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Sonntag, 10. April 2022
Karfreitagabend - Dreizehnte Stunde
c. fabry, 14:16h
Nun saßen die Zwölf wieder beisammen wie vor einer Woche - nicht ganz, Judas fehlte und ein paar Frauen waren dabei - und Jesus fehlte.
Martha von Bethanien hatte die Lichter angezündet, Andreas war mit der Lesung und den Gebeten an der Reihe gewesen. Alles war wie immer und doch vollkommen anders. Sie hielten die äußere Form aufrecht, aber der Inhalt schien ihnen abhandengekommen zu sein.
Man sah nur in ernste Gesichter, einige hatten geschwollene Augen von tausend Tränen, andere schienen innerlich erstarrt. Martha verdrängte ihre Trauer mit hauswirtschaftlicher Geschäftigkeit, ging damit aber dem einen oder anderen auf die Nerven ? unter anderem ihrer großen Schwester.
Maria von Bethanien war gerade vollkommen in ihrer Trauer versunken, sie wollte nichts hören, mit niemandem reden. Es kam in Wellen, wenn eine Welle vorüber war, konnte sie wieder zuhören und antworten und dabei auch freundlich und aufmerksam sein. Aber wenn sie gerade von einer solchen Woge des Schmerzes überrollt wurde, dann war sie nichts als Schmerz, wie ein Scheffel Gerste, über dem Feuer geröstet und jedes Korn war zum Zerreißen gespannt, kurz vor dem Aufplatzen, um am Ende in vielen verschiedenen Mägen zu verschwinden, zu zerfallen, eine aufgelöste Einheit, von der nur die Hülle blieb. Sie wäre Jesus am liebsten in den Tod gefolgt, aber sie war zu gläubig, um das geschenkte Leben einfach fortzuwerfen. Sie würde es überleben und wieder ganz werden. Und Jesus würde ihr dabei helfen, selbst jetzt, wo er nicht mehr unter ihnen war.
Wie Traumgesichte blitzten die Erinnerungen an ihren geliebten Meister vor ihrem inneren Auge auf. Die erste Begegnung, ganz besonders aber das lange Gespräch über Gott und das Leben und den Himmel und über alles, was richtig und falsch war und das süße Gefühl, als Jesus sie gegenüber der gefallsüchtigen, missgünstigen kleinen Schwester in Schutz genommen hatte und ihrer Gesellschaft gegenüber Marthas kulinarischen Verlockungen den Vorzug gab.
Wie er ihren Bruder gerettet hatte, obwohl der schon seit Tagen tot in der Gruft lag, und wie sie ahnend, dass seine Tage auf dieser Welt gezählt waren, seine Füße mit ihren Tränen gewaschen, mit ihrem Haar getrocknet und mit dem edelsten Nardensalböl einbalsamiert hatte. Wie sonst hätte sie ihrer grenzenlosen Liebe Ausdruck verleihen sollen, ohne dabei anzüglich oder aufdringlich zu wirken?
Die Erinnerungen an Jesu Gunstbezeugungen würde sie hüten wie einen Schatz, sie würde den Rest ihres Lebens von ihnen zehren und niemand würde sie ihr nehmen können. Sie betrachtete ihre Schwester. Martha hatte ihr alles genommen: den Lagerplatz neben der Mutter, das Lieblingsspielzeug, die Liebe des Vaters. Als Martha zur Welt gekommen war, war Maria plötzlich nicht mehr vorhanden gewesen. War es Zufall, dass ihre Eltern der Erstgeborenen einen Namen gaben, der ?die Bittere? bedeutete?
Als der kleine Lazarus zur Welt kam, verlor auch Martha ihre Privilegien, doch die nahm es gleichmütiger auf als Maria. Und wegen dieser gleichmütigen Fröhlichkeit war sie auch weiterhin die geliebtere Tochter. Das schmerzte bis heute.
Die kleine Maria hatte einen Ausweg gefunden, die Schmach zu ertragen, indem sie ganze Welten in ihrem Kopf erschuf, in denen sie geschätzt, geachtet und geliebt wurde, in denen sie etwas galt. So schaffte sie es, die Geringschätzung und Nichtbeachtung ihrer Umgebung von sich fernzuhalten. Sie wollte nie einfach nur die Anforderungen erfüllen, die an sie herangetragen wurden. Sie lernte Brot backen, aber sie versuchte nicht, die beste Bäckerin zu sein. Sie konnte Gewänder nähen, aber keine, um die die anderen Frauen sie beneideten. Sie machte das Haus sauber, aber sie fand darin keine Erfüllung. Es musste getan werden, aber es war nichts als lästige Lebenszeitverschwendung. Maria war für etwas anderes bestimmt. Sie sah und erspürte Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie verstand Zusammenhänge, die sich kaum jemandem erschlossen. Dieses Gefühl der Überlegenheit war wie ein Fluch, denn niemand gestand ihr ihre Urteilsfähigkeit zu. Doch Maria glaubte an sich und ihre Fähigkeiten, der Tag würde kommen, an denen sie es allen zeigen würde.
