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Donnerstag, 14. April 2022
Karfreitagabend - Siebzehnte Stunde
c. fabry, 01:03h
Thomas goss seinen Becher erneut randvoll mit dem guten Wein, der noch vom Vorabend übrig war.
Philippus ergriff seinen Arm. "Trink nicht so viel, Thomas. Das tut dir nicht gut."
"Lass mich in Ruhe!", fuhr Thomas ihn an. "Ich will mich betrinken, dann kann ich vielleicht für ein paar Stunden vergessen in welcher verzweifelten Lage wir uns befinden. Danach sehe ich weiter."
"Danach siehst du erst mal gar nichts.", wandte Nathanael ein. "Im Weinrausch macht man leicht Fehler. Das können wir uns im Augenblick nicht leisten."
"Du redest so, als hättest du einen Plan.", erwiderte Thomas. "Aber wie soll es jetzt weitergehen? Das weiß doch keiner von uns."
"Geht es überhaupt weiter?", lautete Nathanaels Gegenfrage.
"Vielleicht.", meinte Philippus. "Falls sie uns nicht erwischen. Allerdings frage ich mich, wo wir vor der Verfolgung durch den Hohen Rat und die Römer am sichersten sind."
"Gute Frage.", sagte Thomas. "Der Zeltmacher aus Tarsus trommelt schon seine Truppen zusammen. Er will uns jagen. Und wen er erwischt, will er hinrichten lassen. Er ist jüdischer als jeder Israelit und will alle ausmerzen, die nicht dem wahren Glauben folgen."
"Auch die Römer?", fragte Nathanael.
"Nein.", erwiderte Thomas. "Die natürlich nicht. Mit den Mächtigen legt er sich nicht an. Dafür ist er zu feige ? oder zu schlau. Ich glaube, er ist so einer, der am liebsten auf der Gewinnerseite steht. Auf jeden Fall hat man ihn hier in der Gegend häufiger gesehen. Vielleicht sollten wir irgendwo hin ziehen, wo man uns am wenigsten erwartet, wo wir auch unseren Lebensunterhalt mit Fischerei verdienen können und so tun, als wären wir irgendeine Sippe, die von zu Hause weggezogen ist, weil das Haus abgebrannt ist oder weil es zu viel Streit gab."
"Aber welchen Sinn hat unser Dasein denn noch, wenn wir uns irgendwo verkriechen und gar nichts tun als fischen, essen und warten?", fragte Nathanael.
"Jesus hat ja mal gesagt, er sei der Weg.", gab Thomas zur Antwort. "Nur jetzt ist er tot. Sollen wir auch den Weg eines Toten gehen, uns verhaften, verhören und kreuzigen lassen? Über den Weg zum Vater sagte er einmal, dass er die Stätte für uns bereitet und wenn alles bereit sei, dürften wir nachkommen. Vielleicht wartet er schon auf uns."
"Ob wir wirklich alle dort ankommen werden?", zweifelte Philippus. "Ich habe nie zu dem erlesenen Kreis gehört, der vom Meister in alle Geheimnisse eingeweiht wurde, obwohl ich doch genauso aus Betsaida stamme wie Simon und Andreas."
"Die Herkunft dürfte dabei keine Rolle gespielt haben.", überlegte Nathanael. "Schließlich stammen die Söhne des Zebedäus auch nicht von da. Die Vier sind vermutlich die mit dem stärksten Glauben. Bei uns dreien ist der ja nicht so ausgeprägt."
"Dafür arbeitet unser Kopf so wie er soll.", entgegnete Thomas. "Im Schabbat-Leuchter des Petrus brennen die Kerzen nur mit kurzem Docht."
"Vielleicht die Kerzen des Verstandes.", meinte Philippus. "Für seine Flammen der Liebe und des Glaubens reicht aber keine noch so große Feuerschale."
"Und was nützt es ihm?", fragte Thomas. "Er sitzt genauso traurig, untätig und mutlos herum wie wir."
"Natürlich tut er das.", erklärte Nathanael. "Gestern um diese Zeit hat Jesus noch gelebt. Es braucht ein bisschen Zeit, um zu begreifen, dass der Mensch, der einem von allen der Wichtigste war, für immer verschwunden ist. Ich werde nie vergessen, wie ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Weißt du noch Philippus? Du sagtest, sie hätten den Messias gefunden, er sei der Sohn des Josef aus Nazareth. Nazareth, dieses gottverlassene Nest, wo es nichts gibt als Staub und ein paar arme Leute. Und ich habe dich gefragt: Was soll aus Nazareth Gutes kommen? Du hast mich aber bedrängt und schließlich war ich neugierig und bin mitgekommen. Und als wir ihn gefunden hatten, da sagte er mir auf den Kopf zu: 'Du bist ein richtiger Israelit, an dem nichts Falsches ist.'
Ich dachte, was redet der, der kennt mich doch überhaupt nicht. Also fragte ich ihn, woher er mich zu kennen glaubte. Und da sagte er, er hätte mich schon unter dem Feigenbaum sitzen sehen, bevor Philippus mich rief, aber das konnte er gar nicht wissen, dass ich da gesessen hatte, er hätte mich in dem Menschenauflauf nicht einmal sehen können.
Ich war ehrlich beeindruckt und habe ihm sofort gesagt, dass ich ihm glaube, dass er der Messias ist. Und da hat er mich ausgelacht. Ich kam mir richtig dämlich vor. Er meinte: 'Wenn du wegen solcher Kleinigkeiten schon an mich glaubst, was passiert dann mit dir, wenn du Zeuge wirklicher Wunder wirst. Und das verspreche ich dir: du wirst noch Größeres sehen.'"
"Und? Hast du?", fragte Thomas.
"Was für eine Frage!", erwiderte Nathanael. "Kurz darauf waren wir bei der Hochzeit zu Kana. Und du weißt doch selbst, was da noch alles kam: Heilungen, Brotwunder, Fischzug, Sturmstillung, Jesus auf dem See, die Auferweckung Toter."
"Nur sich selbst konnte er nicht retten.", erwiderte Thomas.
"Weil er es nicht wollte.", entgegnete Philippus.
"Aber warum nicht?", fragte Thomas mit einem Unterton der Verzweiflung. "Was zum Teufel soll gut daran sein, wenn der Meister sich umbringen lässt? Wem nützt das etwas außer den Mächtigen und denen, die wollen, das alles genauso bleibt wie es ist?"
"Wir müssen Geduld haben.", mahnte Philippus.
"Worauf warten wir denn?", fragte Thomas.
Philippus seufzte. "Ich weiß es nicht."
Nach einer Minute der Stille zwischen den Dreien sprach Nathanael seine Gedanken aus: "Ich habe immer darauf gewartet, dass es endlich losgeht, dass das Richtige passiert in meinem Leben. Dann kam Jesus. Drei Jahre lang hatte ich das wunderbare Gefühl, dass ich gebraucht werde, dass ich lebe, dass ich Teil von etwas Großem bin, dass ich etwas tun kann. Und jetzt soll ich schon wieder warten? Ich will nicht mehr warten. Ich will weitermachen."
"Das will ich auch.", erwiderte Philippus. "Ich weiß nur noch nicht wie."
Thomas wollte auch weitermachen, weiter suchen nach dem, das er noch nicht gefunden hatte, auch nicht in den drei Jahren, in denen er Jesus begleitet hatte. Aber das sagte er nicht.
Philippus ergriff seinen Arm. "Trink nicht so viel, Thomas. Das tut dir nicht gut."
"Lass mich in Ruhe!", fuhr Thomas ihn an. "Ich will mich betrinken, dann kann ich vielleicht für ein paar Stunden vergessen in welcher verzweifelten Lage wir uns befinden. Danach sehe ich weiter."
"Danach siehst du erst mal gar nichts.", wandte Nathanael ein. "Im Weinrausch macht man leicht Fehler. Das können wir uns im Augenblick nicht leisten."
"Du redest so, als hättest du einen Plan.", erwiderte Thomas. "Aber wie soll es jetzt weitergehen? Das weiß doch keiner von uns."
"Geht es überhaupt weiter?", lautete Nathanaels Gegenfrage.
"Vielleicht.", meinte Philippus. "Falls sie uns nicht erwischen. Allerdings frage ich mich, wo wir vor der Verfolgung durch den Hohen Rat und die Römer am sichersten sind."
"Gute Frage.", sagte Thomas. "Der Zeltmacher aus Tarsus trommelt schon seine Truppen zusammen. Er will uns jagen. Und wen er erwischt, will er hinrichten lassen. Er ist jüdischer als jeder Israelit und will alle ausmerzen, die nicht dem wahren Glauben folgen."
"Auch die Römer?", fragte Nathanael.
"Nein.", erwiderte Thomas. "Die natürlich nicht. Mit den Mächtigen legt er sich nicht an. Dafür ist er zu feige ? oder zu schlau. Ich glaube, er ist so einer, der am liebsten auf der Gewinnerseite steht. Auf jeden Fall hat man ihn hier in der Gegend häufiger gesehen. Vielleicht sollten wir irgendwo hin ziehen, wo man uns am wenigsten erwartet, wo wir auch unseren Lebensunterhalt mit Fischerei verdienen können und so tun, als wären wir irgendeine Sippe, die von zu Hause weggezogen ist, weil das Haus abgebrannt ist oder weil es zu viel Streit gab."
"Aber welchen Sinn hat unser Dasein denn noch, wenn wir uns irgendwo verkriechen und gar nichts tun als fischen, essen und warten?", fragte Nathanael.
"Jesus hat ja mal gesagt, er sei der Weg.", gab Thomas zur Antwort. "Nur jetzt ist er tot. Sollen wir auch den Weg eines Toten gehen, uns verhaften, verhören und kreuzigen lassen? Über den Weg zum Vater sagte er einmal, dass er die Stätte für uns bereitet und wenn alles bereit sei, dürften wir nachkommen. Vielleicht wartet er schon auf uns."
"Ob wir wirklich alle dort ankommen werden?", zweifelte Philippus. "Ich habe nie zu dem erlesenen Kreis gehört, der vom Meister in alle Geheimnisse eingeweiht wurde, obwohl ich doch genauso aus Betsaida stamme wie Simon und Andreas."
"Die Herkunft dürfte dabei keine Rolle gespielt haben.", überlegte Nathanael. "Schließlich stammen die Söhne des Zebedäus auch nicht von da. Die Vier sind vermutlich die mit dem stärksten Glauben. Bei uns dreien ist der ja nicht so ausgeprägt."
"Dafür arbeitet unser Kopf so wie er soll.", entgegnete Thomas. "Im Schabbat-Leuchter des Petrus brennen die Kerzen nur mit kurzem Docht."
"Vielleicht die Kerzen des Verstandes.", meinte Philippus. "Für seine Flammen der Liebe und des Glaubens reicht aber keine noch so große Feuerschale."
"Und was nützt es ihm?", fragte Thomas. "Er sitzt genauso traurig, untätig und mutlos herum wie wir."
"Natürlich tut er das.", erklärte Nathanael. "Gestern um diese Zeit hat Jesus noch gelebt. Es braucht ein bisschen Zeit, um zu begreifen, dass der Mensch, der einem von allen der Wichtigste war, für immer verschwunden ist. Ich werde nie vergessen, wie ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Weißt du noch Philippus? Du sagtest, sie hätten den Messias gefunden, er sei der Sohn des Josef aus Nazareth. Nazareth, dieses gottverlassene Nest, wo es nichts gibt als Staub und ein paar arme Leute. Und ich habe dich gefragt: Was soll aus Nazareth Gutes kommen? Du hast mich aber bedrängt und schließlich war ich neugierig und bin mitgekommen. Und als wir ihn gefunden hatten, da sagte er mir auf den Kopf zu: 'Du bist ein richtiger Israelit, an dem nichts Falsches ist.'
Ich dachte, was redet der, der kennt mich doch überhaupt nicht. Also fragte ich ihn, woher er mich zu kennen glaubte. Und da sagte er, er hätte mich schon unter dem Feigenbaum sitzen sehen, bevor Philippus mich rief, aber das konnte er gar nicht wissen, dass ich da gesessen hatte, er hätte mich in dem Menschenauflauf nicht einmal sehen können.
Ich war ehrlich beeindruckt und habe ihm sofort gesagt, dass ich ihm glaube, dass er der Messias ist. Und da hat er mich ausgelacht. Ich kam mir richtig dämlich vor. Er meinte: 'Wenn du wegen solcher Kleinigkeiten schon an mich glaubst, was passiert dann mit dir, wenn du Zeuge wirklicher Wunder wirst. Und das verspreche ich dir: du wirst noch Größeres sehen.'"
"Und? Hast du?", fragte Thomas.
"Was für eine Frage!", erwiderte Nathanael. "Kurz darauf waren wir bei der Hochzeit zu Kana. Und du weißt doch selbst, was da noch alles kam: Heilungen, Brotwunder, Fischzug, Sturmstillung, Jesus auf dem See, die Auferweckung Toter."
"Nur sich selbst konnte er nicht retten.", erwiderte Thomas.
"Weil er es nicht wollte.", entgegnete Philippus.
"Aber warum nicht?", fragte Thomas mit einem Unterton der Verzweiflung. "Was zum Teufel soll gut daran sein, wenn der Meister sich umbringen lässt? Wem nützt das etwas außer den Mächtigen und denen, die wollen, das alles genauso bleibt wie es ist?"
"Wir müssen Geduld haben.", mahnte Philippus.
"Worauf warten wir denn?", fragte Thomas.
Philippus seufzte. "Ich weiß es nicht."
Nach einer Minute der Stille zwischen den Dreien sprach Nathanael seine Gedanken aus: "Ich habe immer darauf gewartet, dass es endlich losgeht, dass das Richtige passiert in meinem Leben. Dann kam Jesus. Drei Jahre lang hatte ich das wunderbare Gefühl, dass ich gebraucht werde, dass ich lebe, dass ich Teil von etwas Großem bin, dass ich etwas tun kann. Und jetzt soll ich schon wieder warten? Ich will nicht mehr warten. Ich will weitermachen."
"Das will ich auch.", erwiderte Philippus. "Ich weiß nur noch nicht wie."
Thomas wollte auch weitermachen, weiter suchen nach dem, das er noch nicht gefunden hatte, auch nicht in den drei Jahren, in denen er Jesus begleitet hatte. Aber das sagte er nicht.
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Mittwoch, 13. April 2022
Karfreitagabend - Sechzehnte Stunde
c. fabry, 01:16h
Simon aus Betsaida, Sohn des Jona, Bruder des Andreas blickte noch immer stumm in die verhalten murmelnde Runde. Wer waren sie vor drei Jahren gewesen und wer waren sie heute? Er erinnerte sich an seine Jugend, wie er als Heranwachsender die Kunst des Fischens auf dem See lernte und das neu erworbene Wissen sofort an den unwesentlich jüngeren Bruder Andreas weitergab. Wie er dachte, das sei nun sein Leben, wie er immer besser wurde, heiratete, hart arbeitete und langsam das Gefühl hatte, alles zu wissen.
Und dann hatte Jesus ihm gezeigt, dass er gar nichts wusste. Er hatte dem Rabbi sein Boot als Kanzel zur Verfügung gestellt und dann, nach einer erfolglosen Nacht auf dem See, der plötzlich wie ausgestorben war, hatte Jesus vorgeschlagen, noch einmal hinauszufahren und an einer ganz bestimmten Stelle die Netze auszuwerfen. Jeden anderen hätte er für unfähig erklärt und eigentlich auch diesen Jesus von Nazareth, der nichts weiter war als ein Zimmermann und Wanderprediger, was verstand der schon vom Fischen? Eigentlich gar nichts, aber er hatte ein Gespür für Menschen, einen Riecher dafür, mit wem er es zu tun hatte, eine Art sechsten Sinn. Und Jesus hatte ihn damals längst in seinen Bann gezogen mit diesem Blick und dieser Stimme, die einem das Gefühl gaben, gesehen und wertgeschätzt zu werden und außerdem unendlich viel zu wissen. Darum tat er genau das, was dieser ehrwürdige Rabbi vorgeschlagen hatte und siehe da, die Netze barsten vor Fischen, ein Jahrhundertfang, alle mussten mit anfassen, um die Beute sicher an Land zu bringen. Wenn er bis dahin vielleicht noch den Hauch eines Zweifels verspürt hatte, als das geschah, begann sein ganzer Körper zu kribbeln und er hatte gespürt, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Handwerker aus der Gegend war, nein, er besaß eine besondere Macht, eine Macht, die Gutes bewirken und die Welt verändern konnte. Und so warf er sich ehrfürchtig zu seinen Füßen, bereit sich unterzuordnen und Jesus zu dienen. Fortan war er sein Held gewesen, doch er hatte ihn verraten.
"Ich hatte ja von der Heilung der blutflüssigen Frau gehört.", hörte er Susanna zu Maria von Bethanien sagen. "Sie hatte nur den Saum seines Gewandes berührt und war augenblicklich geheilt."
Simon Petrus erinnerte sich an diese Szene. Eine riesige Menschenmenge hatte Jesus bedrängt und plötzlich hatte er innegehalten, irritiert hatte er seine Jünger angestarrt und gesagt: "Jemand hat mich berührt, eine Kraft ist von mir ausgegangen."
Jetzt dreht er langsam durch, war wohl alles ein bisschen zu viel in den letzten Tagen, hatte Petrus gedacht. "Meister", hatte er zu Jesus gesagt, "du bist umgeben von hunderten von Leuten. Alle versuchen dich zu berühren. Wie kannst du da einen Einzelnen vom Rest unterscheiden?"
