, auch nicht in den drei Jahren, in denen er Jesus begleitet hatte. Aber das sagte er nicht.

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Mittwoch, 13. April 2022
Karfreitagabend - Sechzehnte Stunde
Simon aus Betsaida, Sohn des Jona, Bruder des Andreas blickte noch immer stumm in die verhalten murmelnde Runde. Wer waren sie vor drei Jahren gewesen und wer waren sie heute? Er erinnerte sich an seine Jugend, wie er als Heranwachsender die Kunst des Fischens auf dem See lernte und das neu erworbene Wissen sofort an den unwesentlich jüngeren Bruder Andreas weitergab. Wie er dachte, das sei nun sein Leben, wie er immer besser wurde, heiratete, hart arbeitete und langsam das Gefühl hatte, alles zu wissen.
Und dann hatte Jesus ihm gezeigt, dass er gar nichts wusste. Er hatte dem Rabbi sein Boot als Kanzel zur Verfügung gestellt und dann, nach einer erfolglosen Nacht auf dem See, der plötzlich wie ausgestorben war, hatte Jesus vorgeschlagen, noch einmal hinauszufahren und an einer ganz bestimmten Stelle die Netze auszuwerfen. Jeden anderen hätte er für unfähig erklärt und eigentlich auch diesen Jesus von Nazareth, der nichts weiter war als ein Zimmermann und Wanderprediger, was verstand der schon vom Fischen? Eigentlich gar nichts, aber er hatte ein Gespür für Menschen, einen Riecher dafür, mit wem er es zu tun hatte, eine Art sechsten Sinn. Und Jesus hatte ihn damals längst in seinen Bann gezogen mit diesem Blick und dieser Stimme, die einem das Gefühl gaben, gesehen und wertgeschätzt zu werden und außerdem unendlich viel zu wissen. Darum tat er genau das, was dieser ehrwürdige Rabbi vorgeschlagen hatte und siehe da, die Netze barsten vor Fischen, ein Jahrhundertfang, alle mussten mit anfassen, um die Beute sicher an Land zu bringen. Wenn er bis dahin vielleicht noch den Hauch eines Zweifels verspürt hatte, als das geschah, begann sein ganzer Körper zu kribbeln und er hatte gespürt, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Handwerker aus der Gegend war, nein, er besaß eine besondere Macht, eine Macht, die Gutes bewirken und die Welt verändern konnte. Und so warf er sich ehrfürchtig zu seinen Füßen, bereit sich unterzuordnen und Jesus zu dienen. Fortan war er sein Held gewesen, doch er hatte ihn verraten.

"Ich hatte ja von der Heilung der blutflüssigen Frau gehört.", hörte er Susanna zu Maria von Bethanien sagen. "Sie hatte nur den Saum seines Gewandes berührt und war augenblicklich geheilt."
Simon Petrus erinnerte sich an diese Szene. Eine riesige Menschenmenge hatte Jesus bedrängt und plötzlich hatte er innegehalten, irritiert hatte er seine Jünger angestarrt und gesagt: "Jemand hat mich berührt, eine Kraft ist von mir ausgegangen."
Jetzt dreht er langsam durch, war wohl alles ein bisschen zu viel in den letzten Tagen, hatte Petrus gedacht. "Meister", hatte er zu Jesus gesagt, "du bist umgeben von hunderten von Leuten. Alle versuchen dich zu berühren. Wie kannst du da einen Einzelnen vom Rest unterscheiden?"
Doch Jesus hatte auf seiner Wahrnehmung bestanden und die geheilte Frau hatte sich offenbart. Als sei das nicht genug an Wundern für einen Tag gewesen, waren direkt einige Leute auf Jesus zugekommen, um ihn zu einem kranken, bettlägerigen Mädchen zu führen. Es war die Tochter des Jairus, ein schwächliches Kind, sie hatte dagelegen wie tot, vielleicht war sie sogar schon hinübergeglitten in die Schattenwelt, doch Jesus hatte einfach ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass sie aufstehen solle und augenblicklich war sie wach geworden, aufgestanden und gesund herumgelaufen. Und er, Petrus, gehörte zum erlesenen Kreis, der Jesus begleiten durfte.

Ein weiterer Gesprächsfetzen drang an sein Ohr: "Wer hat jetzt eigentlich den Geldbeutel? Wir müssen doch übermorgen wieder einkaufen.", sorgte sich Thaddäus.
"Ja, blöd.", antwortete Matthäus. "Auch wenn er ein Verräter war. Judas wird uns noch fehlen. Ich wette in Zukunft sind wir chronisch pleite."
Judas Iskarioth. Was für ein schlauer Fuchs der doch gewesen war. Simon Petrus hatte sich ihm immer unterlegen gefühlt, wenn es darum ging, spontan die richtige Entscheidung zu treffen oder darum, Zusammenhänge vollends zu begreifen. Petrus war immer bereit, dazuzulernen, sich eines Besseren belehren zu lassen, allerdings war er nicht besonders schlau und oft nicht intelligent genug, um die Materie vollständig zu durchdringen. Seine intellektuelle Schwäche glich er durch Engagement und unbedingte Loyalität aus. Das war seine Stärke und hier ließen Judas Qualitäten zu wünschen übrig. Verschlagen war er gewesen, selbstsüchtig und von einer eigenartigen Eitelkeit. Er hatte sich immer mehr um die eigene Haut gesorgt, als um die Gemeinschaft. Bedingungslose Gefolgschaft war nicht seine Sache gewesen, er selbst dagegen, Simon, der Fels, konnte sich in eine regelrechte Naturgewalt verwandeln, wenn die Lage es erforderte. Ein gewaltiger Sturm hatte in ihm getost, als die Soldaten den Meister verhafteten und die ganze Energie hatte sich in einem einzigen Schwerthieb entladen, mit dem er einem Soldaten das Ohr abtrennte. Aber wenn er ehrlich war, hatte das nicht nur gar nichts genützt ? Jesus hatte den Verletzten sogar schnell und unkompliziert geheilt ? im Gegenteil, sie hatten Jesus einfach mitgenommen und in dem plötzlichen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen war er voller Todesangst geflohen. Zwar hatte er sich nicht verkrochen, sondern war dem Tross hinterhergeschlichen, um zu sehen, ob er nicht doch noch etwas ausrichten konnte, aber auch dabei hatte er keine Haltung bewiesen. Drei Mal hatte man ihn darauf angesprochen, dass er doch einer der Gefolgsleute des Nazareners sei und drei Mal hatte er es vehement abgestritten, ausgerechnet er, der gern seine starke Bindung an Jesus öffentlich demonstriert hatte. Er sah sich gern als einen, der dazu gehört, Bescheid weiß, Verantwortung trägt. Einmal hatte er gefragt, ob die Anforderungen, von denen Jesus sprach, nur für die Jünger oder für alle Menschen gelten. Schließlich hatte er seine Jünger nicht umsonst ausgewählt, sie hatten einen Auftrag. Jesus schloss jeden in seine Ansprachen ein, es galt für alle Menschen. Das war ein schwerer Brocken für Simon Petrus. Er teilte gern das Brot mit anderen, aber nicht seinen Rabbi, das fiel ihm schwer.
Er hatte ihm geschworen, dass er ihm immer die Treue halten und niemals wortbrüchig werden würde, aber Jesus hatte längst um seine Schwäche gewusst und den dreifachen Verrat angekündigt. Jetzt schämte er sich. und begann wieder verzweifelt zu schluchzen.