Und dann kam Jesus. Und mit ihm ein Mann, der sie nicht nur verstand und ihr zuhörte, sondern einer, der ihre Klugheit bewunderte, ihr das zeigte und sie vor allen anderen heraushob. Er verschaffte ihr den Glanz, nach dem sie sich in ihrer gesamten Kindheit gesehnt hatte. In seiner Gegenwart durfte sie sie selbst sein. Und darüber hinaus hatte sie so viel von ihm lernen dürfen, denn er hatte wirklich etwas zu sagen, im Gegensatz zu den meisten Männern, die sich nur aufplusterten, jedoch von bemitleidenswertem kleinen Geist waren. Sie hätte alles für ihn getan, wenn es notwendig gewesen wäre oder er sie darum gebeten hätte.
Tatsächlich war sie ihm gefolgt, hatte zusammen mit den anderen Frauen dafür gesorgt, dass er immer einen bequemen Platz zum Schlafen, etwas Anständiges zu Essen und saubere Kleidung hatte. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass die richtigen Leute mit ihm in Kontakt kamen und dass sie ordentlich bewirtet wurden, damit sie auf seine Seite wechselten. Aber sie hatte auch seinen Worten gelauscht und manchmal kluge Fragen gestellt. Sie wäre gern die Einzige für ihn gewesen, aber sie war viel zu klug, um auch nur die Hoffnung zu wagen, dieser Traum könne wahr werden. Jesus war der Sohn Gottes, kein Mann, auf den eine Frau den alleinigen Anspruch erheben konnte.
Trotzdem war es ihr immer wieder gelungen, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Männer liebten es, wenn Frauen ihnen aktiv zuhörten, sie haltlos bewunderten, die richtigen Fragen stellten und sie damit unentwegt aufforderten, nur nicht aufzuhören, ihre klugen Gedanken preiszugeben. Auch wenn er der Messias war, er war eben auch ein Mann. Die anderen Frauen beneideten sie aus tiefstem Herzen. Keine gönnte ihr die Gunst des Meisters. Vor allem ihre kleine Schwester fand es peinlich und anmaßend, wie Maria sich an Jesus anbiederte. "Das steht dir nicht zu!", hatte sie sie einmal angegiftet.
Und nicht nur die Frauen hatten sie eifersüchtig beäugt. Auch die Männer waren außer sich gewesen, als sie Jesus die Füße salbte. Wie eine Verrückte hatten sie sie behandelt, mit ihr geschimpft, sie ausgelacht, die Nasen gerümpft. Aber Maria war das alles egal gewesen. Für sie zählte nur, dass sie ihr Ziel erreichte. Wie die anderen das bewerteten, war ihr gleich. Es war eine unfassbare Ehre, dass Jesus ein Freund der Familie war, ihnen vertraute und in ihrem Haus ein- und ausging, als wohne er bei ihnen. Aber mehr war nicht drin. Und obwohl sie es längst geahnt hatte, fühlte sie sich im Augenblick, als habe man ihr mit dem Mord an Jesus das Herz heraus gerissen und ihr stattdessen einen wütenden Quälgeist in die Brust gepflanzt, der sie immerfort daran erinnerte, wie sehr der Meister ihr fehlte und den Rest ihres Lebens fehlen würde.
Maria von Bethanien merkte nicht, dass seit geraumer Zeit die Blicke eines Mitjüngers auf ihr ruhten. Jakobus, der Sohn des Alphäus, Bruder des Levi, den sie auch Matthäus nannten, gehörte zu ihren stillen Verehrern. Ihre tiefe Freundschaft und Verbundenheit mit Jesus erfüllte ihn mit großem Respekt, aber aufgefallen war ihm vor allem die keusche Schönheit dieser starken und klugen Frau. Jakobus hatte noch nie zu den Privilegierten und Bewunderten gehört. Er war schon froh, wenn er einfach dazugehören durfte und man ihn nicht wie einen Hund vor die Tür schickte. Dass Jesus auch ihm damals die Macht gegeben hatte, unreine Geister auszutreiben, war fast schon zu viel der Ehre für ihn. Wären da nicht elf andere gewesen, die diese Fähigkeit genauso erhalten hatten, wäre ihm diese Gabe zu Kopf gestiegen. Er war der Mitläufer eines Mitläufers, ein Niemand im Schatten eines zwielichtigen Mittelmäßigen, der ihm vor allem eins beigebracht hatte: sich das Fleisch nicht aus der Suppe fischen zu lassen.