Doch Jesus hatte auf seiner Wahrnehmung bestanden und die geheilte Frau hatte sich offenbart. Als sei das nicht genug an Wundern für einen Tag gewesen, waren direkt einige Leute auf Jesus zugekommen, um ihn zu einem kranken, bettlägerigen Mädchen zu führen. Es war die Tochter des Jairus, ein schwächliches Kind, sie hatte dagelegen wie tot, vielleicht war sie sogar schon hinübergeglitten in die Schattenwelt, doch Jesus hatte einfach ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass sie aufstehen solle und augenblicklich war sie wach geworden, aufgestanden und gesund herumgelaufen. Und er, Petrus, gehörte zum erlesenen Kreis, der Jesus begleiten durfte.
Ein weiterer Gesprächsfetzen drang an sein Ohr: "Wer hat jetzt eigentlich den Geldbeutel? Wir müssen doch übermorgen wieder einkaufen.", sorgte sich Thaddäus.
"Ja, blöd.", antwortete Matthäus. "Auch wenn er ein Verräter war. Judas wird uns noch fehlen. Ich wette in Zukunft sind wir chronisch pleite."
Judas Iskarioth. Was für ein schlauer Fuchs der doch gewesen war. Simon Petrus hatte sich ihm immer unterlegen gefühlt, wenn es darum ging, spontan die richtige Entscheidung zu treffen oder darum, Zusammenhänge vollends zu begreifen. Petrus war immer bereit, dazuzulernen, sich eines Besseren belehren zu lassen, allerdings war er nicht besonders schlau und oft nicht intelligent genug, um die Materie vollständig zu durchdringen. Seine intellektuelle Schwäche glich er durch Engagement und unbedingte Loyalität aus. Das war seine Stärke und hier ließen Judas Qualitäten zu wünschen übrig. Verschlagen war er gewesen, selbstsüchtig und von einer eigenartigen Eitelkeit. Er hatte sich immer mehr um die eigene Haut gesorgt, als um die Gemeinschaft. Bedingungslose Gefolgschaft war nicht seine Sache gewesen, er selbst dagegen, Simon, der Fels, konnte sich in eine regelrechte Naturgewalt verwandeln, wenn die Lage es erforderte. Ein gewaltiger Sturm hatte in ihm getost, als die Soldaten den Meister verhafteten und die ganze Energie hatte sich in einem einzigen Schwerthieb entladen, mit dem er einem Soldaten das Ohr abtrennte. Aber wenn er ehrlich war, hatte das nicht nur gar nichts genützt ? Jesus hatte den Verletzten sogar schnell und unkompliziert geheilt ? im Gegenteil, sie hatten Jesus einfach mitgenommen und in dem plötzlichen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen war er voller Todesangst geflohen. Zwar hatte er sich nicht verkrochen, sondern war dem Tross hinterhergeschlichen, um zu sehen, ob er nicht doch noch etwas ausrichten konnte, aber auch dabei hatte er keine Haltung bewiesen. Drei Mal hatte man ihn darauf angesprochen, dass er doch einer der Gefolgsleute des Nazareners sei und drei Mal hatte er es vehement abgestritten, ausgerechnet er, der gern seine starke Bindung an Jesus öffentlich demonstriert hatte. Er sah sich gern als einen, der dazu gehört, Bescheid weiß, Verantwortung trägt. Einmal hatte er gefragt, ob die Anforderungen, von denen Jesus sprach, nur für die Jünger oder für alle Menschen gelten. Schließlich hatte er seine Jünger nicht umsonst ausgewählt, sie hatten einen Auftrag. Jesus schloss jeden in seine Ansprachen ein, es galt für alle Menschen. Das war ein schwerer Brocken für Simon Petrus. Er teilte gern das Brot mit anderen, aber nicht seinen Rabbi, das fiel ihm schwer.
Er hatte ihm geschworen, dass er ihm immer die Treue halten und niemals wortbrüchig werden würde, aber Jesus hatte längst um seine Schwäche gewusst und den dreifachen Verrat angekündigt. Jetzt schämte er sich. und begann wieder verzweifelt zu schluchzen.
"Hör mal, Johannes, wusstest du eigentlich, dass ich es war, der Simon mit Jesus bekannt gemacht hat?", hörte Petrus seinen Bruder Andreas sagen.
"Ich erinnere mich dunkel.", erwiderte Johannes. "Aber das ist ja schon drei Jahre her."
"Ich war ja damals ein Freund des Täufers und schon aktiver in den Kreisen derer, die etwas bewegen wollten, während mein Bruder sich mehr um die Boote und die Fische sorgte. Jesus hat ihn genau da gepackt, wo man ihn packen musste: bei seinem Beruf, bei dem, was er schon immer am besten konnte. Darum hat er gesagt: 'Ich will euch zu Menschenfischern machen.' Und Simon war sofort Feuer und Flamme. Da konnte er direkt wieder zeigen, was für ein Pfundskerl er war."
"Das musste er doch gar nicht beweisen.", erwiderte Johannes gelassen. "Jeder weiß, dass Petrus stark und fleißig ist und ordentlich was wegschafft. Kein Wunder dass Jesus ihm diesen Beinamen verpasst hat."
Die ersten Augenblicke mit dem Meister schossen Petrus wie lebendige Bilder durch den Kopf. Der Besuch mit Jesus, Andreas, Jakobus und Johannes in der Synagoge, wo er sich hinstellte und lehrte und den Unmut der altehrwürdigen Schriftgelehrten erregte. Einer, der die Traditionalisten durchschüttelte, indem er ihnen die Wahrheit entgegenschleuderte, sanft aber kraftvoll. Direkt danach hatte er einen Besessenen von einem bösen Geist befreit. So etwas hatte der junge Simon nie zuvor gesehen und er hätte nicht für möglich gehalten, dass er eines Tages selbst dazu in der Lage sein würde. Schließlich war er zu Gast in seinem Haus gewesen, wo Simons Schwiegermutter zitternd im Bett lag und schon seit Tagen an einem hohen Fieber litt. Jesus hatte ihr seine segnenden Hände aufgelegt und sie war augenblicklich geheilt gewesen. So einen Menschen gab es ja gar nicht, der konnte nur direkt von Gott kommen.
"Seht mal, ich habe den Geldbeutel gefunden!", rief Martha erfreut.
"Oh, ich hätte erwartet, dass er ihn behält.", bemerkte Jakobus Alphäus.
"Was machen wir denn jetzt damit?", fragte Martha. "Zu essen haben wir im Moment genug. Sollen wir es den Armen spenden, bevor die Steuereintreiber es sich holen?"
"So schlimm wäre das gar nicht."meinte Johannes. "Wisst ihr noch wie Jesus gesagt hat, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist?"
"Bei der Tempelsteuer war er aber nicht so freigiebig.", erklärte Petrus und zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag zauberte die Erinnerung ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Wir kamen nach Kapernaum, da kamen die Steuereintreiber, die den Tempelgroschen einnehmen, auf mich zu und sagten: 'Zahlt euer Meister nicht den Tempelgroschen?' Und ich sagte 'Doch, natürlich.' Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jesus etwas nicht tut, das von jedem frommen Juden erwartet wird. Also ging ich ins Haus, um Geld zu holen und da sprach Jesus mich an und sagte: 'Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige der Welt Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?' 'Von den Fremden.', habe ich geantwortet. Ich meine, die Römer schröpfen uns ja auch mehr als ihre eigenen Bürger. Da sagte Jesus einen seltsamen Satz: 'So sind die Kinder frei.' - Er meinte damit tatsächlich, dass er als Sohn Gottes keinen Beitrag leisten müsse. Eigentlich hatten sie kein Recht, irgendetwas von ihm zu verlangen. Aber er wollte keinen Ärger, dafür war ihm die Sache nicht wichtig genug, allerdings wollte er auch nicht an unsere Reserven gehen und dann gab er mir einen ziemlich eigenartigen Auftrag: 'Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben' sagte er 'geh hin an das Meer und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib's ihnen für mich und dich.' Und dann habe ich gemacht, was er mir gesagt hat und tatsächlich habe ich einen dicken Fisch aus dem See gezogen, der ein Zweigroschenstück im Maul hatte."
"Ich finde Simon Petrus sollte unser neuer Schatzmeister werden.", scherzte Philippus.
"Wegen dieser alten Geschichte?", fragte Petrus ungläubig.
"Nicht nur deswegen.", erwiderte Philippus. "Ich kenne dich von Kindesbeinen an, schließlich stamme ich auch aus Bethsaida. Du bist schon immer eine ehrliche Haut gewesen, dir würde ich sogar mein Leben anvertrauen. Und Jesus hielt große Stücke auf dich. Auf die Frage, für wen die Leute Jesus halten, haben wir alle unterschiedliche Antworten gegeben. Auch auf die Frage, für wen wir ihn halten, kamen seltsame, komplizierte Erklärungen, aber du, Simon gabst die Antwort, er sei Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Du hast von uns allen den stärksten Glauben und du stehst zu deinen Überzeugungen. Darum nannte Jesus dich Petrus, den Fels auf dem er seine Kirche bauen wolle, sprach dir die Himmelsschlüssel zu und eine irdische Macht, Dinge auf Erden für immer zu verbinden oder für immer zu lösen."
"Das kann ja alles sein.", entgegnete Petrus, "aber ich bin es nicht wert, derartig bevorzugt zu werden, schließlich habe ich den Meister verleugnet und mich feige verdrückt."
"Das haben wir alles außer Johannes.", erwiderte Bartholomäus. "Weißt du nicht mehr, wie du beteuert hast, dass du für Jesus auf alles verzichtet hast: dein geregeltes Einkommen, deinen Platz in der Familie, so wie wir alle? Und Jesus hat dir und allen anderen zugesichert, dass wir dafür hundertfach entschädigt werden. Wir haben am Ende alle Fehler gemacht, aber wir haben in den letzten drei Jahren auch vieles richtig gemacht. Und du ganz besonders, Petrus."
"Unsinn.", sagte Petrus. "Ich bin nur selbstsüchtig. Ich wollte Jesus den Leidensweg ausreden, da wurde ich hart von ihm angegangen, aus mir spreche der Satan, das menschliche Bedürfnis, vielleicht die Selbstsucht, nicht der göttliche Plan."
"Du hast ihn von allen am meisten geliebt.", erklärte Johannes. "Sei nicht zu streng mit dir. Wer liebt, der will auch etwas. Und niemand hat ihm so bedingungslos vertraut wie du. Weißt du noch, wie du ihm auf dem Wasser entgegengelaufen bist?"
"Ja, aber da habe ich ihn auch schon verraten", antwortete Petrus, "denn auf einmal hatte ich Zweifel und bin prompt versunken und er musste mich retten. Und ich? Ich habe ihn verraten."
"Jetzt ist es aber mal gut!", schimpfte Simon Kananäus. "Hör auf, dich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden. Du hast immer zum exklusiven Kreis seiner Lieblingsjünger gehört!"
Petrus schwieg und erinnerte sich im Stillen. Er kannte seinen Platz und hätte sich nie etwas angemaßt, das ihm nicht zustand. Er wollte unbedingt immer alles richtig machen, zu hundert Prozent.
So wie damals, als er zusammen mit den Brüdern Jakobus und Johannes bei der Verklärung Jesu auf dem Berg dabei war. So ergriffen war er von diesem besonderen Moment, dass er direkt drei Hütten bauen wollte: eine für Mose, eine für Elia und eine für Jesus. Er neigte schon immer zu blindem Aktionismus. Genau wie später, als er bei Jesu Verhaftung auf den Soldaten losging. Er lebte ganz im Hier und Jetzt und hätte gern gehabt, dass es immer so bliebe. Er wollte das Glück mit Jesus unbedingt festhalten, notfalls mit Gewalt. Und dann musste er alles, was er dort auf dem Berg erlebt hatte, bis zu einem Tag, der noch in weiter Ferne lag, für sich behalten. Er würde auch jetzt nicht darüber reden. Er wollte der vertrauenswürdige Simon bleiben, als den Jesus ihn gekannt hatte.
Das war nicht der einzige besondere Moment, den der Meister nur mit ihm, seinem Bruder und den Söhnen des Zebedäus geteilt hatte. Reden über die Endzeit hatte er in der vertraulichen Runde gehalten. Die anderen wussten nichts davon. Von falschen Propheten und verheerenden Kriegen hatte der Meister gesprochen, von Erdbeben und Hungersnöten und das sei erst der Anfang. Auch dass man sie, die Jünger, um Jesus willen vor Gericht stellen würde, dass sie gehasst werden würden, aber am Ende die Rettung stehe. Jesus selbst käme zurück, begleitet von Engeln. Der Tag sei nahe, aber der Zeitpunkt ungewiss. Hatte die Endzeit schon begonnen? War Jesu Tod nicht mehr als ein Vorzeichen, vielmehr ein Paukenschlag?
Ach und er hatte derartig versagt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. In der Stunde der größten Angst und Not hatte er es nicht einmal geschafft, wach zu bleiben, um dem Meister mit Trost und Anteil nehmender Gegenwart beizustehen.
Doch er war nicht der Lieblingsjünger Jesu, das war Johannes. Darum hatte er ihn auch gebeten, aus Jesus heraus zu kitzeln, wer ihn verraten würde.
Beim Abendmahl kam es zum Rangstreit unter den Jüngern und Jesus erklärte ihm, dass der Satan die Jünger sieben wolle wie Weizen, dass er, Jesus, aber für ihn, Simon, gebetet habe, dass sein Glaube stark bleibe. Er müsse künftig für seine Brüder sorgen. Petrus versprach unbedingte Gefolgschaft, und dann kündigte Jesus die feigen Verleugnungen bis zum Hahnenschrei an. Das war wie ein Faustschlag ins Gesicht, eine brüske Zurückweisung, ein Vom-Sockel-Schubsen.
Petrus blickte weiter in die Runde. Alle hatten sie von Jesus die Macht über unreine Geister erhalten. Und jetzt? Wohnten diese Geister nicht in jedem von ihnen? Er seufzte. Als Junge war seine Welt so begrenzt gewesen. Man holte Fische aus dem See und Früchte vom Feld und von den Bäumen. Man wusste, was nötig war, um zu überleben und dass ein Baum, der keine Früchte trug, nichts weiter war als Platzverschwendung. Der wurde abgehauen und an seiner Stelle ein neuer gepflanzt. Dass jemand einen Baum aber von einem Augenblick auf den anderen verdorren lassen konnte, das hatte er nie zuvor erlebt. So etwas konnte nur Jesus. Und so hatte er gezeigt, wie der göttliche Zorn wüten konnte, über denen, die ein fruchtloses Leben führten. Käme dieser Zorn nun über sie alle? Was konnten sie schon ausrichten? Sie saßen hier, versteckten sich, zitterten vor Angst und schoben sich Nahrung in den Mund, die denen, die wirklich etwas bewirkten, besser gedient hätte. Konnte Gott ihnen ihr Fehlverhalten vergeben, wenn er sich nicht einmal selbst vergeben konnte? Er erinnerte sich an eine Geschichte.
Jesus hatte immer wieder von Vergebung gesprochen. Simon war damit durchaus einverstanden, jedoch gab es Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, die ihn immer wieder übervorteilt hatten, sooft sie auch Besserung gelobten, sie schafften es einfach nicht, anständig zu bleiben. Irgendwann musste es auch mal genug sein mit dem großen Herzen, fand er und so fragte er Jesus: "Sag mal, Meister, wie oft muss ich meinem Bruder denn vergeben? Reichen sieben Mal?"
"Sieben mal siebzig Mal.", forderte Jesus und erzählte das Gleichnis vom Schalksknecht. Gott vergibt dem, der selbst bereit ist, zu vergeben.
Und jetzt hatte Simon Petrus Gottes Vergebung nötiger als je zuvor in seinem Leben. Der Kummer darüber und die unendliche Scham trieben ihm erneut die Tränen in die Augen, die gar nicht mehr aufhören wollten, wie Bäche aus ihm herauszuströmen und Schluchzer schüttelten seine Brust.
Susanna setzte sich zu ihm und legte ihm tröstend eine Hand in den gebeugten Rücken. Sie sagte: "Jesus hätte nicht gewollt, dass du dich selbst zerfleischt. Wir haben alle Fehler gemacht und werden auch immer wieder daneben greifen. So sind wir Menschen. Jesus wusste das und hat uns so geliebt, wie wir sind. Auch dich. Dich ganz besonders. Dich hat er ausgesucht, um zusammen mit Johannes das Passahmahl vorzubereiten. Denn er wusste, dass du tust, was man dir aufträgt, ohne nach dem Warum zu fragen und ohne, dass dich jemand antreiben muss."
"Ja", sagte Petrus. "Das war mir immer wichtig, dass er mich auserwählt hat. Aber das war so selbstsüchtig. Bis zum Schluss. Sogar bei unserem Abschiedsessen Bei der Fußwaschung fand ich es zunächst unangemessen, dass Jesus mir die Füße waschen wollte und nicht umgekehrt. Als Jesus darauf bestand, wollte ich am ganzen Körper gewaschen werden. Ich wollte gern ein Auserwählter sein, jemand Besonderes, obwohl mir im Grunde immer klar war, dass mir tatsächlich keine herausragende Stellung zusteht. Ich habe ja längst erkannt, dass Jesus für alle Menschen da sein will, nicht nur für einen erlesenen Kreis. Ich finde das auch richtig, aber es schmerzt mich. Heimlich habe ich doch immer gehofft, für immer und ewig der beste Freund und Bruder meines Meisters zu sein."
"Aber das bist du doch.", entgegnete Susanna.
Petrus schüttelte energisch den Kopf. "Johannes ist so ein Jünger. Klug, still, bescheiden und besonnen. Ich dagegen bin aufbrausend, jähzornig und schwer von Begriff. Der Herr konnte mich gebrauchen, aber am meisten geliebt hat er Johannes."