"Hör mal, Johannes, wusstest du eigentlich, dass ich es war, der Simon mit Jesus bekannt gemacht hat?", hörte Petrus seinen Bruder Andreas sagen.
"Ich erinnere mich dunkel.", erwiderte Johannes. "Aber das ist ja schon drei Jahre her."
"Ich war ja damals ein Freund des Täufers und schon aktiver in den Kreisen derer, die etwas bewegen wollten, während mein Bruder sich mehr um die Boote und die Fische sorgte. Jesus hat ihn genau da gepackt, wo man ihn packen musste: bei seinem Beruf, bei dem, was er schon immer am besten konnte. Darum hat er gesagt: 'Ich will euch zu Menschenfischern machen.' Und Simon war sofort Feuer und Flamme. Da konnte er direkt wieder zeigen, was für ein Pfundskerl er war."
"Das musste er doch gar nicht beweisen.", erwiderte Johannes gelassen. "Jeder weiß, dass Petrus stark und fleißig ist und ordentlich was wegschafft. Kein Wunder dass Jesus ihm diesen Beinamen verpasst hat."
Die ersten Augenblicke mit dem Meister schossen Petrus wie lebendige Bilder durch den Kopf. Der Besuch mit Jesus, Andreas, Jakobus und Johannes in der Synagoge, wo er sich hinstellte und lehrte und den Unmut der altehrwürdigen Schriftgelehrten erregte. Einer, der die Traditionalisten durchschüttelte, indem er ihnen die Wahrheit entgegenschleuderte, sanft aber kraftvoll. Direkt danach hatte er einen Besessenen von einem bösen Geist befreit. So etwas hatte der junge Simon nie zuvor gesehen und er hätte nicht für möglich gehalten, dass er eines Tages selbst dazu in der Lage sein würde. Schließlich war er zu Gast in seinem Haus gewesen, wo Simons Schwiegermutter zitternd im Bett lag und schon seit Tagen an einem hohen Fieber litt. Jesus hatte ihr seine segnenden Hände aufgelegt und sie war augenblicklich geheilt gewesen. So einen Menschen gab es ja gar nicht, der konnte nur direkt von Gott kommen.

"Seht mal, ich habe den Geldbeutel gefunden!", rief Martha erfreut.
"Oh, ich hätte erwartet, dass er ihn behält.", bemerkte Jakobus Alphäus.
"Was machen wir denn jetzt damit?", fragte Martha. "Zu essen haben wir im Moment genug. Sollen wir es den Armen spenden, bevor die Steuereintreiber es sich holen?"
"So schlimm wäre das gar nicht."meinte Johannes. "Wisst ihr noch wie Jesus gesagt hat, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist?"
"Bei der Tempelsteuer war er aber nicht so freigiebig.", erklärte Petrus und zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag zauberte die Erinnerung ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Wir kamen nach Kapernaum, da kamen die Steuereintreiber, die den Tempelgroschen einnehmen, auf mich zu und sagten: 'Zahlt euer Meister nicht den Tempelgroschen?' Und ich sagte 'Doch, natürlich.' Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jesus etwas nicht tut, das von jedem frommen Juden erwartet wird. Also ging ich ins Haus, um Geld zu holen und da sprach Jesus mich an und sagte: 'Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige der Welt Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?' 'Von den Fremden.', habe ich geantwortet. Ich meine, die Römer schröpfen uns ja auch mehr als ihre eigenen Bürger. Da sagte Jesus einen seltsamen Satz: 'So sind die Kinder frei.' - Er meinte damit tatsächlich, dass er als Sohn Gottes keinen Beitrag leisten müsse. Eigentlich hatten sie kein Recht, irgendetwas von ihm zu verlangen. Aber er wollte keinen Ärger, dafür war ihm die Sache nicht wichtig genug, allerdings wollte er auch nicht an unsere Reserven gehen und dann gab er mir einen ziemlich eigenartigen Auftrag: 'Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben' sagte er 'geh hin an das Meer und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib's ihnen für mich und dich.' Und dann habe ich gemacht, was er mir gesagt hat und tatsächlich habe ich einen dicken Fisch aus dem See gezogen, der ein Zweigroschenstück im Maul hatte."

"Ich finde Simon Petrus sollte unser neuer Schatzmeister werden.", scherzte Philippus.
"Wegen dieser alten Geschichte?", fragte Petrus ungläubig.
"Nicht nur deswegen.", erwiderte Philippus. "Ich kenne dich von Kindesbeinen an, schließlich stamme ich auch aus Bethsaida. Du bist schon immer eine ehrliche Haut gewesen, dir würde ich sogar mein Leben anvertrauen. Und Jesus hielt große Stücke auf dich. Auf die Frage, für wen die Leute Jesus halten, haben wir alle unterschiedliche Antworten gegeben. Auch auf die Frage, für wen wir ihn halten, kamen seltsame, komplizierte Erklärungen, aber du, Simon gabst die Antwort, er sei Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Du hast von uns allen den stärksten Glauben und du stehst zu deinen Überzeugungen. Darum nannte Jesus dich Petrus, den Fels auf dem er seine Kirche bauen wolle, sprach dir die Himmelsschlüssel zu und eine irdische Macht, Dinge auf Erden für immer zu verbinden oder für immer zu lösen."
"Das kann ja alles sein.", entgegnete Petrus, "aber ich bin es nicht wert, derartig bevorzugt zu werden, schließlich habe ich den Meister verleugnet und mich feige verdrückt."
"Das haben wir alles außer Johannes.", erwiderte Bartholomäus. "Weißt du nicht mehr, wie du beteuert hast, dass du für Jesus auf alles verzichtet hast: dein geregeltes Einkommen, deinen Platz in der Familie, so wie wir alle? Und Jesus hat dir und allen anderen zugesichert, dass wir dafür hundertfach entschädigt werden. Wir haben am Ende alle Fehler gemacht, aber wir haben in den letzten drei Jahren auch vieles richtig gemacht. Und du ganz besonders, Petrus."