Dann war Jesus gekommen, hatte Levi umgekrempelt und ihn gleich mit. Er hatte sich gefühlt, als hätte man ihn von innen und außen mit der Wurzelbürste geschrubbt. Er fand es nicht schlimm, keiner von den ganz großen Lichtern zu sein. Mutig vortreten, erste Schritte ins Unbekannte wagen, Verantwortung für andere übernehmen, dazu fehlte ihm einfach die Kraft. Sich anschließen und auf Ansage handeln, das war da schon eher seine Sache. Doch während die meisten Menschen nur denen Respekt und Anerkennung zollten, die durch besondere Leistungen hervorstachen, hatte Jesus ihm immer das Gefühl gegeben, genau richtig zu sein, nützlich und wertvoll, so wie er war. Er erinnerte sich noch, wie Levi einem Markthändler frischen Fisch abgekauft hatte und anschließend festgestellt hatte, dass der Preis viel zu hoch gewesen war. Jakobus hatte einen uralten Witz darüber gerissen: "Wer an die eigne Klugheit glaubt, der wird vom Klügsten ausgeraubt."
Die anderen Jünger hatten blasiert mit den Augen gerollt, Jesus dagegen hatte herzlich gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. "Jakobus", hatte er gesagt, "du sprichst weise Worte, die viel zu oft unbedacht verlautbart wurden, in diesem Fall aber ihr Ziel nicht verfehlen. Dieses Erlebnis wird deinem älteren Bruder sein Leben lang eine Lehre sein."
Die anderen Jünger hatten beschämt den Blick gesenkt, weil sie eigentlich aus alter Gewohnheit auf jede Bemerkung des Jakobus mit Verachtung reagierten und nun erkennen mussten, dass auch der Geringste manchmal etwas Wertvolles beizutragen hatte. Ob sie sich wohl an Jesu Worte erinnern würden, wenn er künftig einen Gedanken oder einen kleinen Scherz von sich gab? Oder ob sie ihn wieder mit der gleichen Geringschätzung behandeln würden, wie er es von Kindesbeinen an gewohnt war? Jesus hatte ihn beschirmt, ihm den Rücken gestärkt, ihn spüren lassen, dass er etwas wert war. Wer würde das jetzt noch tun?
Salome entgingen die Blicke des Jakobus nicht. Sie stieß Maria Klopas sanft in die Seite und flüsterte: "Ist dir das auch aufgefallen? Jakobus hat scheinbar ein Auge auf Maria von Bethanien geworfen."
"Was du immer gleich denkst.", erwiderte die gutmütige Maria Klopas. "Vermutlich nimmt er nur Anteil an ihrem großen Schmerz. Vergiss nicht, wie eng verbunden Jesus mit den Geschwistern in Bethanien war. Für sie ist nicht nur der Rabbi gestorben, sondern auch ein sehr guter Freund."
"Das ist natürlich wahr, aber ich glaube trotzdem Regungen bei Jakobus zu erkennen, die weitergehen, als geschwisterliches Mitgefühl."
"Na und? Warum sollten die beiden nicht Trost beieinander finden? Sie sind nicht verheiratet und gehören beide zu Jesus. Was wäre schlimm daran?"
"Nichts. Es fiel mir nur auf."
Andreas saß neben seinem Bruder Simon Petrus und kaute lustlos auf einem Stück ungesäuerten Brotes herum. Er aß, weil er essen musste, nicht weil es ihm schmeckte oder er etwa hungrig gewesen wäre, zumindest fühlte er keinen Hunger. Eine großartige Zeit war zu Ende gegangen, ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Gestern noch hatten sie mit Jesus ausgiebig zu Abend gegessen, jetzt war er fort, für immer. Es war so ein erhebendes Gefühl gewesen, zum Kreise der Auserwählten zu gehören, von Jesus selbst zur Nachfolge berufen, er und sein Bruder waren die ersten gewesen; das Ansehen, das sie alle genossen hatten, weil sie frühzeitig in das Gefolge des Messias eingetreten waren.
Wie sollten sie weiterleben? Was konnten sie noch tun? Simon saß wie ein halb leerer Getreidesack auf seiner Matte und starrte auf seinen Teller, den er nicht einmal anrührte. Das war eigentlich das Schlimmste, den großen Bruder so leiden zu sehen. Er war immer der Macher gewesen, der Starke, der Entscheider. Er hatte Andreas Sicherheit gegeben, wenn seine raue Art auch nicht immer angenehm gewesen war. Genau wie ihr Vater neigte Simon zu impulsiven Entscheidungen und unberechenbaren Gefühlsausbrüchen. Oft hatte Andreas sich wegducken müssen und er hatte gelernt, wachsam zu sein, aufkommenden Ärger frühzeitig zu wittern, um sich aus dem Staub zu machen oder mit besänftigenden Methoden dagegen zu halten. Er hatte stets im Schatten des Erstgeborenen gestanden, aber das hatte ihn nie gestört, er nahm es als gegeben, denn es bot ja auch erhebliche Vorteile.