"Johannes hat auch seine Schattenseiten.", entgegnete Susanna. "Nur weil sie für uns nicht sichtbar sind, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Wir alle lernen unser Leben lang und du musst eben lernen, deine Wut zu bezwingen. Oder sagen wir lieber, sie zu bändigen, denn sie ist nicht eigentlich etwas Schlechtes. In deinem Zorn steckt eine große Kraft und manchmal ist es von Vorteil, wenn diese Kraft sich Bahn bricht, zum Beispiel, wenn man für etwas kämpfen muss."
"Ja", pflichtete Petrus ihr bei. "Das habe ich früher auch immer gedacht. Aber Jesus wollte nicht, dass wir kämpfen. Es geht mir heute noch so, dass ich nicht immer alles aushalten und hinnehmen will, ich will zurückschlagen, wenn mir einer wehtut, will die, die ich liebe, verteidigen. Aber Jesus hat den Frieden gepredigt und den neuen Menschen. Ich muss ein neuer Mensch werden, doch das ist mir bis heute nicht gelungen."
"Du bist zu streng mit dir.", sagte Susanna. "Keiner von uns hat so viel für den Meister gegeben wie du."
"Ich hätte alles für ihn getan.", erwiderte Petrus. "Ich war so begeistert von ihm, aber ich wollte auch etwas zurückbekommen, nämlich die gleiche Liebe und Bewunderung, die ich für ihn aufgebracht habe. Das war anmaßend und dumm."
"Unsinn.", entgegnete Susanna. "Das ist menschlich. Und du hast ja nicht deinen Zorn über ihn ausgegossen, als du gewahr wurdest, dass er alle Menschen liebt und niemanden wirklich bevorzugt. Du hast dein Los demütig angenommen und ihm weiter die Treue gehalten."
"Weil es mich stolz machte, dass er mir etwas zutraute. Leider wurde ich dabei auch immer etwas größenwahnsinnig und er musste mich auf den Boden zurückholen."
"Aber du hast aus deinen Fehlern gelernt und bist noch immer bereit, dich zu verändern. Sieh dich doch einmal um. Es gibt nicht viele, die solchen Mut und solche Kraft haben."
"Von wegen Mut und Kraft.", seufzte Petrus. "Sieh mich Elenden doch an. Meine Scham ist größer als ich, kein Versteck abgelegen genug, um mich zu verbergen. So große Versprechen habe ich herausposaunt und nichts ist davon übriggeblieben, als Kleinmut und Furcht um mein unbedeutendes Leben."
"Vielleicht verlangst du oft mehr von dir, als du schaffen kannst. Du bist ein Mensch, kein Gott, kein Messias, nur sein Helfer und Begleiter. Aber das hast du immer hervorragend gemacht. Und wenn du dich im Moment der größten Gefahr in Sicherheit gebracht hast, dann zeigt das nur deinen Willen zu überleben. Wie willst du denn ein lebendiges Werkzeug Gottes sein, eine Zeuge des Messias, wenn du dich von räudigen Soldaten erschlagen lässt? Glaubst du die anderen blicken auf dich herab? Ganz im Gegenteil! Sie sehen ehrfürchtig zu dir auf, sie bewundern dich für deine Treue, deine Tatkraft und deine tiefe, unerschütterliche Überzeugung. Und ich tue das auch. Heute Abend saß ich vor meinem Haus und war in Trübsal versunken. Ich war kurz davor, wieder die zu werden, die ich vor meiner Begegnung mit Jesus war. Eine schwache, kranke, unglückliche, einsame Frau, die es kaum schafft, sich selbst zu versorgen. Und dann habe ich an dich gedacht. Simon Petrus, habe ich gedacht, der würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Der war dem Herrn so nahe, der trägt ihn für immer in seinem Herzen. Und darum bin ich hier her gekommen, um den Menschen nahe zu sein, die Jesus in sich tragen, damit ich mich weiter in seinem Glanz wärmen kann und stark, gesund und glücklich bleiben, wie ich es seit meiner Begegnung mit Jesus bin ? und nie mehr allein."
Und dann hatte Jesus ihm gezeigt, dass er gar nichts wusste. Er hatte dem Rabbi sein Boot als Kanzel zur Verfügung gestellt und dann, nach einer erfolglosen Nacht auf dem See, der plötzlich wie ausgestorben war, hatte Jesus vorgeschlagen, noch einmal hinauszufahren und an einer ganz bestimmten Stelle die Netze auszuwerfen. Jeden anderen hätte er für unfähig erklärt und eigentlich auch diesen Jesus von Nazareth, der nichts weiter war als ein Zimmermann und Wanderprediger, was verstand der schon vom Fischen? Eigentlich gar nichts, aber er hatte ein Gespür für Menschen, einen Riecher dafür, mit wem er es zu tun hatte, eine Art sechsten Sinn. Und Jesus hatte ihn damals längst in seinen Bann gezogen mit diesem Blick und dieser Stimme, die einem das Gefühl gaben, gesehen und wertgeschätzt zu werden und außerdem unendlich viel zu wissen. Darum tat er genau das, was dieser ehrwürdige Rabbi vorgeschlagen hatte und siehe da, die Netze barsten vor Fischen, ein Jahrhundertfang, alle mussten mit anfassen, um die Beute sicher an Land zu bringen. Wenn er bis dahin vielleicht noch den Hauch eines Zweifels verspürt hatte, als das geschah, begann sein ganzer Körper zu kribbeln und er hatte gespürt, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Handwerker aus der Gegend war, nein, er besaß eine besondere Macht, eine Macht, die Gutes bewirken und die Welt verändern konnte. Und so warf er sich ehrfürchtig zu seinen Füßen, bereit sich unterzuordnen und Jesus zu dienen. Fortan war er sein Held gewesen, doch er hatte ihn verraten.
"Ich hatte ja von der Heilung der blutflüssigen Frau gehört.", hörte er Susanna zu Maria von Bethanien sagen. "Sie hatte nur den Saum seines Gewandes berührt und war augenblicklich geheilt."
Simon Petrus erinnerte sich an diese Szene. Eine riesige Menschenmenge hatte Jesus bedrängt und plötzlich hatte er innegehalten, irritiert hatte er seine Jünger angestarrt und gesagt: "Jemand hat mich berührt, eine Kraft ist von mir ausgegangen."
Jetzt dreht er langsam durch, war wohl alles ein bisschen zu viel in den letzten Tagen, hatte Petrus gedacht. "Meister", hatte er zu Jesus gesagt, "du bist umgeben von hunderten von Leuten. Alle versuchen dich zu berühren. Wie kannst du da einen Einzelnen vom Rest unterscheiden?"
Doch Jesus hatte auf seiner Wahrnehmung bestanden und die geheilte Frau hatte sich offenbart. Als sei das nicht genug an Wundern für einen Tag gewesen, waren direkt einige Leute auf Jesus zugekommen, um ihn zu einem kranken, bettlägerigen Mädchen zu führen. Es war die Tochter des Jairus, ein schwächliches Kind, sie hatte dagelegen wie tot, vielleicht war sie sogar schon hinübergeglitten in die Schattenwelt, doch Jesus hatte einfach ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass sie aufstehen solle und augenblicklich war sie wach geworden, aufgestanden und gesund herumgelaufen. Und er, Petrus, gehörte zum erlesenen Kreis, der Jesus begleiten durfte.
Ein weiterer Gesprächsfetzen drang an sein Ohr: "Wer hat jetzt eigentlich den Geldbeutel? Wir müssen doch übermorgen wieder einkaufen.", sorgte sich Thaddäus.
"Ja, blöd.", antwortete Matthäus. "Auch wenn er ein Verräter war. Judas wird uns noch fehlen. Ich wette in Zukunft sind wir chronisch pleite."
Judas Iskarioth. Was für ein schlauer Fuchs der doch gewesen war. Simon Petrus hatte sich ihm immer unterlegen gefühlt, wenn es darum ging, spontan die richtige Entscheidung zu treffen oder darum, Zusammenhänge vollends zu begreifen. Petrus war immer bereit, dazuzulernen, sich eines Besseren belehren zu lassen, allerdings war er nicht besonders schlau und oft nicht intelligent genug, um die Materie vollständig zu durchdringen. Seine intellektuelle Schwäche glich er durch Engagement und unbedingte Loyalität aus. Das war seine Stärke und hier ließen Judas Qualitäten zu wünschen übrig. Verschlagen war er gewesen, selbstsüchtig und von einer eigenartigen Eitelkeit. Er hatte sich immer mehr um die eigene Haut gesorgt, als um die Gemeinschaft. Bedingungslose Gefolgschaft war nicht seine Sache gewesen, er selbst dagegen, Simon, der Fels, konnte sich in eine regelrechte Naturgewalt verwandeln, wenn die Lage es erforderte. Ein gewaltiger Sturm hatte in ihm getost, als die Soldaten den Meister verhafteten und die ganze Energie hatte sich in einem einzigen Schwerthieb entladen, mit dem er einem Soldaten das Ohr abtrennte. Aber wenn er ehrlich war, hatte das nicht nur gar nichts genützt ? Jesus hatte den Verletzten sogar schnell und unkompliziert geheilt ? im Gegenteil, sie hatten Jesus einfach mitgenommen und in dem plötzlichen Bewusstsein der möglichen Konsequenzen war er voller Todesangst geflohen. Zwar hatte er sich nicht verkrochen, sondern war dem Tross hinterhergeschlichen, um zu sehen, ob er nicht doch noch etwas ausrichten konnte, aber auch dabei hatte er keine Haltung bewiesen. Drei Mal hatte man ihn darauf angesprochen, dass er doch einer der Gefolgsleute des Nazareners sei und drei Mal hatte er es vehement abgestritten, ausgerechnet er, der gern seine starke Bindung an Jesus öffentlich demonstriert hatte. Er sah sich gern als einen, der dazu gehört, Bescheid weiß, Verantwortung trägt. Einmal hatte er gefragt, ob die Anforderungen, von denen Jesus sprach, nur für die Jünger oder für alle Menschen gelten. Schließlich hatte er seine Jünger nicht umsonst ausgewählt, sie hatten einen Auftrag. Jesus schloss jeden in seine Ansprachen ein, es galt für alle Menschen. Das war ein schwerer Brocken für Simon Petrus. Er teilte gern das Brot mit anderen, aber nicht seinen Rabbi, das fiel ihm schwer.
Er hatte ihm geschworen, dass er ihm immer die Treue halten und niemals wortbrüchig werden würde, aber Jesus hatte längst um seine Schwäche gewusst und den dreifachen Verrat angekündigt. Jetzt schämte er sich. und begann wieder verzweifelt zu schluchzen.
"Hör mal, Johannes, wusstest du eigentlich, dass ich es war, der Simon mit Jesus bekannt gemacht hat?", hörte Petrus seinen Bruder Andreas sagen.
"Ich erinnere mich dunkel.", erwiderte Johannes. "Aber das ist ja schon drei Jahre her."
"Ich war ja damals ein Freund des Täufers und schon aktiver in den Kreisen derer, die etwas bewegen wollten, während mein Bruder sich mehr um die Boote und die Fische sorgte. Jesus hat ihn genau da gepackt, wo man ihn packen musste: bei seinem Beruf, bei dem, was er schon immer am besten konnte. Darum hat er gesagt: 'Ich will euch zu Menschenfischern machen.' Und Simon war sofort Feuer und Flamme. Da konnte er direkt wieder zeigen, was für ein Pfundskerl er war."
"Das musste er doch gar nicht beweisen.", erwiderte Johannes gelassen. "Jeder weiß, dass Petrus stark und fleißig ist und ordentlich was wegschafft. Kein Wunder dass Jesus ihm diesen Beinamen verpasst hat."
Die ersten Augenblicke mit dem Meister schossen Petrus wie lebendige Bilder durch den Kopf. Der Besuch mit Jesus, Andreas, Jakobus und Johannes in der Synagoge, wo er sich hinstellte und lehrte und den Unmut der altehrwürdigen Schriftgelehrten erregte. Einer, der die Traditionalisten durchschüttelte, indem er ihnen die Wahrheit entgegenschleuderte, sanft aber kraftvoll. Direkt danach hatte er einen Besessenen von einem bösen Geist befreit. So etwas hatte der junge Simon nie zuvor gesehen und er hätte nicht für möglich gehalten, dass er eines Tages selbst dazu in der Lage sein würde. Schließlich war er zu Gast in seinem Haus gewesen, wo Simons Schwiegermutter zitternd im Bett lag und schon seit Tagen an einem hohen Fieber litt. Jesus hatte ihr seine segnenden Hände aufgelegt und sie war augenblicklich geheilt gewesen. So einen Menschen gab es ja gar nicht, der konnte nur direkt von Gott kommen.
"Seht mal, ich habe den Geldbeutel gefunden!", rief Martha erfreut.
"Oh, ich hätte erwartet, dass er ihn behält.", bemerkte Jakobus Alphäus.
"Was machen wir denn jetzt damit?", fragte Martha. "Zu essen haben wir im Moment genug. Sollen wir es den Armen spenden, bevor die Steuereintreiber es sich holen?"
"So schlimm wäre das gar nicht."meinte Johannes. "Wisst ihr noch wie Jesus gesagt hat, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist?"
"Bei der Tempelsteuer war er aber nicht so freigiebig.", erklärte Petrus und zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag zauberte die Erinnerung ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Wir kamen nach Kapernaum, da kamen die Steuereintreiber, die den Tempelgroschen einnehmen, auf mich zu und sagten: 'Zahlt euer Meister nicht den Tempelgroschen?' Und ich sagte 'Doch, natürlich.' Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jesus etwas nicht tut, das von jedem frommen Juden erwartet wird. Also ging ich ins Haus, um Geld zu holen und da sprach Jesus mich an und sagte: 'Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige der Welt Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?' 'Von den Fremden.', habe ich geantwortet. Ich meine, die Römer schröpfen uns ja auch mehr als ihre eigenen Bürger. Da sagte Jesus einen seltsamen Satz: 'So sind die Kinder frei.' - Er meinte damit tatsächlich, dass er als Sohn Gottes keinen Beitrag leisten müsse. Eigentlich hatten sie kein Recht, irgendetwas von ihm zu verlangen. Aber er wollte keinen Ärger, dafür war ihm die Sache nicht wichtig genug, allerdings wollte er auch nicht an unsere Reserven gehen und dann gab er mir einen ziemlich eigenartigen Auftrag: 'Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben' sagte er 'geh hin an das Meer und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib's ihnen für mich und dich.' Und dann habe ich gemacht, was er mir gesagt hat und tatsächlich habe ich einen dicken Fisch aus dem See gezogen, der ein Zweigroschenstück im Maul hatte."
"Ich finde Simon Petrus sollte unser neuer Schatzmeister werden.", scherzte Philippus.
"Wegen dieser alten Geschichte?", fragte Petrus ungläubig.
"Nicht nur deswegen.", erwiderte Philippus. "Ich kenne dich von Kindesbeinen an, schließlich stamme ich auch aus Bethsaida. Du bist schon immer eine ehrliche Haut gewesen, dir würde ich sogar mein Leben anvertrauen. Und Jesus hielt große Stücke auf dich. Auf die Frage, für wen die Leute Jesus halten, haben wir alle unterschiedliche Antworten gegeben. Auch auf die Frage, für wen wir ihn halten, kamen seltsame, komplizierte Erklärungen, aber du, Simon gabst die Antwort, er sei Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Du hast von uns allen den stärksten Glauben und du stehst zu deinen Überzeugungen. Darum nannte Jesus dich Petrus, den Fels auf dem er seine Kirche bauen wolle, sprach dir die Himmelsschlüssel zu und eine irdische Macht, Dinge auf Erden für immer zu verbinden oder für immer zu lösen."
"Das kann ja alles sein.", entgegnete Petrus, "aber ich bin es nicht wert, derartig bevorzugt zu werden, schließlich habe ich den Meister verleugnet und mich feige verdrückt."
"Das haben wir alles außer Johannes.", erwiderte Bartholomäus. "Weißt du nicht mehr, wie du beteuert hast, dass du für Jesus auf alles verzichtet hast: dein geregeltes Einkommen, deinen Platz in der Familie, so wie wir alle? Und Jesus hat dir und allen anderen zugesichert, dass wir dafür hundertfach entschädigt werden. Wir haben am Ende alle Fehler gemacht, aber wir haben in den letzten drei Jahren auch vieles richtig gemacht. Und du ganz besonders, Petrus."
"Unsinn.", sagte Petrus. "Ich bin nur selbstsüchtig. Ich wollte Jesus den Leidensweg ausreden, da wurde ich hart von ihm angegangen, aus mir spreche der Satan, das menschliche Bedürfnis, vielleicht die Selbstsucht, nicht der göttliche Plan."
"Du hast ihn von allen am meisten geliebt.", erklärte Johannes. "Sei nicht zu streng mit dir. Wer liebt, der will auch etwas. Und niemand hat ihm so bedingungslos vertraut wie du. Weißt du noch, wie du ihm auf dem Wasser entgegengelaufen bist?"
"Ja, aber da habe ich ihn auch schon verraten", antwortete Petrus, "denn auf einmal hatte ich Zweifel und bin prompt versunken und er musste mich retten. Und ich? Ich habe ihn verraten."
"Jetzt ist es aber mal gut!", schimpfte Simon Kananäus. "Hör auf, dich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden. Du hast immer zum exklusiven Kreis seiner Lieblingsjünger gehört!"