"Unsinn.", sagte Petrus. "Ich bin nur selbstsüchtig. Ich wollte Jesus den Leidensweg ausreden, da wurde ich hart von ihm angegangen, aus mir spreche der Satan, das menschliche Bedürfnis, vielleicht die Selbstsucht, nicht der göttliche Plan."
"Du hast ihn von allen am meisten geliebt.", erklärte Johannes. "Sei nicht zu streng mit dir. Wer liebt, der will auch etwas. Und niemand hat ihm so bedingungslos vertraut wie du. Weißt du noch, wie du ihm auf dem Wasser entgegengelaufen bist?"
"Ja, aber da habe ich ihn auch schon verraten", antwortete Petrus, "denn auf einmal hatte ich Zweifel und bin prompt versunken und er musste mich retten. Und ich? Ich habe ihn verraten."
"Jetzt ist es aber mal gut!", schimpfte Simon Kananäus. "Hör auf, dich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden. Du hast immer zum exklusiven Kreis seiner Lieblingsjünger gehört!"

Petrus schwieg und erinnerte sich im Stillen. Er kannte seinen Platz und hätte sich nie etwas angemaßt, das ihm nicht zustand. Er wollte unbedingt immer alles richtig machen, zu hundert Prozent.
So wie damals, als er zusammen mit den Brüdern Jakobus und Johannes bei der Verklärung Jesu auf dem Berg dabei war. So ergriffen war er von diesem besonderen Moment, dass er direkt drei Hütten bauen wollte: eine für Mose, eine für Elia und eine für Jesus. Er neigte schon immer zu blindem Aktionismus. Genau wie später, als er bei Jesu Verhaftung auf den Soldaten losging. Er lebte ganz im Hier und Jetzt und hätte gern gehabt, dass es immer so bliebe. Er wollte das Glück mit Jesus unbedingt festhalten, notfalls mit Gewalt. Und dann musste er alles, was er dort auf dem Berg erlebt hatte, bis zu einem Tag, der noch in weiter Ferne lag, für sich behalten. Er würde auch jetzt nicht darüber reden. Er wollte der vertrauenswürdige Simon bleiben, als den Jesus ihn gekannt hatte.
Das war nicht der einzige besondere Moment, den der Meister nur mit ihm, seinem Bruder und den Söhnen des Zebedäus geteilt hatte. Reden über die Endzeit hatte er in der vertraulichen Runde gehalten. Die anderen wussten nichts davon. Von falschen Propheten und verheerenden Kriegen hatte der Meister gesprochen, von Erdbeben und Hungersnöten und das sei erst der Anfang. Auch dass man sie, die Jünger, um Jesus willen vor Gericht stellen würde, dass sie gehasst werden würden, aber am Ende die Rettung stehe. Jesus selbst käme zurück, begleitet von Engeln. Der Tag sei nahe, aber der Zeitpunkt ungewiss. Hatte die Endzeit schon begonnen? War Jesu Tod nicht mehr als ein Vorzeichen, vielmehr ein Paukenschlag?
Ach und er hatte derartig versagt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. In der Stunde der größten Angst und Not hatte er es nicht einmal geschafft, wach zu bleiben, um dem Meister mit Trost und Anteil nehmender Gegenwart beizustehen.
Doch er war nicht der Lieblingsjünger Jesu, das war Johannes. Darum hatte er ihn auch gebeten, aus Jesus heraus zu kitzeln, wer ihn verraten würde.
Beim Abendmahl kam es zum Rangstreit unter den Jüngern und Jesus erklärte ihm, dass der Satan die Jünger sieben wolle wie Weizen, dass er, Jesus, aber für ihn, Simon, gebetet habe, dass sein Glaube stark bleibe. Er müsse künftig für seine Brüder sorgen. Petrus versprach unbedingte Gefolgschaft, und dann kündigte Jesus die feigen Verleugnungen bis zum Hahnenschrei an. Das war wie ein Faustschlag ins Gesicht, eine brüske Zurückweisung, ein Vom-Sockel-Schubsen.

Petrus blickte weiter in die Runde. Alle hatten sie von Jesus die Macht über unreine Geister erhalten. Und jetzt? Wohnten diese Geister nicht in jedem von ihnen? Er seufzte. Als Junge war seine Welt so begrenzt gewesen. Man holte Fische aus dem See und Früchte vom Feld und von den Bäumen. Man wusste, was nötig war, um zu überleben und dass ein Baum, der keine Früchte trug, nichts weiter war als Platzverschwendung. Der wurde abgehauen und an seiner Stelle ein neuer gepflanzt. Dass jemand einen Baum aber von einem Augenblick auf den anderen verdorren lassen konnte, das hatte er nie zuvor erlebt. So etwas konnte nur Jesus. Und so hatte er gezeigt, wie der göttliche Zorn wüten konnte, über denen, die ein fruchtloses Leben führten. Käme dieser Zorn nun über sie alle? Was konnten sie schon ausrichten? Sie saßen hier, versteckten sich, zitterten vor Angst und schoben sich Nahrung in den Mund, die denen, die wirklich etwas bewirkten, besser gedient hätte. Konnte Gott ihnen ihr Fehlverhalten vergeben, wenn er sich nicht einmal selbst vergeben konnte? Er erinnerte sich an eine Geschichte.

Jesus hatte immer wieder von Vergebung gesprochen. Simon war damit durchaus einverstanden, jedoch gab es Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, die ihn immer wieder übervorteilt hatten, sooft sie auch Besserung gelobten, sie schafften es einfach nicht, anständig zu bleiben. Irgendwann musste es auch mal genug sein mit dem großen Herzen, fand er und so fragte er Jesus: "Sag mal, Meister, wie oft muss ich meinem Bruder denn vergeben? Reichen sieben Mal?"
"Sieben mal siebzig Mal.", forderte Jesus und erzählte das Gleichnis vom Schalksknecht. Gott vergibt dem, der selbst bereit ist, zu vergeben.
Und jetzt hatte Simon Petrus Gottes Vergebung nötiger als je zuvor in seinem Leben. Der Kummer darüber und die unendliche Scham trieben ihm erneut die Tränen in die Augen, die gar nicht mehr aufhören wollten, wie Bäche aus ihm herauszuströmen und Schluchzer schüttelten seine Brust.