"Iss, Bruder.", wandte er sich an Petrus. "Es steht mehr als genug auf dem Tisch und es wäre eine Schande, es morgen wegzuwerfen. Hier sind heute Abend keine 5000 Menschen, mit denen wir es teilen könnten."
"Wie viel hatten wir damals?", fragte Petrus.
"Fünf Brote und zwei Fische.", antwortete Andreas. "Ich weiß es noch genau. Der Meister hatte uns aufgetragen, wir sollten den Leuten zu Essen geben. Da war ein Kind, das die Gerstenbrote und den Fisch bei sich hatte. Ich machte Jesus klar, dass man aus so einer Menge keine 5000 Portionen zaubern könne, aber er bestand darauf, einfach alles auszuteilen, was da war. Er fragte nie ob etwas funktioniert, er machte einfach, was er für richtig hielt."
"Ja, so war er.", sagte Petrus. "Er machte einfach und hatte vor nichts Angst."
"Ich habe bis heute nicht verstanden, wie wir die Leute damals alle satt bekommen haben." sagte Andreas. "So viele Menschen. Wie hat er das nur gemacht?"
"Das war ein verdammtes Wunder, Bruder.", antwortete Petrus.
"Aber wozu?", fragte Andreas. "Um uns Menschen zu beweisen, dass er sogar Fisch und Brot vermehren kann?"
"Vielleicht um uns zu zeigen, dass wir uns nicht immer solche Sorgen machen sollen.", überlegte Petrus. "Dass Gott uns schon irgendwie satt macht. Wir sollen uns lieber um unsere Seelen sorgen als um unsere Mägen."
"Ach", meinte Andreas. "Um unsere Seelen wird der Herr sich auch kümmern. Weißt du, was ich denke? Ich vermute, alle hatten etwas dabei, aber keiner wollte seine Vorräte hervorholen, weil er Angst hatte, dass er der einzige war und dass ihm dann alle gierig aufs Essen starrten, so dass er hätte teilen müssen und kaum etwas für sich übrig behalten hätte. Als alle gesehen haben, dass wir unser Essen verteilten, obwohl wir eigentlich nicht genug hatten, waren sie beschämt und haben auch ihre Beutel geöffnet und so wurden alle satt und am Ende blieb sogar noch für jeden von uns ein Korb voll übrig, sodass wir uns auch um den folgenden Tag keine Gedanken machen mussten. - Aber nun ist er fort. Wer wird jetzt für uns sorgen?"
"Das werden wir schon schaffen.", antwortete Simon Petrus. "Wir haben es zuvor hinbekommen und genaugenommen haben wir Jesus versorgt, wenn es um das leibliche Wohl ging und nicht umgekehrt."
"Wir haben Jesus versorgt?", protestierte Martha von Bethanien die gerade eine neue Schüssel mit Kräuteröl auf den Tisch gestellt und den jüngsten Wortwechsel zufällig mitangehört hatte. "Welcher von euch Männern hat sich jemals um irgendetwas Praktisches gekümmert? Das haben wir Frauen getan und zwar nur wir Frauen!"
"Lass es gut sein, Martha.", suchte Andreas sie zu beschwichtigen. "Mein Bruder hat das nicht so gemeint. Wir - das ist die Gemeinschaft. Und ihr Frauen seid Teil der Gemeinschaft."
"Sind wir das?", fauchte Martha und ging zurück an ihren Platz.
"Wir müssen Jesus rächen!", tönte es vom anderen Ende der Tafel aus dem Mund des Simon Kananäus.
"Und wie stellst du dir das vor?", fragte Thomas
"Wir überfallen den Sanhedrin und schneiden ihnen die faltigen Kehlen durch. Und direkt danach knöpfen wir uns Pilatus vor."
"Du sehnst dich wohl nach dem Kreuzestod.", erwiderte Thomas lakonisch.
"Das hätte Jesus nicht gewollt.", erklärte Johannes.
Im Kopf des Andreas beschworen Simon Kananäus Worte Bilder des Schreckens und der Gefahr herauf. Vor diesem folgenschweren Fehler musste er ihn unbedingt bewahren.
"Wir sollten eine Weile gar nichts tun.", sagte er bestimmt. "Wir stehen ohnehin im Visier des Hohen Rates und der römischen Truppen. Sie halten uns für gefährlicher, als wir in Wahrheit sind und wenn wir nur unsere Nase aus der Tür stecken, werden sie uns den Kopf abschlagen. Jesus hat an den Säulen ihrer Macht gesägt und sie werden alles tun, um zu verhindern, dass wir sein Werk vollenden. Wir sollten uns tagsüber verstecken, nachts fischen gehen und die Frauen bitten, uns mit dem Notwendigsten zu versorgen. Vielleicht müssen einige von uns von hier verschwinden, irgendwohin, wo man uns nicht kennt. Aber für einen gewaltsamen Aufstand fehlen uns die Waffen und wir sind zu wenige."