Petrus schwieg und erinnerte sich im Stillen. Er kannte seinen Platz und hätte sich nie etwas angemaßt, das ihm nicht zustand. Er wollte unbedingt immer alles richtig machen, zu hundert Prozent.
So wie damals, als er zusammen mit den Brüdern Jakobus und Johannes bei der Verklärung Jesu auf dem Berg dabei war. So ergriffen war er von diesem besonderen Moment, dass er direkt drei Hütten bauen wollte: eine für Mose, eine für Elia und eine für Jesus. Er neigte schon immer zu blindem Aktionismus. Genau wie später, als er bei Jesu Verhaftung auf den Soldaten losging. Er lebte ganz im Hier und Jetzt und hätte gern gehabt, dass es immer so bliebe. Er wollte das Glück mit Jesus unbedingt festhalten, notfalls mit Gewalt. Und dann musste er alles, was er dort auf dem Berg erlebt hatte, bis zu einem Tag, der noch in weiter Ferne lag, für sich behalten. Er würde auch jetzt nicht darüber reden. Er wollte der vertrauenswürdige Simon bleiben, als den Jesus ihn gekannt hatte.
Das war nicht der einzige besondere Moment, den der Meister nur mit ihm, seinem Bruder und den Söhnen des Zebedäus geteilt hatte. Reden über die Endzeit hatte er in der vertraulichen Runde gehalten. Die anderen wussten nichts davon. Von falschen Propheten und verheerenden Kriegen hatte der Meister gesprochen, von Erdbeben und Hungersnöten und das sei erst der Anfang. Auch dass man sie, die Jünger, um Jesus willen vor Gericht stellen würde, dass sie gehasst werden würden, aber am Ende die Rettung stehe. Jesus selbst käme zurück, begleitet von Engeln. Der Tag sei nahe, aber der Zeitpunkt ungewiss. Hatte die Endzeit schon begonnen? War Jesu Tod nicht mehr als ein Vorzeichen, vielmehr ein Paukenschlag?
Ach und er hatte derartig versagt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. In der Stunde der größten Angst und Not hatte er es nicht einmal geschafft, wach zu bleiben, um dem Meister mit Trost und Anteil nehmender Gegenwart beizustehen.
Doch er war nicht der Lieblingsjünger Jesu, das war Johannes. Darum hatte er ihn auch gebeten, aus Jesus heraus zu kitzeln, wer ihn verraten würde.
Beim Abendmahl kam es zum Rangstreit unter den Jüngern und Jesus erklärte ihm, dass der Satan die Jünger sieben wolle wie Weizen, dass er, Jesus, aber für ihn, Simon, gebetet habe, dass sein Glaube stark bleibe. Er müsse künftig für seine Brüder sorgen. Petrus versprach unbedingte Gefolgschaft, und dann kündigte Jesus die feigen Verleugnungen bis zum Hahnenschrei an. Das war wie ein Faustschlag ins Gesicht, eine brüske Zurückweisung, ein Vom-Sockel-Schubsen.
Petrus blickte weiter in die Runde. Alle hatten sie von Jesus die Macht über unreine Geister erhalten. Und jetzt? Wohnten diese Geister nicht in jedem von ihnen? Er seufzte. Als Junge war seine Welt so begrenzt gewesen. Man holte Fische aus dem See und Früchte vom Feld und von den Bäumen. Man wusste, was nötig war, um zu überleben und dass ein Baum, der keine Früchte trug, nichts weiter war als Platzverschwendung. Der wurde abgehauen und an seiner Stelle ein neuer gepflanzt. Dass jemand einen Baum aber von einem Augenblick auf den anderen verdorren lassen konnte, das hatte er nie zuvor erlebt. So etwas konnte nur Jesus. Und so hatte er gezeigt, wie der göttliche Zorn wüten konnte, über denen, die ein fruchtloses Leben führten. Käme dieser Zorn nun über sie alle? Was konnten sie schon ausrichten? Sie saßen hier, versteckten sich, zitterten vor Angst und schoben sich Nahrung in den Mund, die denen, die wirklich etwas bewirkten, besser gedient hätte. Konnte Gott ihnen ihr Fehlverhalten vergeben, wenn er sich nicht einmal selbst vergeben konnte? Er erinnerte sich an eine Geschichte.
Jesus hatte immer wieder von Vergebung gesprochen. Simon war damit durchaus einverstanden, jedoch gab es Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, die ihn immer wieder übervorteilt hatten, sooft sie auch Besserung gelobten, sie schafften es einfach nicht, anständig zu bleiben. Irgendwann musste es auch mal genug sein mit dem großen Herzen, fand er und so fragte er Jesus: "Sag mal, Meister, wie oft muss ich meinem Bruder denn vergeben? Reichen sieben Mal?"
"Sieben mal siebzig Mal.", forderte Jesus und erzählte das Gleichnis vom Schalksknecht. Gott vergibt dem, der selbst bereit ist, zu vergeben.
Und jetzt hatte Simon Petrus Gottes Vergebung nötiger als je zuvor in seinem Leben. Der Kummer darüber und die unendliche Scham trieben ihm erneut die Tränen in die Augen, die gar nicht mehr aufhören wollten, wie Bäche aus ihm herauszuströmen und Schluchzer schüttelten seine Brust.
Susanna setzte sich zu ihm und legte ihm tröstend eine Hand in den gebeugten Rücken. Sie sagte: "Jesus hätte nicht gewollt, dass du dich selbst zerfleischt. Wir haben alle Fehler gemacht und werden auch immer wieder daneben greifen. So sind wir Menschen. Jesus wusste das und hat uns so geliebt, wie wir sind. Auch dich. Dich ganz besonders. Dich hat er ausgesucht, um zusammen mit Johannes das Passahmahl vorzubereiten. Denn er wusste, dass du tust, was man dir aufträgt, ohne nach dem Warum zu fragen und ohne, dass dich jemand antreiben muss."
"Ja", sagte Petrus. "Das war mir immer wichtig, dass er mich auserwählt hat. Aber das war so selbstsüchtig. Bis zum Schluss. Sogar bei unserem Abschiedsessen Bei der Fußwaschung fand ich es zunächst unangemessen, dass Jesus mir die Füße waschen wollte und nicht umgekehrt. Als Jesus darauf bestand, wollte ich am ganzen Körper gewaschen werden. Ich wollte gern ein Auserwählter sein, jemand Besonderes, obwohl mir im Grunde immer klar war, dass mir tatsächlich keine herausragende Stellung zusteht. Ich habe ja längst erkannt, dass Jesus für alle Menschen da sein will, nicht nur für einen erlesenen Kreis. Ich finde das auch richtig, aber es schmerzt mich. Heimlich habe ich doch immer gehofft, für immer und ewig der beste Freund und Bruder meines Meisters zu sein."
"Aber das bist du doch.", entgegnete Susanna.
Petrus schüttelte energisch den Kopf. "Johannes ist so ein Jünger. Klug, still, bescheiden und besonnen. Ich dagegen bin aufbrausend, jähzornig und schwer von Begriff. Der Herr konnte mich gebrauchen, aber am meisten geliebt hat er Johannes."
"Johannes hat auch seine Schattenseiten.", entgegnete Susanna. "Nur weil sie für uns nicht sichtbar sind, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Wir alle lernen unser Leben lang und du musst eben lernen, deine Wut zu bezwingen. Oder sagen wir lieber, sie zu bändigen, denn sie ist nicht eigentlich etwas Schlechtes. In deinem Zorn steckt eine große Kraft und manchmal ist es von Vorteil, wenn diese Kraft sich Bahn bricht, zum Beispiel, wenn man für etwas kämpfen muss."
"Ja", pflichtete Petrus ihr bei. "Das habe ich früher auch immer gedacht. Aber Jesus wollte nicht, dass wir kämpfen. Es geht mir heute noch so, dass ich nicht immer alles aushalten und hinnehmen will, ich will zurückschlagen, wenn mir einer wehtut, will die, die ich liebe, verteidigen. Aber Jesus hat den Frieden gepredigt und den neuen Menschen. Ich muss ein neuer Mensch werden, doch das ist mir bis heute nicht gelungen."
"Du bist zu streng mit dir.", sagte Susanna. "Keiner von uns hat so viel für den Meister gegeben wie du."
"Ich hätte alles für ihn getan.", erwiderte Petrus. "Ich war so begeistert von ihm, aber ich wollte auch etwas zurückbekommen, nämlich die gleiche Liebe und Bewunderung, die ich für ihn aufgebracht habe. Das war anmaßend und dumm."
"Unsinn.", entgegnete Susanna. "Das ist menschlich. Und du hast ja nicht deinen Zorn über ihn ausgegossen, als du gewahr wurdest, dass er alle Menschen liebt und niemanden wirklich bevorzugt. Du hast dein Los demütig angenommen und ihm weiter die Treue gehalten."
"Weil es mich stolz machte, dass er mir etwas zutraute. Leider wurde ich dabei auch immer etwas größenwahnsinnig und er musste mich auf den Boden zurückholen."
"Aber du hast aus deinen Fehlern gelernt und bist noch immer bereit, dich zu verändern. Sieh dich doch einmal um. Es gibt nicht viele, die solchen Mut und solche Kraft haben."
"Von wegen Mut und Kraft.", seufzte Petrus. "Sieh mich Elenden doch an. Meine Scham ist größer als ich, kein Versteck abgelegen genug, um mich zu verbergen. So große Versprechen habe ich herausposaunt und nichts ist davon übriggeblieben, als Kleinmut und Furcht um mein unbedeutendes Leben."
"Vielleicht verlangst du oft mehr von dir, als du schaffen kannst. Du bist ein Mensch, kein Gott, kein Messias, nur sein Helfer und Begleiter. Aber das hast du immer hervorragend gemacht. Und wenn du dich im Moment der größten Gefahr in Sicherheit gebracht hast, dann zeigt das nur deinen Willen zu überleben. Wie willst du denn ein lebendiges Werkzeug Gottes sein, eine Zeuge des Messias, wenn du dich von räudigen Soldaten erschlagen lässt? Glaubst du die anderen blicken auf dich herab? Ganz im Gegenteil! Sie sehen ehrfürchtig zu dir auf, sie bewundern dich für deine Treue, deine Tatkraft und deine tiefe, unerschütterliche Überzeugung. Und ich tue das auch. Heute Abend saß ich vor meinem Haus und war in Trübsal versunken. Ich war kurz davor, wieder die zu werden, die ich vor meiner Begegnung mit Jesus war. Eine schwache, kranke, unglückliche, einsame Frau, die es kaum schafft, sich selbst zu versorgen. Und dann habe ich an dich gedacht. Simon Petrus, habe ich gedacht, der würde sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Der war dem Herrn so nahe, der trägt ihn für immer in seinem Herzen. Und darum bin ich hier her gekommen, um den Menschen nahe zu sein, die Jesus in sich tragen, damit ich mich weiter in seinem Glanz wärmen kann und stark, gesund und glücklich bleiben, wie ich es seit meiner Begegnung mit Jesus bin ? und nie mehr allein."
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Karfreitagabend - Fünfzehnte Stunde
c. fabry, 14:06h
Im Hause Zebedäus kam wieder Bewegung in die Eingenickten. Der spontane Erschöpfungsschlaf, der sie im Sitzen übermannt hatte, hatte mit erholsamer Nachtruhe nicht viel gemein.
"Oh, wie rücksichtslos von mir", entschuldigte sich Maria Alphäus bei Johanna. "Wie lange habe ich an deiner Schulter geruht?"
"Nicht so lange." erwiderte Johanna lächelnd. "Aber jetzt würde ich gern ein paar Schritte durch die kühle Nachtluft gehen. Danach sitzt alles wieder an seinem Platz."
"Geh nicht so weit.", ermahnte sie Zebedäus. "In der Nacht ist immer so viel Gesindel auf den Straßen."
"In der Nacht schläft das Gesindel.", widersprach Johanna. "Und der Herr wird mich schon beschützen. Und falls ich doch umkomme, bin ich noch heute mit dem Meister vereint. Mir kann also nicht Schlimmes zustoßen."
Johanna verließ das Haus und Zebedäus sagte zu Maria Alphäus: "Ich mache mir wirklich Sorgen. Sie ist zu leichtfertig."
"Sie ist erwachsen.", entgegnete Maria. "Wäre sie deine Tochter, könnte ich deine Sorge verstehen. Aber Johanna ist eine gestandene Frau, die es gelernt hat, auf sich achtzugeben. Sie geht ein wenig die Straße rauf und runter. Hier wohnen nur ehrbare Leute und falls sich wirklich ein Räuber oder Schänder in eure Straße verirrt und ihr zu nahe tritt, dann wird sie ein Geschrei veranstalten, von dem ihm die Ohren noch in einer Woche klingen werden, und die ehrbaren Leute werden aus ihren Häusern kommen und den Bösewicht vertreiben."
"Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte Zebedäus. "Aber um deine Kinder hast du dann auch Angst?"
"So wie alle Eltern.", antwortete Maria. "Selbst jetzt, wo sie längst erwachsen sind. Vielleicht sogar noch mehr, als zu der Zeit, als sie noch taten, was ihre Eltern ihnen auftrugen und ich immer wusste, wo sie sich aufhielten. Levi hat sich einen schlechten Ruf erworben, ich hatte immer Angst, dass es mal schlimm mit ihm endet und bin so froh, dass er Jesus nachgefolgt ist und auch darüber, dass er sich einen neuen Namen zugelegt hat. Von einem Zöllner, der Matthäus heißt, hat noch niemand gehört.
Und um unseren Jakobus habe ich mich fast noch mehr gesorgt, weil er immer allen beweisen musste, dass er noch härter war, als sein großer Bruder. Dabei hat er vollkommen aus dem Blick verloren, wo er eigentlich hinwill. Er irrt ziellos durchs Leben, wie ein Blinder ohne Stock und Führer. Mit Jesus hat er zum ersten Mal einen Weg gefunden."
"Das Gefühl habe ich bei meinen Söhnen auch.", wandte Zebedäus ein. "Nicht dass sie planlos durchs Leben gestolpert wären, bis sie Jesus trafen. Aber Jakobus dachte immer zu wenig nach und Johannes zu viel. Der Älteste taugte nicht in der Synagoge, der Jüngere nicht auf dem See. Als hätte ich bei beiden nicht das richtige Maß gefunden, dem einen etwas vorenthalten, was ich dem anderen im Übermaß zuteilwerden ließ. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe."
"Vermutlich hast du gar nichts falsch gemacht.", erklärte Maria. "Sie sind eben so geworden, wie sie sind. Gott hat das so gewollt. Bei Levi habe ich auch oft gedacht, an welcher Stelle haben wir es versäumt, ihm zu erklären, was Recht und Unrecht ist und worauf es ankommt im Leben. Ich habe nie verstanden, dass so ein rücksichtsloser, gieriger Zecher aus ihm werden konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn zu sehr verwöhnt und alles Unangenehme von ihm ferngehalten habe. Und ich konnte ihm die Boshaftigkeit nicht austreiben, so sehr ich mich auch bemüht habe. Erst Jesus hat das geschafft. Vielleicht wollte unser Gott den Levi genauso haben, wie er war, damit Jesus den Menschen zeigen konnte, dass jeder jederzeit umkehren kann. Und am Ende war es nicht schlecht, dass Jakobus keinen starken eigenen Willen hatte, denn so hat er sich einfach seinem Bruder angeschlossen und ist Jesus genauso nachgefolgt wie er. Heute bin ich stolz auf meine Söhne und auf das, was aus ihnen geworden ist. Aber Sorgen muss ich mir schon wieder machen, weil ich befürchte, sie könnten verhaftet werden."
"Ja wegen irgendeiner Sache sorgt man sich immer.", bestätigte Zebedäus Marias Rede. "Und sicher hat es auch einen tieferen Sinn, wenn Brüder so verschieden sind. Bei deinen ist es ja nicht anders als bei meinen. Während dir der eine zu hartherzig und der andere zu ziellos war, habe ich mich immer gefragt, ob es richtig war, dass ich alles mit Jakobus tat und Johannes meistens bei seiner Mutter ließ. Wie sollte ein richtiger Mann aus ihm werden, wenn er den ganzen Tag nur Weibergewäsch um die Ohren hatte? Aber ich musste lernen, dass man auf viele Arten ein Mann sein kann und meine beiden Söhne, so unterschiedlich sie sind, haben sich zusammengerauft und gelernt, sich gegenseitig zu schätzen und zu respektieren. Sie haben erkannt, dass einer den anderen braucht, weil jeder für sich zu unvollständig ist, um gut durchs Leben zu kommen. Als sie Kinder waren, haben sie oft furchtbar gestritten. Johannes wollte immer überall mitmischen, war aber noch ein bisschen klein und ungeschickt und Jakobus hat ihn nie gelassen. Einmal sind sie so sehr aneinandergeraten, dass Johannes Jakobus verprügelt hat. Danach ging es komischerweise besser.
Als Jakobus sich dann allerdings an Johannes den Täufer hängte, diesen Wutprediger, da bekam ich es mit der Angst."
"Aber Johannes der Täufer hat doch den Weg für Jesus bereitet. Die beiden waren doch sogar miteinander verwandt, ihre Mütter waren Cousinen.?, warf Maria Alphäus ein.
"Ja genau.", erwiderte Zebedäus. "Und sein Vater war Zacharias, ein angesehener Mann mit einem verantwortungsvollen geistlichen Amt. Nun muss er sich grämen über den Verlust seines Sohnes, über den die Leute jahrelang abfällig redeten. Ein Wunder, dass der Hohe Rat ihn nicht seines Amtes enthoben hat. Johannes hatte vielleicht das richtige Gespür für das Kommen des Herrn, aber nicht dafür, wie man es anstellt, seiner Familie keine Schande zu machen."