Susanna setzte sich zu ihm und legte ihm tröstend eine Hand in den gebeugten Rücken. Sie sagte: "Jesus hätte nicht gewollt, dass du dich selbst zerfleischt. Wir haben alle Fehler gemacht und werden auch immer wieder daneben greifen. So sind wir Menschen. Jesus wusste das und hat uns so geliebt, wie wir sind. Auch dich. Dich ganz besonders. Dich hat er ausgesucht, um zusammen mit Johannes das Passahmahl vorzubereiten. Denn er wusste, dass du tust, was man dir aufträgt, ohne nach dem Warum zu fragen und ohne, dass dich jemand antreiben muss."
"Ja", sagte Petrus. "Das war mir immer wichtig, dass er mich auserwählt hat. Aber das war so selbstsüchtig. Bis zum Schluss. Sogar bei unserem Abschiedsessen Bei der Fußwaschung fand ich es zunächst unangemessen, dass Jesus mir die Füße waschen wollte und nicht umgekehrt. Als Jesus darauf bestand, wollte ich am ganzen Körper gewaschen werden. Ich wollte gern ein Auserwählter sein, jemand Besonderes, obwohl mir im Grunde immer klar war, dass mir tatsächlich keine herausragende Stellung zusteht. Ich habe ja längst erkannt, dass Jesus für alle Menschen da sein will, nicht nur für einen erlesenen Kreis. Ich finde das auch richtig, aber es schmerzt mich. Heimlich habe ich doch immer gehofft, für immer und ewig der beste Freund und Bruder meines Meisters zu sein."
"Aber das bist du doch.", entgegnete Susanna.
Petrus schüttelte energisch den Kopf. "Johannes ist so ein Jünger. Klug, still, bescheiden und besonnen. Ich dagegen bin aufbrausend, jähzornig und schwer von Begriff. Der Herr konnte mich gebrauchen, aber am meisten geliebt hat er Johannes."
"Johannes hat auch seine Schattenseiten.", entgegnete Susanna. "Nur weil sie für uns nicht sichtbar sind, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Wir alle lernen unser Leben lang und du musst eben lernen, deine Wut zu bezwingen. Oder sagen wir lieber, sie zu bändigen, denn sie ist nicht eigentlich etwas Schlechtes. In deinem Zorn steckt eine große Kraft und manchmal ist es von Vorteil, wenn diese Kraft sich Bahn bricht, zum Beispiel, wenn man für etwas kämpfen muss."
"Ja", pflichtete Petrus ihr bei. "Das habe ich früher auch immer gedacht. Aber Jesus wollte nicht, dass wir kämpfen. Es geht mir heute noch so, dass ich nicht immer alles aushalten und hinnehmen will, ich will zurückschlagen, wenn mir einer wehtut, will die, die ich liebe, verteidigen. Aber Jesus hat den Frieden gepredigt und den neuen Menschen. Ich muss ein neuer Mensch werden, doch das ist mir bis heute nicht gelungen."
"Du bist zu streng mit dir.", sagte Susanna. "Keiner von uns hat so viel für den Meister gegeben wie du."
"Ich hätte alles für ihn getan.", erwiderte Petrus. "Ich war so begeistert von ihm, aber ich wollte auch etwas zurückbekommen, nämlich die gleiche Liebe und Bewunderung, die ich für ihn aufgebracht habe. Das war anmaßend und dumm."
"Unsinn.", entgegnete Susanna. "Das ist menschlich. Und du hast ja nicht deinen Zorn über ihn ausgegossen, als du gewahr wurdest, dass er alle Menschen liebt und niemanden wirklich bevorzugt. Du hast dein Los demütig angenommen und ihm weiter die Treue gehalten."
"Weil es mich stolz machte, dass er mir etwas zutraute. Leider wurde ich dabei auch immer etwas größenwahnsinnig und er musste mich auf den Boden zurückholen."
"Aber du hast aus deinen Fehlern gelernt und bist noch immer bereit, dich zu verändern. Sieh dich doch einmal um. Es gibt nicht viele, die solchen Mut und solche Kraft haben."
"Von wegen Mut und Kraft.", seufzte Petrus. "Sieh mich Elenden doch an. Meine Scham ist größer als ich, kein Versteck abgelegen genug, um mich zu verbergen. So große Versprechen habe ich herausposaunt und nichts ist davon übriggeblieben, als Kleinmut und Furcht um mein unbedeutendes Leben."
"Vielleicht verlangst du oft mehr von dir, als du schaffen kannst. Du bist ein Mensch, kein Gott, kein Messias, nur sein Helfer und Begleiter. Aber das hast du immer hervorragend gemacht. Und wenn du dich im Moment der größten Gefahr in Sicherheit gebracht hast, dann zeigt das nur deinen Willen zu überleben. Wie willst du denn ein lebendiges Werkzeug Gottes sein, eine Zeuge des Messias, wenn du dich von räudigen Soldaten erschlagen lässt? Glaubst du die anderen blicken auf dich herab? Ganz im Gegenteil! Sie sehen ehrfürchtig zu dir auf, sie bewundern dich für deine Treue, deine Tatkraft und deine tiefe, unerschütterliche Überzeugung. Und ich tue das auch. Heute Abend saß ich vor meinem Haus und war in Trübsal versunken. Ich war kurz davor, wieder die zu werden, die ich vor meiner Begegnung mit Jesus war. Eine schwache, kranke, unglückliche, einsame Frau, die es kaum schafft, sich selbst zu versorgen. Und dann habe ich an dich gedacht. Simon Petrus, habe ich gedacht, der würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Der war dem Herrn so nahe, der trägt ihn für immer in seinem Herzen. Und darum bin ich hier her gekommen, um den Menschen nahe zu sein, die Jesus in sich tragen, damit ich mich weiter in seinem Glanz wärmen kann und stark, gesund und glücklich bleiben, wie ich es seit meiner Begegnung mit Jesus bin ? und nie mehr allein."