"Und Jesus hätte es nicht gewollt.", wiederholte Johannes eindringlich.
"Genau.", bestätigte ihn Andreas
"Aber ich werde verrückt, wenn ich nicht irgendetwas tue.", sagte Simon Kananäus.
"Dann flick ein paar Netze.", schlug Andreas vor. "Oder repariere eins von den Booten, die undichte Stellen haben."
Zwei Straßen weiter saß Susanna einsam in ihrem Haus, stumm vor Angst, dass nun alles wieder so würde wie zuvor. Jesus von Nazareth hatte ihrem Leben eine Richtung gegeben. Sie fand die Kraft, sich morgens zeitig von ihrem Lager zu erheben, die Dinge zu tun, die getan werden mussten und noch vieles darüber hinaus. Sie hatte viel geleistet, viel gelacht und viele Freundinnen gefunden. Bevor Jesus in ihr Leben getreten war, war sie vollkommen am Ende gewesen. Dabei hatte einmal alles so vielversprechend angefangen. Ihre Eltern hatte eine gut gehende Töpferei gehabt und als Susanna im heiratsfähigen Alter gewesen war, hatte sich eine Hochzeit mit Benjamin, dem Gerber ergeben und sie hatten zusammen einen lukrativen Marktstand betrieben, mehrere Töchter bekommen und ein fröhliches Leben gehabt. Die Töchter hatten nacheinander das Haus verlassen, um selbst zu heiraten und dann war Benjamin eines Tages plötzlich gestorben und hatte sie mit allem allein gelassen. Sie hatte sich versorgen können, war keine mittellose Witwe, aber sie war so unglücklich und einsam gewesen und schon bald hatten sich die ersten Beschwerden hinzugesellt. Schweißausbrüche, schlaflose Nächte, rasende Kopfschmerzen, Tage entsetzlicher Schwäche, dann wieder Tage mit schlimmen Krämpfen in den Muskeln. Nach ihren monatlichen Blutungen sah ihr Lager meist aus wie ein Schlachtfeld und sie hatte sich müde und kraftlos gefühlt, gefröstelt und gezittert. Irgendwann hatten sie Zweifel beschlichen, ob sie so noch lange würde weiterleben können. Sie schaffte kaum etwas, so hatte sie auf dem Markt nicht viel anzubieten und bald würde es an allen Ecken fehlen. Ihren Töchtern wollte sie nicht zur Last fallen, keine von ihnen hatte sich wirklich gut verheiratet, sie kämpften allesamt um das Überleben ihrer zahlreichen Kinder.
Dann hatte Susanna von Jesus gehört, der eine Frau von ihrem pausenlosen Blutfluss geheilt hatte, nachdem sie nur den Saum seines Gewandes berührt hatte. So war sie zu einer der Versammlungen gegangen, bei denen Jesus als Redner angekündigt war.
Sie hatte sofort gespürt, welche Kraft von dem jungen Mann mit den sanften Augen ausging. Nur ihn zu sehen und ihm zuzuhören, brachte vieles in ihrem Inneren, das seit dem Tod ihres Mannes gründlich durcheinander geraten war, wieder in Ordnung. Als habe jemand das Haus ihrer Seele aufgeräumt und gründlich gefegt. Als sich die Gelegenheit dazu geboten hatte, war sie zu ihm gegangen und hatte ihm ihr Leid geklagt: Die Alpträume, die Schmerzen, das Frauenleiden, die Krämpfe, die Schwäche. Er hatte ihr geduldig zugehört und immer wieder bestätigt, dass all dies bedauernswerte Leiden seien. Er hatte Fragen gestellt. "Wie lange musst du das schon ertragen?" "Wie schaffst du es, trotz allem noch immer für dich zu sorgen?" "Gibt es niemanden, den du um Hilfe bitten kannst, an den Tagen, an denen es dir schlecht geht?" Sie hatte sich kraftlos, zerschlagen, ausgelaugt und sterbenskrank gefühlt, als sie ihn aufgesucht hatte. Nach dem Gespräch war sie plötzlich voller Freude und Energie und frei von Schmerzen gewesen. Zu allem Überfluss hatte Jesus vorgeschlagen: "Wenn du so allein bist, schließe dich doch unserer Gemeinschaft an. Du kannst für andere etwas tun und wenn du nicht mehr kannst, helfen die anderen dir."