"Aber was war denn so furchtbar an ihm?"
"Das wirre Haar, der ungepflegte lange Bart, er trug keine anständige Kleidung sondern Tierfelle, er aß nur Heuschrecken und wilden Honig und er brüllte, wenn er predigte, als werde er über dem Feuer geröstet. Viele dachten, er sei wahnsinnig und ich hatte ebenfalls den Eindruck. Als Jakobus anfing, ihm nachzulaufen, hatte ich große Angst, dass er genauso wahnsinnig wird. Er half nicht mehr beim Fischen, ließ mich einfach im Stich, sodass ich oft allein mit Johannes auf dem See war. Da habe ich angefangen, meinen Zweitgeborenen einmal richtig kennenzulernen. Er ist der Klügere und Besonnenere von den beiden. Jakobus ist ein Hitzkopf. Als Jesus dann auftauchte und er ihm auch direkt hinterherlief, riss mir der Geduldsfaden. So ein Unsinn, irgendwelchen Predigern zu folgen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Und dann folgte Johannes ihm auch noch. Mein Jüngster ist noch zu klein zum Fischen, ich kann doch nicht alles allein machen, dafür bin ich mittlerweile zu alt. Zum Glück sind sie mir dann doch regelmäßig zur Hilfe gekommen und heute bin ich stolz, dass sie zu Jesu Gefolgsleuten gehören."
Im Versteck der Jünger herrschte nach wie vor verhaltenes Gemurmel. Eine bedrückende Stille, die sich aus dem noch nicht verebbten Schock über den grausamen Tod des Meisters, Trauer und Furcht speiste. "Wie viele Tage gibst du uns noch?", fragte Thomas Philippus. "Drei? Oder vielleicht sieben?"
"Vielleicht auch Siebentausend, wenn wir uns in acht nehmen.", erwiderte Philippus.
"Wie denn?", fragte Thomas.
"Uns verborgen halten, nicht auffallen, bis der Blick des Hohen Rates und der Römer auf andere vermeintliche Gegner fällt."
Es klopfte an der Tür und augenblicklich breitete sich ein gespenstisches Schweigen aus. Manche hielten den Atem an. Als das Klopfen lauter und energischer wurde, begann Marias Atem sich zu beschleunigen. Ihre Schwester Martha legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen. "Sch.", zischte sie leise und Maria bemühte sich um tiefere und langsamere Atemzüge.
"Keine drei Tage.", flüsterte Thomas und Philippus rammte ihm ärgerlich einen Ellenbogen in die Seite.
?Lasst mich rein.", flehte draußen eine zarte Frauenstimme ? oder die verstellte Stimme eines Soldaten, denn es konnte keine von ihnen sein, sonst hätte sie das Losungswort genannt. Niemand rührte sich.
Simon Petrus zitterte vor Angst und vor Scham darüber flossen schon wieder reichlich Tränen aus seinen verweinten Augen.
Es klopfte wieder eindringlich. Nach einem Moment des Lauschens sagte die Stimme: ?Bitte, lasst mich rein! Ich bin es, Susanna."
Martha atmete tief durch und ging zur Tür. Andreas hielt sie am Handgelenk fest und schüttelte energisch mit dem Kopf.
"Ach lass mich!", zischte sie und riss sich los. "Ich erkenne doch Susannas Stimme. Wenn ihr Männer euch nicht immer so vor Angst vergraben würdet, wer weiß, vielleicht wäre der Herr noch am Leben."
Petrus schluchzte laut auf und Martha öffnete die Tür einen Spalt breit. Sie erkannte Susanna und zog sie schnell ins Haus, um die Tür sofort wieder zu verschließen. Erleichtertes Aufatmen machte die Runde und vom Tisch aus schimpfte Jakobus, der Sohn des Zebedäus: "Wie kannst du uns nur alle so in Angst und Schrecken versetzen? Warum hast du nicht das Losungswort gesagt, dann hätten wir alle sofort gewusst, dass von dir keine Gefahr ausgeht."
"Ich habe es vergessen.", gestand Susanna schuldbewusst.
"Dann wärst du besser nicht hergekommen.", wies Jakobus sie zurecht. "Du hast uns alle in Gefahr gebracht, dadurch, dass du so lange vor der Tür gestanden hast und um Einlass gefleht hast. Das fällt auf und gibt Gerede."
"Jetzt sei nicht so herzlos, Bruder.", mischte Johannes sich ein. "Wir sind alle gerade zutiefst erschüttert und ein bisschen durcheinander. Susanna geht es nicht anders, da hat sie eben das Losungswort vergessen. In ihrem unscheinbaren Gewand wird sie keinem aufgefallen sein. Auf Frauen wird nur geachtet, wenn sie sich besonders herausputzen."
"Entschuldigt bitte.", sagte Susanna leise. "Ich konnte nicht eher kommen, ich saß einfach vor meinem Haus und konnte mich nicht bewegen, als wenn mit Jesus auch meine ganze Kraft und all mein Mut und meine Freude gegangen sind."
"Das geht uns allen so.", bestätigte Maria von Bethanien dieses Bekenntnis. "Komm, setz dich zu mir und iss ein Stück Brot und trink etwas Wein, dann geht es dir gleich etwas besser."
Susanna bedankte sich und genoss das Mahl in der angenehmen Gesellschaft einer treuen Freundin.
"Typisch Maria", dachte Martha und begann, geräuschvoll den Tisch abzuräumen. Sie konnte nicht aus ihrer Haut: So lange die Hausarbeit sie ansah, musste sie sie erledigen, wenn niemand sonst sich erbarmte. Alle saßen schwermütig an der Tafel und gaben bedeutungsvolle Reden von sich, dabei schoben sie sich das liebevoll zubereitete Essen gedankenverloren zwischen die Zähne, als sei es eine lästige Pflicht. Genauso wie damals, als Jesus bei ihnen in Bethanien zu Besuch gewesen war. Sie, Martha, hatte sich vorher ausführlich Gedanken gemacht, hatte sorgfältig eingekauft und viel Mühe auf die perfekte Zubereitung verwendet. Das Brot aus dem fein gemahlenen Mehl war wunderbar aufgegangen, hatte das ganze Haus mit seinem köstlichen Duft erfüllt, außen knusprig, innen weich und saftig, bestrichen mit dem besten Öl und gewürzt mit frischen Kräutern. Dazu hatte sie eingelegte Oliven gereicht, gebratenes Lamm, gar und trotzdem zart und kräftig gewürzt. Das I-Tüpfelchen war eine Grütze aus gerösteten Gerstenkörnern, Granatapfelkernen, frischen Trauben und Nüssen gewesen, verfeinert mit Honig. Und erst der Wein, den hatte Lazarus selbst gekeltert und er war ihm ausgezeichnet gelungen.
Maria hatte nur den Tisch gedeckt, kurz bevor der Meister kam, war den ganzen Tag in ihrer gedankenverlorenen, ineffektiven Art durch Haus und Garten gestreift, hatte hier ein Stäubchen weggewischt, dort ein Kräutlein ausgezupft, aber alles ohne Plan und vor allem ohne Tempo. Das hatte sie wie immer ihrer kleinen Schwester überlassen. So viele Jahre hatte sie die große Schwester bewundert, hatte sein wollen wie sie, so wohlgestaltet, elegant, geschickt darin, andere in ein Gespräch zu verwickeln und an sich zu fesseln, zu allem eine Meinung, auf jede Frage eine kluge Antwort oder zumindest eine originelle Gegenfrage. Doch Martha schaffte es nicht. Niemand war sonderlich an den Gesprächen mit ihr interessiert, sie wusste auch schon bald nichts mehr zu sagen und die Männer sahen ihr auch nicht so hinterher wie ihrer großen Schwester. Sie suchte es wettzumachen, indem sie sich einfach immer bei allem, was sie tat, anstrengte, immer ihr Bestes gab und so war sie über die Jahre zu einer perfekten Hausfrau und Gastgeberin herangereift. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass Maria auch diese neue Wendung perfekt für sich zu nutzen wusste, indem sie sich bequem zurücklehnte und alles Martha überließ: "Ach Schwesterchen, keiner kocht, backt und bewirtet so perfekt wie du, da kann ich dir nicht annähernd das Wasser reichen. Ich übernehme die Unterhaltung der Gäste, damit ich mich wenigstens ein bisschen nützlich machen kann."
Als dann Jesus zu Besuch kam und Maria Martha wieder die ganze Arbeit allein machen ließ, während sie selbst als wortgewandte Gesprächspartnerin glänzte, war ihr schließlich der Kragen geplatzt. Sie wollte auch etwas von Jesus haben und nicht nur schuften, bis ihr die Füße wehtaten. Sie setzte auf Jesus' Gerechtigkeitssinn, denn er hatte davon gesprochen, dass jene selig seien, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt würden und wenn sie schon selbst bei der großen Schwester nichts ausrichten konnte, so hoffte sie, Jesus würde ihr den Gefallen tun und Maria die Welt erklären. Sie hatte versucht ihren Ärger hinter einem schelmischen Scherz zu verbergen: "Ach Meister, wenn du meiner großen Schwester die wichtigen Dinge des Lebens erklärst, kannst du ihr dann nicht auch einmal darlegen, dass die Arbeit geteilt werden muss, damit die einen nicht mit geschwollenem Kopf vor Untätigkeit verkümmern, während die anderen verblöden und gleichzeitig unter der Last zusammenbrechen? Sie hat wohl bis heute nicht verstanden, dass Hausarbeit keine Zauberei ist."
Martha hatte erwartet, dass Jesus sich belustigt auf die Schenkel klopfen würde und Maria den Hinweis gäbe: "Geh, löse deine Schwester ein bisschen ab, damit sie nicht verblödet und deine Ärmchen nicht so dünn wie junge Olivenzweige werden."
Stattdessen ermahnte er Martha: "Ach Martha, ich gebe zu, dass du viel zu tun hast mit dem guten Essen, das will alles geplant, bedacht, vorbereitet und wohlüberlegt und geschickt zubereitet sein. Du bist eine Meisterin darin, aber deine Schwester ist auch eine Meisterin. Eine Meisterin im Zuhören und Erzählen, im Fragen Stellen und Antwortengeben. In der Zuwendung an den Gast, den sie genau sieht und für den sie ganz und gar da ist, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Und glaube mir, Maria hat den besseren Teil gewählt."
Das war ein Schlag ins Gesicht gewesen, eine Demütigung die alles in den Schatten stellte, was sie bisher an Herabwürdigung erfahren hatte, und sie hatte weiß Gott viel in dieser Richtung mitgemacht. Wäre es nicht Jesus gewesen, sie hätte ihm die Grütze ins Gesicht geschleudert und ihm ordentlich die Meinung gesagt. Aber bei Jesus konnte sie das nicht. Bei Jesus konnte sie nur unendlich verletzt und traurig sein und schweigend hinnehmen, dass nicht einmal er auf ihrer Seite war. Sogar zu seiner Liebe hatte Maria ihr den Weg verstellt. Keine Grenze hatte sie respektiert, ihn kurz vor seinem Ende mit teurem Duftöl gesalbt. Als wäre das nicht schon mehr als genug gewesen, hatte sie seine Füße mit ihren Tränen begossen und mit ihren Haaren abgetrocknet. Wie war sie nur dazu gekommen, ihn einfach anzufassen, die nackte Haut, als wäre er ihr Mann gewesen? Martha hätte sich so etwas nie getraut und sie beneidete ihrer Schwester auch jetzt noch um die Nähe zu Jesus, die sie sich einfach genommen hatte, ganz zu schweigen von der dramatischen Selbstinszenierung. Manchmal beschlich sie der Verdacht, dass es Maria gar nicht um Jesus gegangen war, sondern um sich selbst.
Als alle Schüsseln eingeweicht und alle Krüge mit Vorräten und Resten gut verschlossen waren, schweifte Marthas Blick durch den Raum und blieb bei Salome hängen. "Auch so eine Schöne.", dachte sie, "auch so redegewandt und anziehend, vermutlich ebenso unpraktisch und rettungslos verloren in der Küche wie Maria."
Aber dann erinnerte sich Martha, dass sie in der Nacht nach Jesu Besuch sehr lange nachgedacht hatte und ihr aufgefallen war, dass es zwar schön war, gutes Essen vorgesetzt zu bekommen, dass das aber alles wenig wert war, wenn es nicht mit Liebe und Zuwendung serviert wurde. Und in der Tat, das war nicht Marthas Sache, das konnte ihre Schwester einfach besser. Vielleicht musste sie lernen, hinzunehmen, dass jede von ihnen andere Stärken hatte. Nur dass ausgerechnet ihre Stärken weniger wert sein sollten, das konnte sie nicht akzeptieren. Aber wer wusste schon, wie Salome sich als Gastgeberin verhielt? Sie kannte sie kaum. Vielleicht sollte sie heute einmal damit anfangen, interessierte Fragen zu stellen und aufmerksam zuzuhören, denn im Haus war ja nun wirklich nichts mehr zu tun.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte sie Salome höflich.
"Aber natürlich.", antwortete die. "Du hast es geschafft, dass ich mir nach dem Essen die Finger abgeleckt habe, obwohl ich eigentlich vor lauter Kummer überhaupt keinen Hunger und keine Lust auf ein Abendessen hatte."
Martha lächelte geschmeichelt. "Das lag vermutlich am guten Öl und an den frischen, jungen Kräutern."
"Aber man muss es auch schon können.", sagte Salome. "Bei den Salben, die die anderen für den toten Jesus hergestellt haben, kam es auch auf die richtigen Zutaten an. Aber ich habe mich aus der Herstellung herausgehalten, ich hätte nur alles verdorben."
"Kochst du nicht so gern?", fragte Martha.
"Nein.", antwortete Salome. "Ich kann etwas zubereiten, damit niemand verhungert, aber ich bin besser darin, Stoffe zu weben und Gewänder zu nähen."
"Das ist auch wichtig.", sagte Martha. "Das kann ich nicht so gut. Es reicht, um sich zu bedecken, aber es sieht nicht schön aus, was ich selbst nähe. Und zum Weben fehlt mir die Geduld."
"Ach", winkte Salome ab. "Ich habe es von klein auf von meiner Mutter gelernt und wenn man sich nebenbei Geschichten erzählt oder Lieder singt, dann ist es fast so, als wäre man nicht bei der Arbeit sondern beim Schabbat."
"Hast du so Jesus kennengelernt?", fragte Martha, "Hast du ihm ein Gewand genäht?"
"Ich? Ach was, nein, ich war eine aus der begeisterten Menge, die ihm nachlief, um zu hören, was er zu sagen hatte. Ich kenne so viele alte Geschichten, aber wenn er sie erzählte, bekamen sie plötzlich einen ganz neuen Sinn, alles wurde klarer, hoffnungsvoller, reicher. Und jetzt ist er schon wieder fort. Nicht einmal drei Jahre durfte ich ihm nachfolgen, dabei hätte ich doch noch so viel von ihm lernen können. Ich bin entsetzlich traurig."
"Ja, traurig bin ich auch.", sagte Martha. "Und bestimmt hätte ich noch viel mehr lernen müssen. Vielleicht lerne ich es ja jetzt von dir."
Maria, die Frau des Klopas, eine Cousine der Mutter Jesu setzte sich zu den beiden Frauen. "Oh ja, Salome.", sagte sie, "Lass uns von dir lernen. Keine kennt so viele von den alten Geschichten wie du."
"Ach, die kennt doch jede.", winkte Salome ab. "Ja, gehört haben wir sie alle einmal.", antwortete Maria Klopas. "Aber ich habe das meiste vergessen. Mir geht es ja mehr so wie Martha, ich brauche meinen Kopf vor allem für den Haushalt."
"Hast du auch einmal den Meister bewirtet?", fragte Martha.
"Oh ja.", antwortete Maria Klopas. "Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Klopas, mein Mann, hatte Jesus da schon seit geraumer Zeit unterstützt, war zu den Orten gegangen, an denen der Meister geredet hat, hat ihm Lebensmittel und manchmal auch etwas Geld gegeben oder eine Unterkunft organisiert, wenn er wusste, dass Jesus eine Reise an einen Ort plante, an dem Klopas Verwandte hatte. Ich habe wirklich Glück gehabt mit ihm. Er ist ehrlich, treu, anständig, fleißig und geschickt. Und dann kam der Tag, als er aufgeregt in der Tür stand und mir eröffnete: 'Jesus von Nazareth kommt heute Abend als Gast in unser Haus, zum Essen und zum Übernachten und er bringt noch ein paar von seinen Jüngern mit.'
Da hatte ich alle Hände voll zu tun, dass ich etwas Anständiges und genug zu essen auf den Tisch brachte. Als wir dann alle beim Abendbrot saßen, kam ich endlich zur Ruhe. Und das war das erste was mich an Jesus erstaunte: Er lobte mich dafür, dass ich es verstand, mich nach getaner Arbeit auszuruhen. Erst danach lobte er meine Kochkunst und meine Gastfreundschaft. Er sagte, es ist gut, für andere zu sorgen, aber man muss auch für sich selbst sorgen und für beides das richtige Maß zu finden, ist keine leichte Sache. Zuerst dachte ich, dahinter verberge sich ein unterschwelliger Tadel, aber er meinte es ganz freundlich und danach sagte er noch so viele andere Dinge, wie er die Welt sah und wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte.
Zum Beispiel, dass die Welt ein Ort ist, der gleichzeitig schön und schrecklich ist, dass aber all das Schreckliche uns im Grunde nichts anhaben kann, wenn wir Gott in uns tragen. Dann kann zwar unser Körper zugrunde gehen, aber unsere Seele bleibt beschützt und wird gerettet. Und ich dachte an meine tote Mutter, die mir auch nach so vielen Jahren noch immer zur Seite steht in meinen Gedanken und Träumen, die nie wirklich fortgegangen ist, obwohl ihr Leib doch längst in der Grabhöhle verdorben ist.