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Karfreitagabend - Fünfzehnte Stunde
Im Hause Zebedäus kam wieder Bewegung in die Eingenickten. Der spontane Erschöpfungsschlaf, der sie im Sitzen übermannt hatte, hatte mit erholsamer Nachtruhe nicht viel gemein.
"Oh, wie rücksichtslos von mir", entschuldigte sich Maria Alphäus bei Johanna. "Wie lange habe ich an deiner Schulter geruht?"
"Nicht so lange." erwiderte Johanna lächelnd. "Aber jetzt würde ich gern ein paar Schritte durch die kühle Nachtluft gehen. Danach sitzt alles wieder an seinem Platz."
"Geh nicht so weit.", ermahnte sie Zebedäus. "In der Nacht ist immer so viel Gesindel auf den Straßen."
"In der Nacht schläft das Gesindel.", widersprach Johanna. "Und der Herr wird mich schon beschützen. Und falls ich doch umkomme, bin ich noch heute mit dem Meister vereint. Mir kann also nicht Schlimmes zustoßen."
Johanna verließ das Haus und Zebedäus sagte zu Maria Alphäus: "Ich mache mir wirklich Sorgen. Sie ist zu leichtfertig."
"Sie ist erwachsen.", entgegnete Maria. "Wäre sie deine Tochter, könnte ich deine Sorge verstehen. Aber Johanna ist eine gestandene Frau, die es gelernt hat, auf sich achtzugeben. Sie geht ein wenig die Straße rauf und runter. Hier wohnen nur ehrbare Leute und falls sich wirklich ein Räuber oder Schänder in eure Straße verirrt und ihr zu nahe tritt, dann wird sie ein Geschrei veranstalten, von dem ihm die Ohren noch in einer Woche klingen werden, und die ehrbaren Leute werden aus ihren Häusern kommen und den Bösewicht vertreiben."
"Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte Zebedäus. "Aber um deine Kinder hast du dann auch Angst?"
"So wie alle Eltern.", antwortete Maria. "Selbst jetzt, wo sie längst erwachsen sind. Vielleicht sogar noch mehr, als zu der Zeit, als sie noch taten, was ihre Eltern ihnen auftrugen und ich immer wusste, wo sie sich aufhielten. Levi hat sich einen schlechten Ruf erworben, ich hatte immer Angst, dass es mal schlimm mit ihm endet und bin so froh, dass er Jesus nachgefolgt ist und auch darüber, dass er sich einen neuen Namen zugelegt hat. Von einem Zöllner, der Matthäus heißt, hat noch niemand gehört.
Und um unseren Jakobus habe ich mich fast noch mehr gesorgt, weil er immer allen beweisen musste, dass er noch härter war, als sein großer Bruder. Dabei hat er vollkommen aus dem Blick verloren, wo er eigentlich hinwill. Er irrt ziellos durchs Leben, wie ein Blinder ohne Stock und Führer. Mit Jesus hat er zum ersten Mal einen Weg gefunden."
"Das Gefühl habe ich bei meinen Söhnen auch.", wandte Zebedäus ein. "Nicht dass sie planlos durchs Leben gestolpert wären, bis sie Jesus trafen. Aber Jakobus dachte immer zu wenig nach und Johannes zu viel. Der Älteste taugte nicht in der Synagoge, der Jüngere nicht auf dem See. Als hätte ich bei beiden nicht das richtige Maß gefunden, dem einen etwas vorenthalten, was ich dem anderen im Übermaß zuteilwerden ließ. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe."
"Vermutlich hast du gar nichts falsch gemacht.", erklärte Maria. "Sie sind eben so geworden, wie sie sind. Gott hat das so gewollt. Bei Levi habe ich auch oft gedacht, an welcher Stelle haben wir es versäumt, ihm zu erklären, was Recht und Unrecht ist und worauf es ankommt im Leben. Ich habe nie verstanden, dass so ein rücksichtsloser, gieriger Zecher aus ihm werden konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn zu sehr verwöhnt und alles Unangenehme von ihm ferngehalten habe. Und ich konnte ihm die Boshaftigkeit nicht austreiben, so sehr ich mich auch bemüht habe. Erst Jesus hat das geschafft. Vielleicht wollte unser Gott den Levi genauso haben, wie er war, damit Jesus den Menschen zeigen konnte, dass jeder jederzeit umkehren kann. Und am Ende war es nicht schlecht, dass Jakobus keinen starken eigenen Willen hatte, denn so hat er sich einfach seinem Bruder angeschlossen und ist Jesus genauso nachgefolgt wie er. Heute bin ich stolz auf meine Söhne und auf das, was aus ihnen geworden ist. Aber Sorgen muss ich mir schon wieder machen, weil ich befürchte, sie könnten verhaftet werden."
"Ja wegen irgendeiner Sache sorgt man sich immer.", bestätigte Zebedäus Marias Rede. "Und sicher hat es auch einen tieferen Sinn, wenn Brüder so verschieden sind. Bei deinen ist es ja nicht anders als bei meinen. Während dir der eine zu hartherzig und der andere zu ziellos war, habe ich mich immer gefragt, ob es richtig war, dass ich alles mit Jakobus tat und Johannes meistens bei seiner Mutter ließ. Wie sollte ein richtiger Mann aus ihm werden, wenn er den ganzen Tag nur Weibergewäsch um die Ohren hatte? Aber ich musste lernen, dass man auf viele Arten ein Mann sein kann und meine beiden Söhne, so unterschiedlich sie sind, haben sich zusammengerauft und gelernt, sich gegenseitig zu schätzen und zu respektieren. Sie haben erkannt, dass einer den anderen braucht, weil jeder für sich zu unvollständig ist, um gut durchs Leben zu kommen. Als sie Kinder waren, haben sie oft furchtbar gestritten. Johannes wollte immer überall mitmischen, war aber noch ein bisschen klein und ungeschickt und Jakobus hat ihn nie gelassen. Einmal sind sie so sehr aneinandergeraten, dass Johannes Jakobus verprügelt hat. Danach ging es komischerweise besser.
Als Jakobus sich dann allerdings an Johannes den Täufer hängte, diesen Wutprediger, da bekam ich es mit der Angst."
"Aber Johannes der Täufer hat doch den Weg für Jesus bereitet. Die beiden waren doch sogar miteinander verwandt, ihre Mütter waren Cousinen.?, warf Maria Alphäus ein.
"Ja genau.", erwiderte Zebedäus. "Und sein Vater war Zacharias, ein angesehener Mann mit einem verantwortungsvollen geistlichen Amt. Nun muss er sich grämen über den Verlust seines Sohnes, über den die Leute jahrelang abfällig redeten. Ein Wunder, dass der Hohe Rat ihn nicht seines Amtes enthoben hat. Johannes hatte vielleicht das richtige Gespür für das Kommen des Herrn, aber nicht dafür, wie man es anstellt, seiner Familie keine Schande zu machen."
"Aber was war denn so furchtbar an ihm?"
"Das wirre Haar, der ungepflegte lange Bart, er trug keine anständige Kleidung sondern Tierfelle, er aß nur Heuschrecken und wilden Honig und er brüllte, wenn er predigte, als werde er über dem Feuer geröstet. Viele dachten, er sei wahnsinnig und ich hatte ebenfalls den Eindruck. Als Jakobus anfing, ihm nachzulaufen, hatte ich große Angst, dass er genauso wahnsinnig wird. Er half nicht mehr beim Fischen, ließ mich einfach im Stich, sodass ich oft allein mit Johannes auf dem See war. Da habe ich angefangen, meinen Zweitgeborenen einmal richtig kennenzulernen. Er ist der Klügere und Besonnenere von den beiden. Jakobus ist ein Hitzkopf. Als Jesus dann auftauchte und er ihm auch direkt hinterherlief, riss mir der Geduldsfaden. So ein Unsinn, irgendwelchen Predigern zu folgen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Und dann folgte Johannes ihm auch noch. Mein Jüngster ist noch zu klein zum Fischen, ich kann doch nicht alles allein machen, dafür bin ich mittlerweile zu alt. Zum Glück sind sie mir dann doch regelmäßig zur Hilfe gekommen und heute bin ich stolz, dass sie zu Jesu Gefolgsleuten gehören."