Das war der Start gewesen und seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie nicht teilgenommen hatte am Leben des Meisters und der Gemeinschaft. Noch nie in ihrem Leben war es ihr so gut gegangen. Doch jetzt war der Meister tot und die Gemeinschaft? Was würde aus seinen Gefolgsleuten werden? Sie waren bei seiner Verhaftung auseinandergelaufen, hatten sich in alle Winde verstreut und nun saß sie wieder hier, allein in ihrem Haus und die Schwermut kam zurück und mit ihr sicher bald wieder die Schmerzen, die Schwäche, die Mutlosigkeit.
Im Hause Zebedäus war der zeremonielle Teil des Schabbatmahls längst beendet und man war beim geselligen Teil angekommen. Aber es verlief nichts wie gewohnt an diesem Freitagabend, niemand langte tüchtig zu oder machte fröhliche Scherze. Es herrschte Schweigen und die schlichten Gespräche, die man sonst zu solchen Gelegenheiten führte, erstarben bereits nach wenigen Wortwechseln. Sie standen alle noch unter Schock, fühlten sich, als seien sie nicht selbst Bewohnerinnen und Bewohner ihrer sterblichen Hüllen, als habe jemand Anderes die Führung übernommen, während ihre eigenen Seelen im Nirgendwo herumirrten, auf der Suche nach Ruhe, Trost und Heilung.
"Wie geht es deinem Mann, Johanna?", fragte Zebedäus. "Ist er nicht ungehalten, wenn du am Schabbatabend nicht zu Hause bist?"
"Nein.", antwortete Johanna. "Er hat bei Hof zu tun. Herodes Antipas ist kein frommer Mann, er lässt seine Diener auch am Tag des Herrn arbeiten, wenn er meint, dass er sie braucht."
"Aber was hat ein Verwalter des Königs ausgerechnet am Schabbat zu tun?", fragte Maria Alphäus verwundert.
"Herodes hat eine kostspielige Gemahlin. Herodias verbraucht mehr Gold für Salböle, Kleider und Geschmeide in einem Monat, als der Hof für Essen und Trinken zur Verfügung hat. Chuzas muss ständig neue Berechnungen anstellen, Einsparungen vornehmen und neue Quellen für Einkünfte erschließen."
"Dann ist er sicher froh, dass er dich in guter Gesellschaft weiß.", meinte Maria Magdalena schmunzelnd. "hatte er eigentlich jemals Schwierigkeiten, weil seine Frau einem Freund und Verwandten eines Feindes des Königs folgt?"
"Du meinst die Verwandtschaft mit Johannes dem Täufer? Ich glaube Herodes Antipas ist sich dieser Verbindung gar nicht bewusst. Er hat Johannes aus dem Weg geräumt, weil er ihm lästig war. Jesus hat ihn nicht weiter gestört. Wenn ihm jedoch jemand etwas darüber erzählt hätte, hätte Chuzas zumindest seinen Posten verloren, wenn nicht Schlimmeres. Anfangs habe ich ja auch nur von Jesus gehört und ihn mal bei großen Menschenansammlungen aus der Ferne gesehen. Oft bin ich gar nicht aus dem Haus gegangen. Ich hatte ja dauernd diese berstenden Kopfschmerzen, dazu Schnupfen und Niesattacken und tränende Augen, ich konnte oft gar nicht unter Leute gehen. Das war zuerst der Grund, warum ich seine Nähe gesucht habe. Er war ein großer Heiler, das hatte ich gehört und ich war von einer gewissen Hoffnung beseelt, dass er mein Leiden lindern könnte."
"Und? Hat er es gelindert?", fragte Frau Zebedäus.
"Gelindert?", erwiderte Johanna. "Nein. Er hat mich vollständig geheilt. Er fragte mich nach meinem Namen. Dann sagte er: 'Johanna, du bist sehr krank. Willst du gesund werden?' Ich antwortete: 'Auf jeden Fall, das ist mein größter Wunsch, damit ich meinen Mitmenschen von Nutzen sein kann, statt tagelang auf dem Lager zu greinen'. Er legte eine Hand auf meine Stirn und sprach ein Gebet. Und sofort spürte ich eine Leichtigkeit und Klarheit in meinem Kopf, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr kannte. Meine Nase war frei, meine Augen trocken. Da habe ich mich entschlossen, ihm künftig zu folgen, mich nützlich zu machen, ihn nach allen Kräften zu unterstützen. Darum bin ich zu Eurer Gemeinschaft gestoßen, weil ich Jesus helfen wollte bei seinem guten Werk."
"Und dein Mann war damit einverstanden?", fragte Frau Zebedäus.