Alles, was Jesus sagte, fühlte sich gut an, selbst wenn es schwer war und herausfordernd, es war nie entmutigend, nie zu schwer, nie so bitter, dass es einen vergiftet hätte. Seit dieser Nacht trug ich Jesus immer bei mir wie meine Mutter, obwohl er ja noch lebte, aber er war ja für so viele gekommen, nicht nur für mich. Er hat mich froh, frei, stark und mutig gemacht und darum durfte ich ihn in seiner schwersten Stunde auch nicht im Stich lassen. Ich glaube, dass er jetzt bei uns ist, auch wenn sein Körper verfaulen wird, Jesus ist unter uns, da bin ich mir sicher."
Martha tat sich ein bisschen schwer mit dieser Vorstellung. Sie hatte erlebt, wie Jesus ihren vor Tagen verstorbenen Bruder wieder zum Leben auferweckt hatte. Lazarus lebte, aber er lebte genauso wie vorher, in seinem Körper, dem Werkzeug des Handelns. Was tat eine entleibte Seele? Sie hatte ja nicht einmal eine Stimme, um zu sprechen. Martha seufzte. Vielleicht konnte sie von Salome und Maria Klopas ja noch lernen, wie sie die Gegenwart Jesu fühlen konnte.
"Oh, wie rücksichtslos von mir", entschuldigte sich Maria Alphäus bei Johanna. "Wie lange habe ich an deiner Schulter geruht?"
"Nicht so lange." erwiderte Johanna lächelnd. "Aber jetzt würde ich gern ein paar Schritte durch die kühle Nachtluft gehen. Danach sitzt alles wieder an seinem Platz."
"Geh nicht so weit.", ermahnte sie Zebedäus. "In der Nacht ist immer so viel Gesindel auf den Straßen."
"In der Nacht schläft das Gesindel.", widersprach Johanna. "Und der Herr wird mich schon beschützen. Und falls ich doch umkomme, bin ich noch heute mit dem Meister vereint. Mir kann also nicht Schlimmes zustoßen."
Johanna verließ das Haus und Zebedäus sagte zu Maria Alphäus: "Ich mache mir wirklich Sorgen. Sie ist zu leichtfertig."
"Sie ist erwachsen.", entgegnete Maria. "Wäre sie deine Tochter, könnte ich deine Sorge verstehen. Aber Johanna ist eine gestandene Frau, die es gelernt hat, auf sich achtzugeben. Sie geht ein wenig die Straße rauf und runter. Hier wohnen nur ehrbare Leute und falls sich wirklich ein Räuber oder Schänder in eure Straße verirrt und ihr zu nahe tritt, dann wird sie ein Geschrei veranstalten, von dem ihm die Ohren noch in einer Woche klingen werden, und die ehrbaren Leute werden aus ihren Häusern kommen und den Bösewicht vertreiben."
"Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte Zebedäus. "Aber um deine Kinder hast du dann auch Angst?"
"So wie alle Eltern.", antwortete Maria. "Selbst jetzt, wo sie längst erwachsen sind. Vielleicht sogar noch mehr, als zu der Zeit, als sie noch taten, was ihre Eltern ihnen auftrugen und ich immer wusste, wo sie sich aufhielten. Levi hat sich einen schlechten Ruf erworben, ich hatte immer Angst, dass es mal schlimm mit ihm endet und bin so froh, dass er Jesus nachgefolgt ist und auch darüber, dass er sich einen neuen Namen zugelegt hat. Von einem Zöllner, der Matthäus heißt, hat noch niemand gehört.
Und um unseren Jakobus habe ich mich fast noch mehr gesorgt, weil er immer allen beweisen musste, dass er noch härter war, als sein großer Bruder. Dabei hat er vollkommen aus dem Blick verloren, wo er eigentlich hinwill. Er irrt ziellos durchs Leben, wie ein Blinder ohne Stock und Führer. Mit Jesus hat er zum ersten Mal einen Weg gefunden."
"Das Gefühl habe ich bei meinen Söhnen auch.", wandte Zebedäus ein. "Nicht dass sie planlos durchs Leben gestolpert wären, bis sie Jesus trafen. Aber Jakobus dachte immer zu wenig nach und Johannes zu viel. Der Älteste taugte nicht in der Synagoge, der Jüngere nicht auf dem See. Als hätte ich bei beiden nicht das richtige Maß gefunden, dem einen etwas vorenthalten, was ich dem anderen im Übermaß zuteilwerden ließ. Aber ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe."
"Vermutlich hast du gar nichts falsch gemacht.", erklärte Maria. "Sie sind eben so geworden, wie sie sind. Gott hat das so gewollt. Bei Levi habe ich auch oft gedacht, an welcher Stelle haben wir es versäumt, ihm zu erklären, was Recht und Unrecht ist und worauf es ankommt im Leben. Ich habe nie verstanden, dass so ein rücksichtsloser, gieriger Zecher aus ihm werden konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn zu sehr verwöhnt und alles Unangenehme von ihm ferngehalten habe. Und ich konnte ihm die Boshaftigkeit nicht austreiben, so sehr ich mich auch bemüht habe. Erst Jesus hat das geschafft. Vielleicht wollte unser Gott den Levi genauso haben, wie er war, damit Jesus den Menschen zeigen konnte, dass jeder jederzeit umkehren kann. Und am Ende war es nicht schlecht, dass Jakobus keinen starken eigenen Willen hatte, denn so hat er sich einfach seinem Bruder angeschlossen und ist Jesus genauso nachgefolgt wie er. Heute bin ich stolz auf meine Söhne und auf das, was aus ihnen geworden ist. Aber Sorgen muss ich mir schon wieder machen, weil ich befürchte, sie könnten verhaftet werden."
"Ja wegen irgendeiner Sache sorgt man sich immer.", bestätigte Zebedäus Marias Rede. "Und sicher hat es auch einen tieferen Sinn, wenn Brüder so verschieden sind. Bei deinen ist es ja nicht anders als bei meinen. Während dir der eine zu hartherzig und der andere zu ziellos war, habe ich mich immer gefragt, ob es richtig war, dass ich alles mit Jakobus tat und Johannes meistens bei seiner Mutter ließ. Wie sollte ein richtiger Mann aus ihm werden, wenn er den ganzen Tag nur Weibergewäsch um die Ohren hatte? Aber ich musste lernen, dass man auf viele Arten ein Mann sein kann und meine beiden Söhne, so unterschiedlich sie sind, haben sich zusammengerauft und gelernt, sich gegenseitig zu schätzen und zu respektieren. Sie haben erkannt, dass einer den anderen braucht, weil jeder für sich zu unvollständig ist, um gut durchs Leben zu kommen. Als sie Kinder waren, haben sie oft furchtbar gestritten. Johannes wollte immer überall mitmischen, war aber noch ein bisschen klein und ungeschickt und Jakobus hat ihn nie gelassen. Einmal sind sie so sehr aneinandergeraten, dass Johannes Jakobus verprügelt hat. Danach ging es komischerweise besser.
Als Jakobus sich dann allerdings an Johannes den Täufer hängte, diesen Wutprediger, da bekam ich es mit der Angst."
"Aber Johannes der Täufer hat doch den Weg für Jesus bereitet. Die beiden waren doch sogar miteinander verwandt, ihre Mütter waren Cousinen.?, warf Maria Alphäus ein.
"Ja genau.", erwiderte Zebedäus. "Und sein Vater war Zacharias, ein angesehener Mann mit einem verantwortungsvollen geistlichen Amt. Nun muss er sich grämen über den Verlust seines Sohnes, über den die Leute jahrelang abfällig redeten. Ein Wunder, dass der Hohe Rat ihn nicht seines Amtes enthoben hat. Johannes hatte vielleicht das richtige Gespür für das Kommen des Herrn, aber nicht dafür, wie man es anstellt, seiner Familie keine Schande zu machen."
"Aber was war denn so furchtbar an ihm?"
"Das wirre Haar, der ungepflegte lange Bart, er trug keine anständige Kleidung sondern Tierfelle, er aß nur Heuschrecken und wilden Honig und er brüllte, wenn er predigte, als werde er über dem Feuer geröstet. Viele dachten, er sei wahnsinnig und ich hatte ebenfalls den Eindruck. Als Jakobus anfing, ihm nachzulaufen, hatte ich große Angst, dass er genauso wahnsinnig wird. Er half nicht mehr beim Fischen, ließ mich einfach im Stich, sodass ich oft allein mit Johannes auf dem See war. Da habe ich angefangen, meinen Zweitgeborenen einmal richtig kennenzulernen. Er ist der Klügere und Besonnenere von den beiden. Jakobus ist ein Hitzkopf. Als Jesus dann auftauchte und er ihm auch direkt hinterherlief, riss mir der Geduldsfaden. So ein Unsinn, irgendwelchen Predigern zu folgen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Und dann folgte Johannes ihm auch noch. Mein Jüngster ist noch zu klein zum Fischen, ich kann doch nicht alles allein machen, dafür bin ich mittlerweile zu alt. Zum Glück sind sie mir dann doch regelmäßig zur Hilfe gekommen und heute bin ich stolz, dass sie zu Jesu Gefolgsleuten gehören."
Im Versteck der Jünger herrschte nach wie vor verhaltenes Gemurmel. Eine bedrückende Stille, die sich aus dem noch nicht verebbten Schock über den grausamen Tod des Meisters, Trauer und Furcht speiste. "Wie viele Tage gibst du uns noch?", fragte Thomas Philippus. "Drei? Oder vielleicht sieben?"
"Vielleicht auch Siebentausend, wenn wir uns in acht nehmen.", erwiderte Philippus.
"Wie denn?", fragte Thomas.
"Uns verborgen halten, nicht auffallen, bis der Blick des Hohen Rates und der Römer auf andere vermeintliche Gegner fällt."
Es klopfte an der Tür und augenblicklich breitete sich ein gespenstisches Schweigen aus. Manche hielten den Atem an. Als das Klopfen lauter und energischer wurde, begann Marias Atem sich zu beschleunigen. Ihre Schwester Martha legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen. "Sch.", zischte sie leise und Maria bemühte sich um tiefere und langsamere Atemzüge.
"Keine drei Tage.", flüsterte Thomas und Philippus rammte ihm ärgerlich einen Ellenbogen in die Seite.
?Lasst mich rein.", flehte draußen eine zarte Frauenstimme ? oder die verstellte Stimme eines Soldaten, denn es konnte keine von ihnen sein, sonst hätte sie das Losungswort genannt. Niemand rührte sich.
Simon Petrus zitterte vor Angst und vor Scham darüber flossen schon wieder reichlich Tränen aus seinen verweinten Augen.
Es klopfte wieder eindringlich. Nach einem Moment des Lauschens sagte die Stimme: ?Bitte, lasst mich rein! Ich bin es, Susanna."
Martha atmete tief durch und ging zur Tür. Andreas hielt sie am Handgelenk fest und schüttelte energisch mit dem Kopf.
"Ach lass mich!", zischte sie und riss sich los. "Ich erkenne doch Susannas Stimme. Wenn ihr Männer euch nicht immer so vor Angst vergraben würdet, wer weiß, vielleicht wäre der Herr noch am Leben."
Petrus schluchzte laut auf und Martha öffnete die Tür einen Spalt breit. Sie erkannte Susanna und zog sie schnell ins Haus, um die Tür sofort wieder zu verschließen. Erleichtertes Aufatmen machte die Runde und vom Tisch aus schimpfte Jakobus, der Sohn des Zebedäus: "Wie kannst du uns nur alle so in Angst und Schrecken versetzen? Warum hast du nicht das Losungswort gesagt, dann hätten wir alle sofort gewusst, dass von dir keine Gefahr ausgeht."
"Ich habe es vergessen.", gestand Susanna schuldbewusst.
"Dann wärst du besser nicht hergekommen.", wies Jakobus sie zurecht. "Du hast uns alle in Gefahr gebracht, dadurch, dass du so lange vor der Tür gestanden hast und um Einlass gefleht hast. Das fällt auf und gibt Gerede."
"Jetzt sei nicht so herzlos, Bruder.", mischte Johannes sich ein. "Wir sind alle gerade zutiefst erschüttert und ein bisschen durcheinander. Susanna geht es nicht anders, da hat sie eben das Losungswort vergessen. In ihrem unscheinbaren Gewand wird sie keinem aufgefallen sein. Auf Frauen wird nur geachtet, wenn sie sich besonders herausputzen."
"Entschuldigt bitte.", sagte Susanna leise. "Ich konnte nicht eher kommen, ich saß einfach vor meinem Haus und konnte mich nicht bewegen, als wenn mit Jesus auch meine ganze Kraft und all mein Mut und meine Freude gegangen sind."
"Das geht uns allen so.", bestätigte Maria von Bethanien dieses Bekenntnis. "Komm, setz dich zu mir und iss ein Stück Brot und trink etwas Wein, dann geht es dir gleich etwas besser."
Susanna bedankte sich und genoss das Mahl in der angenehmen Gesellschaft einer treuen Freundin.
"Typisch Maria", dachte Martha und begann, geräuschvoll den Tisch abzuräumen. Sie konnte nicht aus ihrer Haut: So lange die Hausarbeit sie ansah, musste sie sie erledigen, wenn niemand sonst sich erbarmte. Alle saßen schwermütig an der Tafel und gaben bedeutungsvolle Reden von sich, dabei schoben sie sich das liebevoll zubereitete Essen gedankenverloren zwischen die Zähne, als sei es eine lästige Pflicht. Genauso wie damals, als Jesus bei ihnen in Bethanien zu Besuch gewesen war. Sie, Martha, hatte sich vorher ausführlich Gedanken gemacht, hatte sorgfältig eingekauft und viel Mühe auf die perfekte Zubereitung verwendet. Das Brot aus dem fein gemahlenen Mehl war wunderbar aufgegangen, hatte das ganze Haus mit seinem köstlichen Duft erfüllt, außen knusprig, innen weich und saftig, bestrichen mit dem besten Öl und gewürzt mit frischen Kräutern. Dazu hatte sie eingelegte Oliven gereicht, gebratenes Lamm, gar und trotzdem zart und kräftig gewürzt. Das I-Tüpfelchen war eine Grütze aus gerösteten Gerstenkörnern, Granatapfelkernen, frischen Trauben und Nüssen gewesen, verfeinert mit Honig. Und erst der Wein, den hatte Lazarus selbst gekeltert und er war ihm ausgezeichnet gelungen.
Maria hatte nur den Tisch gedeckt, kurz bevor der Meister kam, war den ganzen Tag in ihrer gedankenverlorenen, ineffektiven Art durch Haus und Garten gestreift, hatte hier ein Stäubchen weggewischt, dort ein Kräutlein ausgezupft, aber alles ohne Plan und vor allem ohne Tempo. Das hatte sie wie immer ihrer kleinen Schwester überlassen. So viele Jahre hatte sie die große Schwester bewundert, hatte sein wollen wie sie, so wohlgestaltet, elegant, geschickt darin, andere in ein Gespräch zu verwickeln und an sich zu fesseln, zu allem eine Meinung, auf jede Frage eine kluge Antwort oder zumindest eine originelle Gegenfrage. Doch Martha schaffte es nicht. Niemand war sonderlich an den Gesprächen mit ihr interessiert, sie wusste auch schon bald nichts mehr zu sagen und die Männer sahen ihr auch nicht so hinterher wie ihrer großen Schwester. Sie suchte es wettzumachen, indem sie sich einfach immer bei allem, was sie tat, anstrengte, immer ihr Bestes gab und so war sie über die Jahre zu einer perfekten Hausfrau und Gastgeberin herangereift. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass Maria auch diese neue Wendung perfekt für sich zu nutzen wusste, indem sie sich bequem zurücklehnte und alles Martha überließ: "Ach Schwesterchen, keiner kocht, backt und bewirtet so perfekt wie du, da kann ich dir nicht annähernd das Wasser reichen. Ich übernehme die Unterhaltung der Gäste, damit ich mich wenigstens ein bisschen nützlich machen kann."
Als dann Jesus zu Besuch kam und Maria Martha wieder die ganze Arbeit allein machen ließ, während sie selbst als wortgewandte Gesprächspartnerin glänzte, war ihr schließlich der Kragen geplatzt. Sie wollte auch etwas von Jesus haben und nicht nur schuften, bis ihr die Füße wehtaten. Sie setzte auf Jesus' Gerechtigkeitssinn, denn er hatte davon gesprochen, dass jene selig seien, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt würden und wenn sie schon selbst bei der großen Schwester nichts ausrichten konnte, so hoffte sie, Jesus würde ihr den Gefallen tun und Maria die Welt erklären. Sie hatte versucht ihren Ärger hinter einem schelmischen Scherz zu verbergen: "Ach Meister, wenn du meiner großen Schwester die wichtigen Dinge des Lebens erklärst, kannst du ihr dann nicht auch einmal darlegen, dass die Arbeit geteilt werden muss, damit die einen nicht mit geschwollenem Kopf vor Untätigkeit verkümmern, während die anderen verblöden und gleichzeitig unter der Last zusammenbrechen? Sie hat wohl bis heute nicht verstanden, dass Hausarbeit keine Zauberei ist."
Martha hatte erwartet, dass Jesus sich belustigt auf die Schenkel klopfen würde und Maria den Hinweis gäbe: "Geh, löse deine Schwester ein bisschen ab, damit sie nicht verblödet und deine Ärmchen nicht so dünn wie junge Olivenzweige werden."