Im Versteck der Jünger herrschte nach wie vor verhaltenes Gemurmel. Eine bedrückende Stille, die sich aus dem noch nicht verebbten Schock über den grausamen Tod des Meisters, Trauer und Furcht speiste. "Wie viele Tage gibst du uns noch?", fragte Thomas Philippus. "Drei? Oder vielleicht sieben?"
"Vielleicht auch Siebentausend, wenn wir uns in acht nehmen.", erwiderte Philippus.
"Wie denn?", fragte Thomas.
"Uns verborgen halten, nicht auffallen, bis der Blick des Hohen Rates und der Römer auf andere vermeintliche Gegner fällt."
Es klopfte an der Tür und augenblicklich breitete sich ein gespenstisches Schweigen aus. Manche hielten den Atem an. Als das Klopfen lauter und energischer wurde, begann Marias Atem sich zu beschleunigen. Ihre Schwester Martha legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen. "Sch.", zischte sie leise und Maria bemühte sich um tiefere und langsamere Atemzüge.
"Keine drei Tage.", flüsterte Thomas und Philippus rammte ihm ärgerlich einen Ellenbogen in die Seite.
?Lasst mich rein.", flehte draußen eine zarte Frauenstimme ? oder die verstellte Stimme eines Soldaten, denn es konnte keine von ihnen sein, sonst hätte sie das Losungswort genannt. Niemand rührte sich.
Simon Petrus zitterte vor Angst und vor Scham darüber flossen schon wieder reichlich Tränen aus seinen verweinten Augen.
Es klopfte wieder eindringlich. Nach einem Moment des Lauschens sagte die Stimme: ?Bitte, lasst mich rein! Ich bin es, Susanna."
Martha atmete tief durch und ging zur Tür. Andreas hielt sie am Handgelenk fest und schüttelte energisch mit dem Kopf.
"Ach lass mich!", zischte sie und riss sich los. "Ich erkenne doch Susannas Stimme. Wenn ihr Männer euch nicht immer so vor Angst vergraben würdet, wer weiß, vielleicht wäre der Herr noch am Leben."
Petrus schluchzte laut auf und Martha öffnete die Tür einen Spalt breit. Sie erkannte Susanna und zog sie schnell ins Haus, um die Tür sofort wieder zu verschließen. Erleichtertes Aufatmen machte die Runde und vom Tisch aus schimpfte Jakobus, der Sohn des Zebedäus: "Wie kannst du uns nur alle so in Angst und Schrecken versetzen? Warum hast du nicht das Losungswort gesagt, dann hätten wir alle sofort gewusst, dass von dir keine Gefahr ausgeht."
"Ich habe es vergessen.", gestand Susanna schuldbewusst.
"Dann wärst du besser nicht hergekommen.", wies Jakobus sie zurecht. "Du hast uns alle in Gefahr gebracht, dadurch, dass du so lange vor der Tür gestanden hast und um Einlass gefleht hast. Das fällt auf und gibt Gerede."
"Jetzt sei nicht so herzlos, Bruder.", mischte Johannes sich ein. "Wir sind alle gerade zutiefst erschüttert und ein bisschen durcheinander. Susanna geht es nicht anders, da hat sie eben das Losungswort vergessen. In ihrem unscheinbaren Gewand wird sie keinem aufgefallen sein. Auf Frauen wird nur geachtet, wenn sie sich besonders herausputzen."
"Entschuldigt bitte.", sagte Susanna leise. "Ich konnte nicht eher kommen, ich saß einfach vor meinem Haus und konnte mich nicht bewegen, als wenn mit Jesus auch meine ganze Kraft und all mein Mut und meine Freude gegangen sind."
"Das geht uns allen so.", bestätigte Maria von Bethanien dieses Bekenntnis. "Komm, setz dich zu mir und iss ein Stück Brot und trink etwas Wein, dann geht es dir gleich etwas besser."
Susanna bedankte sich und genoss das Mahl in der angenehmen Gesellschaft einer treuen Freundin.