"Anfangs nicht.", antwortete Johanna. "Zuerst habe ich es sogar vor ihm geheim gehalten. Ich war mir nicht sicher, was er davon hielt und wollte keinen Streit oder es mir am Ende von ihm verbieten lassen. Eines Abends kam ich später heim als er und es war noch kein Essen vorbereitet. Da war er sehr ungeduldig und außerdem zweifelte er an meiner ehelichen Treue, darum musste ich alles zugeben, sonst hätte er mir nicht geglaubt, dass ich keinen Liebhaber hatte. Einerseits war er erleichtert, dass ich tatsächlich das treue Eheweib war, für das er mich bis dahin gehalten hatte, andererseits, war er wütend, dass ich ohne sein Wissen solch ein Risiko einging. Er hatte Sorge um seine Stellung und auch vor schlimmeren Strafen. Doch ich konnte ihn überzeugen. Es ist schön, eine gute Arbeit zu haben, von der man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, aber wenn man dafür seine Seele verkaufen und den Speichel seiner Herren lecken muss, dann ist es keine gute Arbeit mehr. Ich sagte ihm, dass Herodes viel zu eingebildet sei, um sich auch nur einen Augenblick mit Jesus von Nazareth zu beschäftigen und falls er ihn doch des Palastes verweise, dann würde Jesus uns schon helfen, einen neuen Platz für ihn zu finden. Er hatte mich geheilt, er hatte sogar Tote auferweckt. Was konnte uns da ein machtloser Stellvertreter-König wie Herodes schon anhaben?"
"Aber jetzt ist Jesus tot.", sagte Maria Magdalena. "Will dein Mann dich da nicht ganz und gar zurück haben?"
"Ich bleibe Jesus treu.", antwortete Johanna. "Auch über den Tod hinaus. Wir müssen sein Werk vollenden."
"Bleib den Schabbat über bei uns und sei unser Gast.", sagte Frau Zebedäus lächelnd.
"Und kommst du Sonntagmorgen mit zum Grab des Meisters?", fragte Maria Magdalena.
"Um den Leichnam zu salben?", fragte Johanna. "Auf jeden Fall."
Martha von Bethanien hatte die Lichter angezündet, Andreas war mit der Lesung und den Gebeten an der Reihe gewesen. Alles war wie immer und doch vollkommen anders. Sie hielten die äußere Form aufrecht, aber der Inhalt schien ihnen abhandengekommen zu sein.
Man sah nur in ernste Gesichter, einige hatten geschwollene Augen von tausend Tränen, andere schienen innerlich erstarrt. Martha verdrängte ihre Trauer mit hauswirtschaftlicher Geschäftigkeit, ging damit aber dem einen oder anderen auf die Nerven ? unter anderem ihrer großen Schwester.
Maria von Bethanien war gerade vollkommen in ihrer Trauer versunken, sie wollte nichts hören, mit niemandem reden. Es kam in Wellen, wenn eine Welle vorüber war, konnte sie wieder zuhören und antworten und dabei auch freundlich und aufmerksam sein. Aber wenn sie gerade von einer solchen Woge des Schmerzes überrollt wurde, dann war sie nichts als Schmerz, wie ein Scheffel Gerste, über dem Feuer geröstet und jedes Korn war zum Zerreißen gespannt, kurz vor dem Aufplatzen, um am Ende in vielen verschiedenen Mägen zu verschwinden, zu zerfallen, eine aufgelöste Einheit, von der nur die Hülle blieb. Sie wäre Jesus am liebsten in den Tod gefolgt, aber sie war zu gläubig, um das geschenkte Leben einfach fortzuwerfen. Sie würde es überleben und wieder ganz werden. Und Jesus würde ihr dabei helfen, selbst jetzt, wo er nicht mehr unter ihnen war.
Wie Traumgesichte blitzten die Erinnerungen an ihren geliebten Meister vor ihrem inneren Auge auf. Die erste Begegnung, ganz besonders aber das lange Gespräch über Gott und das Leben und den Himmel und über alles, was richtig und falsch war und das süße Gefühl, als Jesus sie gegenüber der gefallsüchtigen, missgünstigen kleinen Schwester in Schutz genommen hatte und ihrer Gesellschaft gegenüber Marthas kulinarischen Verlockungen den Vorzug gab.
Wie er ihren Bruder gerettet hatte, obwohl der schon seit Tagen tot in der Gruft lag, und wie sie ahnend, dass seine Tage auf dieser Welt gezählt waren, seine Füße mit ihren Tränen gewaschen, mit ihrem Haar getrocknet und mit dem edelsten Nardensalböl einbalsamiert hatte. Wie sonst hätte sie ihrer grenzenlosen Liebe Ausdruck verleihen sollen, ohne dabei anzüglich oder aufdringlich zu wirken?