Stattdessen ermahnte er Martha: "Ach Martha, ich gebe zu, dass du viel zu tun hast mit dem guten Essen, das will alles geplant, bedacht, vorbereitet und wohlüberlegt und geschickt zubereitet sein. Du bist eine Meisterin darin, aber deine Schwester ist auch eine Meisterin. Eine Meisterin im Zuhören und Erzählen, im Fragen Stellen und Antwortengeben. In der Zuwendung an den Gast, den sie genau sieht und für den sie ganz und gar da ist, ohne sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Und glaube mir, Maria hat den besseren Teil gewählt."
Das war ein Schlag ins Gesicht gewesen, eine Demütigung die alles in den Schatten stellte, was sie bisher an Herabwürdigung erfahren hatte, und sie hatte weiß Gott viel in dieser Richtung mitgemacht. Wäre es nicht Jesus gewesen, sie hätte ihm die Grütze ins Gesicht geschleudert und ihm ordentlich die Meinung gesagt. Aber bei Jesus konnte sie das nicht. Bei Jesus konnte sie nur unendlich verletzt und traurig sein und schweigend hinnehmen, dass nicht einmal er auf ihrer Seite war. Sogar zu seiner Liebe hatte Maria ihr den Weg verstellt. Keine Grenze hatte sie respektiert, ihn kurz vor seinem Ende mit teurem Duftöl gesalbt. Als wäre das nicht schon mehr als genug gewesen, hatte sie seine Füße mit ihren Tränen begossen und mit ihren Haaren abgetrocknet. Wie war sie nur dazu gekommen, ihn einfach anzufassen, die nackte Haut, als wäre er ihr Mann gewesen? Martha hätte sich so etwas nie getraut und sie beneidete ihrer Schwester auch jetzt noch um die Nähe zu Jesus, die sie sich einfach genommen hatte, ganz zu schweigen von der dramatischen Selbstinszenierung. Manchmal beschlich sie der Verdacht, dass es Maria gar nicht um Jesus gegangen war, sondern um sich selbst.
Als alle Schüsseln eingeweicht und alle Krüge mit Vorräten und Resten gut verschlossen waren, schweifte Marthas Blick durch den Raum und blieb bei Salome hängen. "Auch so eine Schöne.", dachte sie, "auch so redegewandt und anziehend, vermutlich ebenso unpraktisch und rettungslos verloren in der Küche wie Maria."
Aber dann erinnerte sich Martha, dass sie in der Nacht nach Jesu Besuch sehr lange nachgedacht hatte und ihr aufgefallen war, dass es zwar schön war, gutes Essen vorgesetzt zu bekommen, dass das aber alles wenig wert war, wenn es nicht mit Liebe und Zuwendung serviert wurde. Und in der Tat, das war nicht Marthas Sache, das konnte ihre Schwester einfach besser. Vielleicht musste sie lernen, hinzunehmen, dass jede von ihnen andere Stärken hatte. Nur dass ausgerechnet ihre Stärken weniger wert sein sollten, das konnte sie nicht akzeptieren. Aber wer wusste schon, wie Salome sich als Gastgeberin verhielt? Sie kannte sie kaum. Vielleicht sollte sie heute einmal damit anfangen, interessierte Fragen zu stellen und aufmerksam zuzuhören, denn im Haus war ja nun wirklich nichts mehr zu tun.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte sie Salome höflich.
"Aber natürlich.", antwortete die. "Du hast es geschafft, dass ich mir nach dem Essen die Finger abgeleckt habe, obwohl ich eigentlich vor lauter Kummer überhaupt keinen Hunger und keine Lust auf ein Abendessen hatte."
Martha lächelte geschmeichelt. "Das lag vermutlich am guten Öl und an den frischen, jungen Kräutern."
"Aber man muss es auch schon können.", sagte Salome. "Bei den Salben, die die anderen für den toten Jesus hergestellt haben, kam es auch auf die richtigen Zutaten an. Aber ich habe mich aus der Herstellung herausgehalten, ich hätte nur alles verdorben."
"Kochst du nicht so gern?", fragte Martha.
"Nein.", antwortete Salome. "Ich kann etwas zubereiten, damit niemand verhungert, aber ich bin besser darin, Stoffe zu weben und Gewänder zu nähen."
"Das ist auch wichtig.", sagte Martha. "Das kann ich nicht so gut. Es reicht, um sich zu bedecken, aber es sieht nicht schön aus, was ich selbst nähe. Und zum Weben fehlt mir die Geduld."
"Ach", winkte Salome ab. "Ich habe es von klein auf von meiner Mutter gelernt und wenn man sich nebenbei Geschichten erzählt oder Lieder singt, dann ist es fast so, als wäre man nicht bei der Arbeit sondern beim Schabbat."
"Hast du so Jesus kennengelernt?", fragte Martha, "Hast du ihm ein Gewand genäht?"
"Ich? Ach was, nein, ich war eine aus der begeisterten Menge, die ihm nachlief, um zu hören, was er zu sagen hatte. Ich kenne so viele alte Geschichten, aber wenn er sie erzählte, bekamen sie plötzlich einen ganz neuen Sinn, alles wurde klarer, hoffnungsvoller, reicher. Und jetzt ist er schon wieder fort. Nicht einmal drei Jahre durfte ich ihm nachfolgen, dabei hätte ich doch noch so viel von ihm lernen können. Ich bin entsetzlich traurig."
"Ja, traurig bin ich auch.", sagte Martha. "Und bestimmt hätte ich noch viel mehr lernen müssen. Vielleicht lerne ich es ja jetzt von dir."
Maria, die Frau des Klopas, eine Cousine der Mutter Jesu setzte sich zu den beiden Frauen. "Oh ja, Salome.", sagte sie, "Lass uns von dir lernen. Keine kennt so viele von den alten Geschichten wie du."
"Ach, die kennt doch jede.", winkte Salome ab. "Ja, gehört haben wir sie alle einmal.", antwortete Maria Klopas. "Aber ich habe das meiste vergessen. Mir geht es ja mehr so wie Martha, ich brauche meinen Kopf vor allem für den Haushalt."
"Hast du auch einmal den Meister bewirtet?", fragte Martha.
"Oh ja.", antwortete Maria Klopas. "Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Klopas, mein Mann, hatte Jesus da schon seit geraumer Zeit unterstützt, war zu den Orten gegangen, an denen der Meister geredet hat, hat ihm Lebensmittel und manchmal auch etwas Geld gegeben oder eine Unterkunft organisiert, wenn er wusste, dass Jesus eine Reise an einen Ort plante, an dem Klopas Verwandte hatte. Ich habe wirklich Glück gehabt mit ihm. Er ist ehrlich, treu, anständig, fleißig und geschickt. Und dann kam der Tag, als er aufgeregt in der Tür stand und mir eröffnete: 'Jesus von Nazareth kommt heute Abend als Gast in unser Haus, zum Essen und zum Übernachten und er bringt noch ein paar von seinen Jüngern mit.'
Da hatte ich alle Hände voll zu tun, dass ich etwas Anständiges und genug zu essen auf den Tisch brachte. Als wir dann alle beim Abendbrot saßen, kam ich endlich zur Ruhe. Und das war das erste was mich an Jesus erstaunte: Er lobte mich dafür, dass ich es verstand, mich nach getaner Arbeit auszuruhen. Erst danach lobte er meine Kochkunst und meine Gastfreundschaft. Er sagte, es ist gut, für andere zu sorgen, aber man muss auch für sich selbst sorgen und für beides das richtige Maß zu finden, ist keine leichte Sache. Zuerst dachte ich, dahinter verberge sich ein unterschwelliger Tadel, aber er meinte es ganz freundlich und danach sagte er noch so viele andere Dinge, wie er die Welt sah und wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte.
Zum Beispiel, dass die Welt ein Ort ist, der gleichzeitig schön und schrecklich ist, dass aber all das Schreckliche uns im Grunde nichts anhaben kann, wenn wir Gott in uns tragen. Dann kann zwar unser Körper zugrunde gehen, aber unsere Seele bleibt beschützt und wird gerettet. Und ich dachte an meine tote Mutter, die mir auch nach so vielen Jahren noch immer zur Seite steht in meinen Gedanken und Träumen, die nie wirklich fortgegangen ist, obwohl ihr Leib doch längst in der Grabhöhle verdorben ist.
Alles, was Jesus sagte, fühlte sich gut an, selbst wenn es schwer war und herausfordernd, es war nie entmutigend, nie zu schwer, nie so bitter, dass es einen vergiftet hätte. Seit dieser Nacht trug ich Jesus immer bei mir wie meine Mutter, obwohl er ja noch lebte, aber er war ja für so viele gekommen, nicht nur für mich. Er hat mich froh, frei, stark und mutig gemacht und darum durfte ich ihn in seiner schwersten Stunde auch nicht im Stich lassen. Ich glaube, dass er jetzt bei uns ist, auch wenn sein Körper verfaulen wird, Jesus ist unter uns, da bin ich mir sicher."
Martha tat sich ein bisschen schwer mit dieser Vorstellung. Sie hatte erlebt, wie Jesus ihren vor Tagen verstorbenen Bruder wieder zum Leben auferweckt hatte. Lazarus lebte, aber er lebte genauso wie vorher, in seinem Körper, dem Werkzeug des Handelns. Was tat eine entleibte Seele? Sie hatte ja nicht einmal eine Stimme, um zu sprechen. Martha seufzte. Vielleicht konnte sie von Salome und Maria Klopas ja noch lernen, wie sie die Gegenwart Jesu fühlen konnte.
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Montag, 11. April 2022
Karfreitagabend - Vierzehnte Stunde
c. fabry, 13:03h
Das Essen im Hause Zebedäus war beendet. Die Gespräche waren vorübergehend zum Erliegen gekommen, denn alle waren schrecklich erschöpft und von Trauer durchdrungen. Zuerst war Maria Alphäus eingenickt, dann der Gastgeber selbst. Johanna saß ruhig da und starrte ins Leere, denn die schlafende Freundin lehnte entspannt an ihrer Schulter, sie wollte sie nicht aufwecken.
Frau Zebedäus räumte den Tisch ab und Maria Magdalena half ihr, die benutzen Schalen und Platten in den Hof zu tragen, wo schon das Spülwasser bereit stand. Sie weichten die verunreinigte Töpferware nur ein, denn der Schabbat hatte begonnen und die gründliche Reinigung des Geschirrs würde nicht vor dem kommenden Abend erfolgen. In stillem Einverständnis setzten sie sich in die kühle Abendluft und Maria Magdalena fragte die Gastgeberin: "Ist es sehr schlimm für dich, dass deine beiden ältesten Söhne in dieser schweren Stunde nicht bei dir sind?"
"Nicht so schlimm.", antwortete sie. "Ein bisschen traurig, aber sie sind ja nicht aus der Welt. So ist der Lauf der Dinge. Die Kinder werden groß und verlassen Vater und Mutter. Aber sie unterstützen uns immer noch sehr und sind ja meistens in unserer Nähe."
"Sie sind sehr unterschiedlich, nicht wahr?"
"Oh ja.", antwortete Frau Zebedäus und schmunzelte. "Jakobus ist durch und durch der Sohn seines Vaters und macht seinem Namen alle Ehre. Eine Kämpfernatur. Wäre er ein Zwilling, er hätte den anderen bei der Geburt nicht an der Ferse festgehalten, sondern zur Seite geschubst. Schon als kleiner Junge liebte er es, mit den Männern zusammen raus zu fahren, die vollen Netze ins Boot zu ziehen, ja sogar das Töten und Vorbereiten der Fische für den Markt machten ihm Freude. Manchmal war er mir regelrecht unheimlich. Ich fühlte mich wie eine Außenseiterin, als sei er gar nicht mein Kind, als sei ich nur das Gefäß gewesen, in dem der Spross des Zebedäus heranwuchs."
"Und das macht dich nicht stolz?", fragte Maria Magdalena vorsichtig.
Frau Zebedäus schaute sie ungläubig an, dann sagte sie: "Von den meisten anderen Frauen hätte ich so eine Frage durchaus erwartet, von dir allerdings am allerwenigsten."
Maria kicherte. "Stimmt. Ich wäre auch nicht gern ein nützlicher Gegenstand im Hause eines angesehenen Mannes."
"Eben.", erwiderte Frau Zebedäus. "Ich beklage mich ja nicht, er ist ein guter Mann, anständig, fleißig, stark und liebevoll. Kein jähzorniger Schläger, kein Trinker, kein Jammerlappen. Doch unsere Ehe ist eine Hausgemeinschaft, mehr nicht."
"Wieso? Ihr habt doch Kinder."
"So meine ich das nicht. Wir teilen die Verantwortung für unsere Kinder, das Bett, den Tisch und die Arbeit, die getan werden muss. Aber wir reden auch nur über diese Dinge. Was wir essen, wie viel Geld wir haben, was repariert werden muss, wie groß der Fang war, wenn ein Kind krank wird. Doch wir reden nie darüber, ob wir traurig sind oder froh, was wir glauben und woran wir zweifeln. Wovor wir Angst haben und was uns Mut macht."
"Männer führen solche Gespräche wohl nur untereinander.", meinte Maria.
"Zebedäus führt keine solchen Gespräche.", entgegnete seine Frau.
"Manche Männer können darüber nicht so gut reden, die machen das mehr mit sich selbst aus."
"Zebedäus macht nichts mit sich selbst aus.", widersprach seine Frau. "Er ist ein Fischer mit starken Muskeln, einer reinen Seele, einem funktionierenden Verstand und gänzlich ohne Sinn für alles, was nicht praktisch ist."
"Warum bist du seine Frau geworden?"
"Es ergab sich so. Er bot sich an, sah gut aus, war im passenden Alter, war stark, gesund und fröhlich. Warum hätte ich ihn zurückweisen sollen? Ich habe von einem Mann damals nicht erwartet, dass er tiefschürfende Gespräche mit mir führt. Er sollte mir Sicherheit bieten und mich gut behandeln. Das ist mehr, als die meisten Frauen bekommen. Aber wir sind sehr verschieden, Zebedäus und ich. Wir lieben und achten einander, aber wir können nicht miteinander reden."
"Und Johannes ist anders?", fragte Maria neugierig.
"Ganz anders. Er ist tatsächlich ganz und gar mein Sohn. Er ist auch keine Heulsuse oder ein Tölpel, aber für ihn waren die Arbeiten auf dem Boot nie das Höchste, was er im Leben erreichen wollte. Er machte sich schon früh Gedanken, ihm fielen Dinge auf. Zum Beispiel, dass es nicht gerecht ist, dass eine Witwe in Armut leben muss, wenn sie keine erwachsenen Kinder hat, die sie versorgen, während ein Mann ohne Frau einfach sein Tagwerk verrichtet, sein Haus unterhalten kann und genug zu essen hat, so dass es ein leichtes für ihn ist, eine neue Frau zu finden und bald wieder ein normales Leben zu führen. Mit Johannes hatte ich, seit er sprechen gelernt hat, an jedem Tag mehr gehaltvolle Gespräche als mit Zebedäus in dreißig Ehejahren."
"Und dann kam Jesus und hat dir beide Söhne weggenommen. Und den Johannes ganz besonders."
"Du meinst, weil er ihn zum Sohn der Maria von Nazareth erklärt hat?"
Maria Magdalena nickte zustimmend.
"Nein, das ist nicht schlimm. Zuerst war ich schon ziemlich aufgewühlt, aber dann hat Johannes mich angesehen und ich wusste, er ist noch immer mein Sohn, er kümmert sich nur um Maria. Jesus wollte sie versorgt wissen."
"Sie hat doch noch andere Kinder."
"Ja, aber die standen Jesus alle nicht besonders nahe und sie sind auch eher von der praktischen Sorte, so wie Zebedäus und Jakobus. Sie bieten keinen Ausgleich für den großartigen Jesus, der den Menschen ins Herz sah, so klug und so aufmerksam war. Und der so ganz und gar von Gott durchdrungen war, dass ein Glanz von ihm ausging. Mein Johannes war immer der Lieblingsjünger, das ist jedem aufgefallen, vielleicht ist etwas von dem Glanz Jesu auf ihn übergegangen. Er ist derjenige, der Marias Erstgeborenem am nächsten stand, ihm am ähnlichsten war, in der Art, wie er durchs Leben ging. Sie braucht seine Freundschaft, und ich muss sagen, dass ich ziemlich stolz auf ihn bin, gerade weil er derjenige ist, der mich am besten versteht."
"Und wie wird es nun für dich weitergehen?", fragte Maria Magdalena
"Das wird sich finden.", antwortete Frau Zebedäus gleichmütig. "Zebedäus wird weiter Fische fangen, unsere jüngeren Kinder werden größer und Jakobus und Johannes werden tun, was sie für richtig halten. Ich hoffe nur, sie werden keine langen Reisen antreten, weil ich dann keinen mehr zum Reden hätte. Aber wenn sie sich dazu entschließen, muss ich es hinnehmen."
"Du kannst dann ja ab und zu mit mir reden.", meinte Maria schmunzelnd.
"Ja", erwiderte Frau Zebedäus. "das wäre schön."
Im Versteck der Gemeinschaft saßen die engsten Vertrauten Jesu vorn, nahe am Eingang. Weiter hinten im Haus, am letzten Ende des Tisches, wo weitaus weniger Licht eindrang, hielten sich die anderen auf. Sie waren die Jünger in der zweiten Reihe. Diejenigen, die nie so nah an den Meister herangekommen waren, wie die Söhne des Zebedäus oder Petrus und Andreas.
"Wo ist Judas eigentlich?", fragte Jakobus Alphäus.