"Typisch Maria", dachte Martha und begann, geräuschvoll den Tisch abzuräumen. Sie konnte nicht aus ihrer Haut: So lange die Hausarbeit sie ansah, musste sie sie erledigen, wenn niemand sonst sich erbarmte. Alle saßen schwermütig an der Tafel und gaben bedeutungsvolle Reden von sich, dabei schoben sie sich das liebevoll zubereitete Essen gedankenverloren zwischen die Zähne, als sei es eine lästige Pflicht. Genauso wie damals, als Jesus bei ihnen in Bethanien zu Besuch gewesen war. Sie, Martha, hatte sich vorher ausführlich Gedanken gemacht, hatte sorgfältig eingekauft und viel Mühe auf die perfekte Zubereitung verwendet. Das Brot aus dem fein gemahlenen Mehl war wunderbar aufgegangen, hatte das ganze Haus mit seinem köstlichen Duft erfüllt, außen knusprig, innen weich und saftig, bestrichen mit dem besten Öl und gewürzt mit frischen Kräutern. Dazu hatte sie eingelegte Oliven gereicht, gebratenes Lamm, gar und trotzdem zart und kräftig gewürzt. Das I-Tüpfelchen war eine Grütze aus gerösteten Gerstenkörnern, Granatapfelkernen, frischen Trauben und Nüssen gewesen, verfeinert mit Honig. Und erst der Wein, den hatte Lazarus selbst gekeltert und er war ihm ausgezeichnet gelungen.
Maria hatte nur den Tisch gedeckt, kurz bevor der Meister kam, war den ganzen Tag in ihrer gedankenverlorenen, ineffektiven Art durch Haus und Garten gestreift, hatte hier ein Stäubchen weggewischt, dort ein Kräutlein ausgezupft, aber alles ohne Plan und vor allem ohne Tempo. Das hatte sie wie immer ihrer kleinen Schwester überlassen. So viele Jahre hatte sie die große Schwester bewundert, hatte sein wollen wie sie, so wohlgestaltet, elegant, geschickt darin, andere in ein Gespräch zu verwickeln und an sich zu fesseln, zu allem eine Meinung, auf jede Frage eine kluge Antwort oder zumindest eine originelle Gegenfrage. Doch Martha schaffte es nicht. Niemand war sonderlich an den Gesprächen mit ihr interessiert, sie wusste auch schon bald nichts mehr zu sagen und die Männer sahen ihr auch nicht so hinterher wie ihrer großen Schwester. Sie suchte es wettzumachen, indem sie sich einfach immer bei allem, was sie tat, anstrengte, immer ihr Bestes gab und so war sie über die Jahre zu einer perfekten Hausfrau und Gastgeberin herangereift. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass Maria auch diese neue Wendung perfekt für sich zu nutzen wusste, indem sie sich bequem zurücklehnte und alles Martha überließ: "Ach Schwesterchen, keiner kocht, backt und bewirtet so perfekt wie du, da kann ich dir nicht annähernd das Wasser reichen. Ich übernehme die Unterhaltung der Gäste, damit ich mich wenigstens ein bisschen nützlich machen kann."
Als dann Jesus zu Besuch kam und Maria Martha wieder die ganze Arbeit allein machen ließ, während sie selbst als wortgewandte Gesprächspartnerin glänzte, war ihr schließlich der Kragen geplatzt. Sie wollte auch etwas von Jesus haben und nicht nur schuften, bis ihr die Füße wehtaten. Sie setzte auf Jesus' Gerechtigkeitssinn, denn er hatte davon gesprochen, dass jene selig seien, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt würden und wenn sie schon selbst bei der großen Schwester nichts ausrichten konnte, so hoffte sie, Jesus würde ihr den Gefallen tun und Maria die Welt erklären. Sie hatte versucht ihren Ärger hinter einem schelmischen Scherz zu verbergen: "Ach Meister, wenn du meiner großen Schwester die wichtigen Dinge des Lebens erklärst, kannst du ihr dann nicht auch einmal darlegen, dass die Arbeit geteilt werden muss, damit die einen nicht mit geschwollenem Kopf vor Untätigkeit verkümmern, während die anderen verblöden und gleichzeitig unter der Last zusammenbrechen? Sie hat wohl bis heute nicht verstanden, dass Hausarbeit keine Zauberei ist."
Martha hatte erwartet, dass Jesus sich belustigt auf die Schenkel klopfen würde und Maria den Hinweis gäbe: "Geh, löse deine Schwester ein bisschen ab, damit sie nicht verblödet und deine Ärmchen nicht so dünn wie junge Olivenzweige werden."
Stattdessen ermahnte er Martha: "Ach Martha, ich gebe zu, dass du viel zu tun hast mit dem guten Essen, das will alles geplant, bedacht, vorbereitet und wohlüberlegt und geschickt zubereitet sein. Du bist eine Meisterin darin, aber deine Schwester ist auch eine Meisterin. Eine Meisterin im Zuhören und Erzählen, im Fragen Stellen und Antwortengeben. In der Zuwendung an den Gast, den sie genau sieht und für den sie ganz und gar da ist, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Und glaube mir, Maria hat den besseren Teil gewählt."
Das war ein Schlag ins Gesicht gewesen, eine Demütigung die alles in den Schatten stellte, was sie bisher an Herabwürdigung erfahren hatte, und sie hatte weiß Gott viel in dieser Richtung mitgemacht. Wäre es nicht Jesus gewesen, sie hätte ihm die Grütze ins Gesicht geschleudert und ihm ordentlich die Meinung gesagt. Aber bei Jesus konnte sie das nicht. Bei Jesus konnte sie nur unendlich verletzt und traurig sein und schweigend hinnehmen, dass nicht einmal er auf ihrer Seite war. Sogar zu seiner Liebe hatte Maria ihr den Weg verstellt. Keine Grenze hatte sie respektiert, ihn kurz vor seinem Ende mit teurem Duftöl gesalbt. Als wäre das nicht schon mehr als genug gewesen, hatte sie seine Füße mit ihren Tränen begossen und mit ihren Haaren abgetrocknet. Wie war sie nur dazu gekommen, ihn einfach anzufassen, die nackte Haut, als wäre er ihr Mann gewesen? Martha hätte sich so etwas nie getraut und sie beneidete ihrer Schwester auch jetzt noch um die Nähe zu Jesus, die sie sich einfach genommen hatte, ganz zu schweigen von der dramatischen Selbstinszenierung. Manchmal beschlich sie der Verdacht, dass es Maria gar nicht um Jesus gegangen war, sondern um sich selbst.

Als alle Schüsseln eingeweicht und alle Krüge mit Vorräten und Resten gut verschlossen waren, schweifte Marthas Blick durch den Raum und blieb bei Salome hängen. "Auch so eine Schöne.", dachte sie, "auch so redegewandt und anziehend, vermutlich ebenso unpraktisch und rettungslos verloren in der Küche wie Maria."
Aber dann erinnerte sich Martha, dass sie in der Nacht nach Jesu Besuch sehr lange nachgedacht hatte und ihr aufgefallen war, dass es zwar schön war, gutes Essen vorgesetzt zu bekommen, dass das aber alles wenig wert war, wenn es nicht mit Liebe und Zuwendung serviert wurde. Und in der Tat, das war nicht Marthas Sache, das konnte ihre Schwester einfach besser. Vielleicht musste sie lernen, hinzunehmen, dass jede von ihnen andere Stärken hatte. Nur dass ausgerechnet ihre Stärken weniger wert sein sollten, das konnte sie nicht akzeptieren. Aber wer wusste schon, wie Salome sich als Gastgeberin verhielt? Sie kannte sie kaum. Vielleicht sollte sie heute einmal damit anfangen, interessierte Fragen zu stellen und aufmerksam zuzuhören, denn im Haus war ja nun wirklich nichts mehr zu tun.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte sie Salome höflich.
"Aber natürlich.", antwortete die. "Du hast es geschafft, dass ich mir nach dem Essen die Finger abgeleckt habe, obwohl ich eigentlich vor lauter Kummer überhaupt keinen Hunger und keine Lust auf ein Abendessen hatte."
Martha lächelte geschmeichelt. "Das lag vermutlich am guten Öl und an den frischen, jungen Kräutern."
"Aber man muss es auch schon können.", sagte Salome. "Bei den Salben, die die anderen für den toten Jesus hergestellt haben, kam es auch auf die richtigen Zutaten an. Aber ich habe mich aus der Herstellung herausgehalten, ich hätte nur alles verdorben."
"Kochst du nicht so gern?", fragte Martha.
"Nein.", antwortete Salome. "Ich kann etwas zubereiten, damit niemand verhungert, aber ich bin besser darin, Stoffe zu weben und Gewänder zu nähen."
"Das ist auch wichtig.", sagte Martha. "Das kann ich nicht so gut. Es reicht, um sich zu bedecken, aber es sieht nicht schön aus, was ich selbst nähe. Und zum Weben fehlt mir die Geduld."
"Ach", winkte Salome ab. "Ich habe es von klein auf von meiner Mutter gelernt und wenn man sich nebenbei Geschichten erzählt oder Lieder singt, dann ist es fast so, als wäre man nicht bei der Arbeit sondern beim Schabbat."
"Hast du so Jesus kennengelernt?", fragte Martha, "Hast du ihm ein Gewand genäht?"
"Ich? Ach was, nein, ich war eine aus der begeisterten Menge, die ihm nachlief, um zu hören, was er zu sagen hatte. Ich kenne so viele alte Geschichten, aber wenn er sie erzählte, bekamen sie plötzlich einen ganz neuen Sinn, alles wurde klarer, hoffnungsvoller, reicher. Und jetzt ist er schon wieder fort. Nicht einmal drei Jahre durfte ich ihm nachfolgen, dabei hätte ich doch noch so viel von ihm lernen können. Ich bin entsetzlich traurig."
"Ja, traurig bin ich auch.", sagte Martha. "Und bestimmt hätte ich noch viel mehr lernen müssen. Vielleicht lerne ich es ja jetzt von dir."
Maria, die Frau des Klopas, eine Cousine der Mutter Jesu setzte sich zu den beiden Frauen. "Oh ja, Salome.", sagte sie, "Lass uns von dir lernen. Keine kennt so viele von den alten Geschichten wie du."
"Ach, die kennt doch jede.", winkte Salome ab. "Ja, gehört haben wir sie alle einmal.", antwortete Maria Klopas. "Aber ich habe das meiste vergessen. Mir geht es ja mehr so wie Martha, ich brauche meinen Kopf vor allem für den Haushalt."
"Hast du auch einmal den Meister bewirtet?", fragte Martha.
"Oh ja.", antwortete Maria Klopas. "Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Klopas, mein Mann, hatte Jesus da schon seit geraumer Zeit unterstützt, war zu den Orten gegangen, an denen der Meister geredet hat, hat ihm Lebensmittel und manchmal auch etwas Geld gegeben oder eine Unterkunft organisiert, wenn er wusste, dass Jesus eine Reise an einen Ort plante, an dem Klopas Verwandte hatte. Ich habe wirklich Glück gehabt mit ihm. Er ist ehrlich, treu, anständig, fleißig und geschickt. Und dann kam der Tag, als er aufgeregt in der Tür stand und mir eröffnete: 'Jesus von Nazareth kommt heute Abend als Gast in unser Haus, zum Essen und zum Übernachten und er bringt noch ein paar von seinen Jüngern mit.'
Da hatte ich alle Hände voll zu tun, dass ich etwas Anständiges und genug zu essen auf den Tisch brachte. Als wir dann alle beim Abendbrot saßen, kam ich endlich zur Ruhe. Und das war das erste was mich an Jesus erstaunte: Er lobte mich dafür, dass ich es verstand, mich nach getaner Arbeit auszuruhen. Erst danach lobte er meine Kochkunst und meine Gastfreundschaft. Er sagte, es ist gut, für andere zu sorgen, aber man muss auch für sich selbst sorgen und für beides das richtige Maß zu finden, ist keine leichte Sache. Zuerst dachte ich, dahinter verberge sich ein unterschwelliger Tadel, aber er meinte es ganz freundlich und danach sagte er noch so viele andere Dinge, wie er die Welt sah und wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte.
Zum Beispiel, dass die Welt ein Ort ist, der gleichzeitig schön und schrecklich ist, dass aber all das Schreckliche uns im Grunde nichts anhaben kann, wenn wir Gott in uns tragen. Dann kann zwar unser Körper zugrunde gehen, aber unsere Seele bleibt beschützt und wird gerettet. Und ich dachte an meine tote Mutter, die mir auch nach so vielen Jahren noch immer zur Seite steht in meinen Gedanken und Träumen, die nie wirklich fortgegangen ist, obwohl ihr Leib doch längst in der Grabhöhle verdorben ist.
Alles, was Jesus sagte, fühlte sich gut an, selbst wenn es schwer war und herausfordernd, es war nie entmutigend, nie zu schwer, nie so bitter, dass es einen vergiftet hätte. Seit dieser Nacht trug ich Jesus immer bei mir wie meine Mutter, obwohl er ja noch lebte, aber er war ja für so viele gekommen, nicht nur für mich. Er hat mich froh, frei, stark und mutig gemacht und darum durfte ich ihn in seiner schwersten Stunde auch nicht im Stich lassen. Ich glaube, dass er jetzt bei uns ist, auch wenn sein Körper verfaulen wird, Jesus ist unter uns, da bin ich mir sicher."

Martha tat sich ein bisschen schwer mit dieser Vorstellung. Sie hatte erlebt, wie Jesus ihren vor Tagen verstorbenen Bruder wieder zum Leben auferweckt hatte. Lazarus lebte, aber er lebte genauso wie vorher, in seinem Körper, dem Werkzeug des Handelns. Was tat eine entleibte Seele? Sie hatte ja nicht einmal eine Stimme, um zu sprechen. Martha seufzte. Vielleicht konnte sie von Salome und Maria Klopas ja noch lernen, wie sie die Gegenwart Jesu fühlen konnte.

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