"Hast du das nicht gehört?", fragte Thaddäus. "Der hat sich in der letzten Nacht draußen vor der Stadt erhängt."
"Nein, das wusste ich nicht. Das ist ja furchtbar."
"vielleicht das Beste, was er je getan hat.", meinte Matthäus.
"Sag so was nicht!", wies Simon Kananäus ihn zurecht. "Judas hat uns immer gut über die Runden gebracht. Er war der Einzige, der vernünftig mit Geld umgehen konnte."
"Er war vor allem gut darin, immer unauffällig etwas für sich selbst abzuzwacken." unkte Matthäus.
"So unauffällig kann das ja nicht gewesen sein", wandte sein Bruder Jakobus ein, "wenn es sogar dir nicht entgangen ist."
"So durchtrieben kann er nicht gewesen sein." überlegte Thaddäus. "Ein Gewissenloser setzt seinem Leben nicht einfach so ein Ende, der mogelt sich weiter durch. Ich weiß gar nicht, ob Judas tatsächlich etwas für sich abgezwackt hat, ich weiß nur, dass er unser Geld gut verwaltet hat. Er war vielleicht nicht ganz reinen Herzens, aber wer kann das schon von sich behaupten?"
"Ja, du hast Recht.", gab Matthäus zu. "Ich war ja viele Jahre viel schlimmer als Judas. Ich habe Geld für die Römer eingetrieben und mich an meinen Brüdern schadlos gehalten. Nicht, weil ich es brauchte, sondern weil ich gern und viel gefeiert habe. Wenn ich den Geldbeutel gehabt hätte, wäre ich vermutlich auch das eine oder andere Mal schwach geworden."
"Selbst nachdem Jesus dich davon überzeugt hat, ein neue Lebensweise an den Tag zu legen?", fragte Thaddäus.
"Ich weiß es nicht.", erwiderte Matthäus. "Jedenfalls bin ich kein Heiliger. Jesus hat mich zum Nachdenken gebracht. Und mein Mitgefühl und mein schlechtes Gewissen habe ich danach nicht mehr betäubt. Aber wenn ich mir lange genug einrede, dass ein Vorteil, den ich mir verschaffe, niemandem schadet, dann kann ich auch ein bisschen was von meinem Anstand verlieren."
"Das kenne ich.", sagte Simon Kananäus. "Ich habe mir auch jahrelang eingeredet, dass die Zeloten im Recht sind, weil sie sich gegen die unrechtmäßigen Besatzer wehren, die uns gewaltsam ausplündern. Ich finde es immer noch richtig sich zu wehren, aber ich hatte schon damals so ein ungutes Gefühl, wenn die Kampfgenossen mit glänzenden Augen davon berichteten, wie sie einen römischen Soldaten abgestochen hatten. Ich dachte dann heimlich immer, dass der junge Mann sich das sicher nicht ausgesucht hat, in Palästina Dienst zu schieben, dass er viel lieber bei seiner Familie oder bei seiner Liebsten wäre, in seiner Heimat und dort irgendetwas tun könnte, womit er seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Sein Kaiser hat ihn verpflichtet und er musste gehorchen, um sein Leben zu erhalten ? und dann haben wir es ihm genommen."
"Hast Du jemals selbst einen abgestochen, Simon?", fragte Matthäus.
"Nein, nie."
"Dann klebt doch auch kein Blut an deinen Händen."
"Doch. Das Blut von vielen. Und gerade eben war ich wieder soweit und habe selbst vorgeschlagen, die Männer des Hohen Rates zu ermorden. Da hatte die Wut wieder mehr Gewalt über mich als Verstand und Mitgefühl zusammen. Ich hätte etwas unternehmen müssen, um die Morde zu verhindern."
"Wie denn?"
"Durch Überzeugungsarbeit."
"Wenn das möglich gewesen wäre", wandte Thaddäus ein, ?hätte Jesus die anderen auch überzeugt. Hat er das?"
"Nein."
"Und da meinst du, dir hätte es gelingen können?"
"Nein.", räumte Simon ein. "Aber ich hätte es trotzdem versuchen müssen."
"Damit hättet du deine wertvolle Kraft verschwendet.", widersprach Matthäus. "Besser, du predigst denen, die es auch hören wollen."
"Aber bedeutet das nicht, dass wir dann für alle Zeiten unter uns bleiben?", fragte Thaddäus. "Wie sollen wir als Bewegung wachsen, wenn wir immer nur zu denen sprechen, die wir ohnehin längst überzeugt haben?"
"Wir wachsen schon noch.", meinte Matthäus. "Wir wollten ja auch zuhören, obwohl wir überzeugt werden mussten. Es gibt sicher noch viele, die auf der Suche sind oder die sich ganz verloren fühlen und sich von uns finden lassen wollen."
Susanna saß noch immer vor ihrem Haus und blickte mit den Händen im Schoß in den dunklen Abendhimmel. Sie könnte hier sitzen bleiben und weiter darauf warten, dass die alten Beschwerden sich wieder einstellten. Sie könnte aber auch das Geheimversteck der Gemeinschaft aufsuchen und sich dort vielleicht geborgen fühlen. Ja. Sie würde es versuchen.
Frau Zebedäus räumte den Tisch ab und Maria Magdalena half ihr, die benutzen Schalen und Platten in den Hof zu tragen, wo schon das Spülwasser bereit stand. Sie weichten die verunreinigte Töpferware nur ein, denn der Schabbat hatte begonnen und die gründliche Reinigung des Geschirrs würde nicht vor dem kommenden Abend erfolgen. In stillem Einverständnis setzten sie sich in die kühle Abendluft und Maria Magdalena fragte die Gastgeberin: "Ist es sehr schlimm für dich, dass deine beiden ältesten Söhne in dieser schweren Stunde nicht bei dir sind?"
"Nicht so schlimm.", antwortete sie. "Ein bisschen traurig, aber sie sind ja nicht aus der Welt. So ist der Lauf der Dinge. Die Kinder werden groß und verlassen Vater und Mutter. Aber sie unterstützen uns immer noch sehr und sind ja meistens in unserer Nähe."
"Sie sind sehr unterschiedlich, nicht wahr?"
"Oh ja.", antwortete Frau Zebedäus und schmunzelte. "Jakobus ist durch und durch der Sohn seines Vaters und macht seinem Namen alle Ehre. Eine Kämpfernatur. Wäre er ein Zwilling, er hätte den anderen bei der Geburt nicht an der Ferse festgehalten, sondern zur Seite geschubst. Schon als kleiner Junge liebte er es, mit den Männern zusammen raus zu fahren, die vollen Netze ins Boot zu ziehen, ja sogar das Töten und Vorbereiten der Fische für den Markt machten ihm Freude. Manchmal war er mir regelrecht unheimlich. Ich fühlte mich wie eine Außenseiterin, als sei er gar nicht mein Kind, als sei ich nur das Gefäß gewesen, in dem der Spross des Zebedäus heranwuchs."
"Und das macht dich nicht stolz?", fragte Maria Magdalena vorsichtig.
Frau Zebedäus schaute sie ungläubig an, dann sagte sie: "Von den meisten anderen Frauen hätte ich so eine Frage durchaus erwartet, von dir allerdings am allerwenigsten."
Maria kicherte. "Stimmt. Ich wäre auch nicht gern ein nützlicher Gegenstand im Hause eines angesehenen Mannes."
"Eben.", erwiderte Frau Zebedäus. "Ich beklage mich ja nicht, er ist ein guter Mann, anständig, fleißig, stark und liebevoll. Kein jähzorniger Schläger, kein Trinker, kein Jammerlappen. Doch unsere Ehe ist eine Hausgemeinschaft, mehr nicht."
"Wieso? Ihr habt doch Kinder."
"So meine ich das nicht. Wir teilen die Verantwortung für unsere Kinder, das Bett, den Tisch und die Arbeit, die getan werden muss. Aber wir reden auch nur über diese Dinge. Was wir essen, wie viel Geld wir haben, was repariert werden muss, wie groß der Fang war, wenn ein Kind krank wird. Doch wir reden nie darüber, ob wir traurig sind oder froh, was wir glauben und woran wir zweifeln. Wovor wir Angst haben und was uns Mut macht."
"Männer führen solche Gespräche wohl nur untereinander.", meinte Maria.
"Zebedäus führt keine solchen Gespräche.", entgegnete seine Frau.
"Manche Männer können darüber nicht so gut reden, die machen das mehr mit sich selbst aus."
"Zebedäus macht nichts mit sich selbst aus.", widersprach seine Frau. "Er ist ein Fischer mit starken Muskeln, einer reinen Seele, einem funktionierenden Verstand und gänzlich ohne Sinn für alles, was nicht praktisch ist."
"Warum bist du seine Frau geworden?"
"Es ergab sich so. Er bot sich an, sah gut aus, war im passenden Alter, war stark, gesund und fröhlich. Warum hätte ich ihn zurückweisen sollen? Ich habe von einem Mann damals nicht erwartet, dass er tiefschürfende Gespräche mit mir führt. Er sollte mir Sicherheit bieten und mich gut behandeln. Das ist mehr, als die meisten Frauen bekommen. Aber wir sind sehr verschieden, Zebedäus und ich. Wir lieben und achten einander, aber wir können nicht miteinander reden."
"Und Johannes ist anders?", fragte Maria neugierig.
"Ganz anders. Er ist tatsächlich ganz und gar mein Sohn. Er ist auch keine Heulsuse oder ein Tölpel, aber für ihn waren die Arbeiten auf dem Boot nie das Höchste, was er im Leben erreichen wollte. Er machte sich schon früh Gedanken, ihm fielen Dinge auf. Zum Beispiel, dass es nicht gerecht ist, dass eine Witwe in Armut leben muss, wenn sie keine erwachsenen Kinder hat, die sie versorgen, während ein Mann ohne Frau einfach sein Tagwerk verrichtet, sein Haus unterhalten kann und genug zu essen hat, so dass es ein leichtes für ihn ist, eine neue Frau zu finden und bald wieder ein normales Leben zu führen. Mit Johannes hatte ich, seit er sprechen gelernt hat, an jedem Tag mehr gehaltvolle Gespräche als mit Zebedäus in dreißig Ehejahren."
"Und dann kam Jesus und hat dir beide Söhne weggenommen. Und den Johannes ganz besonders."
"Du meinst, weil er ihn zum Sohn der Maria von Nazareth erklärt hat?"
Maria Magdalena nickte zustimmend.
"Nein, das ist nicht schlimm. Zuerst war ich schon ziemlich aufgewühlt, aber dann hat Johannes mich angesehen und ich wusste, er ist noch immer mein Sohn, er kümmert sich nur um Maria. Jesus wollte sie versorgt wissen."
"Sie hat doch noch andere Kinder."
"Ja, aber die standen Jesus alle nicht besonders nahe und sie sind auch eher von der praktischen Sorte, so wie Zebedäus und Jakobus. Sie bieten keinen Ausgleich für den großartigen Jesus, der den Menschen ins Herz sah, so klug und so aufmerksam war. Und der so ganz und gar von Gott durchdrungen war, dass ein Glanz von ihm ausging. Mein Johannes war immer der Lieblingsjünger, das ist jedem aufgefallen, vielleicht ist etwas von dem Glanz Jesu auf ihn übergegangen. Er ist derjenige, der Marias Erstgeborenem am nächsten stand, ihm am ähnlichsten war, in der Art, wie er durchs Leben ging. Sie braucht seine Freundschaft, und ich muss sagen, dass ich ziemlich stolz auf ihn bin, gerade weil er derjenige ist, der mich am besten versteht."
"Und wie wird es nun für dich weitergehen?", fragte Maria Magdalena
"Das wird sich finden.", antwortete Frau Zebedäus gleichmütig. "Zebedäus wird weiter Fische fangen, unsere jüngeren Kinder werden größer und Jakobus und Johannes werden tun, was sie für richtig halten. Ich hoffe nur, sie werden keine langen Reisen antreten, weil ich dann keinen mehr zum Reden hätte. Aber wenn sie sich dazu entschließen, muss ich es hinnehmen."
"Du kannst dann ja ab und zu mit mir reden.", meinte Maria schmunzelnd.
"Ja", erwiderte Frau Zebedäus. "das wäre schön."
Im Versteck der Gemeinschaft saßen die engsten Vertrauten Jesu vorn, nahe am Eingang. Weiter hinten im Haus, am letzten Ende des Tisches, wo weitaus weniger Licht eindrang, hielten sich die anderen auf. Sie waren die Jünger in der zweiten Reihe. Diejenigen, die nie so nah an den Meister herangekommen waren, wie die Söhne des Zebedäus oder Petrus und Andreas.
"Wo ist Judas eigentlich?", fragte Jakobus Alphäus.
"Hast du das nicht gehört?", fragte Thaddäus. "Der hat sich in der letzten Nacht draußen vor der Stadt erhängt."
"Nein, das wusste ich nicht. Das ist ja furchtbar."
"vielleicht das Beste, was er je getan hat.", meinte Matthäus.
"Sag so was nicht!", wies Simon Kananäus ihn zurecht. "Judas hat uns immer gut über die Runden gebracht. Er war der Einzige, der vernünftig mit Geld umgehen konnte."
"Er war vor allem gut darin, immer unauffällig etwas für sich selbst abzuzwacken." unkte Matthäus.
"So unauffällig kann das ja nicht gewesen sein", wandte sein Bruder Jakobus ein, "wenn es sogar dir nicht entgangen ist."
"So durchtrieben kann er nicht gewesen sein." überlegte Thaddäus. "Ein Gewissenloser setzt seinem Leben nicht einfach so ein Ende, der mogelt sich weiter durch. Ich weiß gar nicht, ob Judas tatsächlich etwas für sich abgezwackt hat, ich weiß nur, dass er unser Geld gut verwaltet hat. Er war vielleicht nicht ganz reinen Herzens, aber wer kann das schon von sich behaupten?"
"Ja, du hast Recht.", gab Matthäus zu. "Ich war ja viele Jahre viel schlimmer als Judas. Ich habe Geld für die Römer eingetrieben und mich an meinen Brüdern schadlos gehalten. Nicht, weil ich es brauchte, sondern weil ich gern und viel gefeiert habe. Wenn ich den Geldbeutel gehabt hätte, wäre ich vermutlich auch das eine oder andere Mal schwach geworden."
"Selbst nachdem Jesus dich davon überzeugt hat, ein neue Lebensweise an den Tag zu legen?", fragte Thaddäus.
"Ich weiß es nicht.", erwiderte Matthäus. "Jedenfalls bin ich kein Heiliger. Jesus hat mich zum Nachdenken gebracht. Und mein Mitgefühl und mein schlechtes Gewissen habe ich danach nicht mehr betäubt. Aber wenn ich mir lange genug einrede, dass ein Vorteil, den ich mir verschaffe, niemandem schadet, dann kann ich auch ein bisschen was von meinem Anstand verlieren."
"Das kenne ich.", sagte Simon Kananäus. "Ich habe mir auch jahrelang eingeredet, dass die Zeloten im Recht sind, weil sie sich gegen die unrechtmäßigen Besatzer wehren, die uns gewaltsam ausplündern. Ich finde es immer noch richtig sich zu wehren, aber ich hatte schon damals so ein ungutes Gefühl, wenn die Kampfgenossen mit glänzenden Augen davon berichteten, wie sie einen römischen Soldaten abgestochen hatten. Ich dachte dann heimlich immer, dass der junge Mann sich das sicher nicht ausgesucht hat, in Palästina Dienst zu schieben, dass er viel lieber bei seiner Familie oder bei seiner Liebsten wäre, in seiner Heimat und dort irgendetwas tun könnte, womit er seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Sein Kaiser hat ihn verpflichtet und er musste gehorchen, um sein Leben zu erhalten ? und dann haben wir es ihm genommen."
"Hast Du jemals selbst einen abgestochen, Simon?", fragte Matthäus.
"Nein, nie."
"Dann klebt doch auch kein Blut an deinen Händen."
"Doch. Das Blut von vielen. Und gerade eben war ich wieder soweit und habe selbst vorgeschlagen, die Männer des Hohen Rates zu ermorden. Da hatte die Wut wieder mehr Gewalt über mich als Verstand und Mitgefühl zusammen. Ich hätte etwas unternehmen müssen, um die Morde zu verhindern."
"Wie denn?"
"Durch Überzeugungsarbeit."
"Wenn das möglich gewesen wäre", wandte Thaddäus ein, ?hätte Jesus die anderen auch überzeugt. Hat er das?"
"Nein."
"Und da meinst du, dir hätte es gelingen können?"
"Nein.", räumte Simon ein. "Aber ich hätte es trotzdem versuchen müssen."
"Damit hättet du deine wertvolle Kraft verschwendet.", widersprach Matthäus. "Besser, du predigst denen, die es auch hören wollen."
"Aber bedeutet das nicht, dass wir dann für alle Zeiten unter uns bleiben?", fragte Thaddäus. "Wie sollen wir als Bewegung wachsen, wenn wir immer nur zu denen sprechen, die wir ohnehin längst überzeugt haben?"
"Wir wachsen schon noch.", meinte Matthäus. "Wir wollten ja auch zuhören, obwohl wir überzeugt werden mussten. Es gibt sicher noch viele, die auf der Suche sind oder die sich ganz verloren fühlen und sich von uns finden lassen wollen."
Susanna saß noch immer vor ihrem Haus und blickte mit den Händen im Schoß in den dunklen Abendhimmel. Sie könnte hier sitzen bleiben und weiter darauf warten, dass die alten Beschwerden sich wieder einstellten. Sie könnte aber auch das Geheimversteck der Gemeinschaft aufsuchen und sich dort vielleicht geborgen fühlen. Ja. Sie würde es versuchen.
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