Die Erinnerungen an Jesu Gunstbezeugungen würde sie hüten wie einen Schatz, sie würde den Rest ihres Lebens von ihnen zehren und niemand würde sie ihr nehmen können. Sie betrachtete ihre Schwester. Martha hatte ihr alles genommen: den Lagerplatz neben der Mutter, das Lieblingsspielzeug, die Liebe des Vaters. Als Martha zur Welt gekommen war, war Maria plötzlich nicht mehr vorhanden gewesen. War es Zufall, dass ihre Eltern der Erstgeborenen einen Namen gaben, der ?die Bittere? bedeutete?
Als der kleine Lazarus zur Welt kam, verlor auch Martha ihre Privilegien, doch die nahm es gleichmütiger auf als Maria. Und wegen dieser gleichmütigen Fröhlichkeit war sie auch weiterhin die geliebtere Tochter. Das schmerzte bis heute.
Die kleine Maria hatte einen Ausweg gefunden, die Schmach zu ertragen, indem sie ganze Welten in ihrem Kopf erschuf, in denen sie geschätzt, geachtet und geliebt wurde, in denen sie etwas galt. So schaffte sie es, die Geringschätzung und Nichtbeachtung ihrer Umgebung von sich fernzuhalten. Sie wollte nie einfach nur die Anforderungen erfüllen, die an sie herangetragen wurden. Sie lernte Brot backen, aber sie versuchte nicht, die beste Bäckerin zu sein. Sie konnte Gewänder nähen, aber keine, um die die anderen Frauen sie beneideten. Sie machte das Haus sauber, aber sie fand darin keine Erfüllung. Es musste getan werden, aber es war nichts als lästige Lebenszeitverschwendung. Maria war für etwas anderes bestimmt. Sie sah und erspürte Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie verstand Zusammenhänge, die sich kaum jemandem erschlossen. Dieses Gefühl der Überlegenheit war wie ein Fluch, denn niemand gestand ihr ihre Urteilsfähigkeit zu. Doch Maria glaubte an sich und ihre Fähigkeiten, der Tag würde kommen, an denen sie es allen zeigen würde.
Und dann kam Jesus. Und mit ihm ein Mann, der sie nicht nur verstand und ihr zuhörte, sondern einer, der ihre Klugheit bewunderte, ihr das zeigte und sie vor allen anderen heraushob. Er verschaffte ihr den Glanz, nach dem sie sich in ihrer gesamten Kindheit gesehnt hatte. In seiner Gegenwart durfte sie sie selbst sein. Und darüber hinaus hatte sie so viel von ihm lernen dürfen, denn er hatte wirklich etwas zu sagen, im Gegensatz zu den meisten Männern, die sich nur aufplusterten, jedoch von bemitleidenswertem kleinen Geist waren. Sie hätte alles für ihn getan, wenn es notwendig gewesen wäre oder er sie darum gebeten hätte.
Tatsächlich war sie ihm gefolgt, hatte zusammen mit den anderen Frauen dafür gesorgt, dass er immer einen bequemen Platz zum Schlafen, etwas Anständiges zu Essen und saubere Kleidung hatte. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass die richtigen Leute mit ihm in Kontakt kamen und dass sie ordentlich bewirtet wurden, damit sie auf seine Seite wechselten. Aber sie hatte auch seinen Worten gelauscht und manchmal kluge Fragen gestellt. Sie wäre gern die Einzige für ihn gewesen, aber sie war viel zu klug, um auch nur die Hoffnung zu wagen, dieser Traum könne wahr werden. Jesus war der Sohn Gottes, kein Mann, auf den eine Frau den alleinigen Anspruch erheben konnte.
Trotzdem war es ihr immer wieder gelungen, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Männer liebten es, wenn Frauen ihnen aktiv zuhörten, sie haltlos bewunderten, die richtigen Fragen stellten und sie damit unentwegt aufforderten, nur nicht aufzuhören, ihre klugen Gedanken preiszugeben. Auch wenn er der Messias war, er war eben auch ein Mann. Die anderen Frauen beneideten sie aus tiefstem Herzen. Keine gönnte ihr die Gunst des Meisters. Vor allem ihre kleine Schwester fand es peinlich und anmaßend, wie Maria sich an Jesus anbiederte. "Das steht dir nicht zu!", hatte sie sie einmal angegiftet.
Und nicht nur die Frauen hatten sie eifersüchtig beäugt. Auch die Männer waren außer sich gewesen, als sie Jesus die Füße salbte. Wie eine Verrückte hatten sie sie behandelt, mit ihr geschimpft, sie ausgelacht, die Nasen gerümpft. Aber Maria war das alles egal gewesen. Für sie zählte nur, dass sie ihr Ziel erreichte. Wie die anderen das bewerteten, war ihr gleich. Es war eine unfassbare Ehre, dass Jesus ein Freund der Familie war, ihnen vertraute und in ihrem Haus ein- und ausging, als wohne er bei ihnen. Aber mehr war nicht drin. Und obwohl sie es längst geahnt hatte, fühlte sie sich im Augenblick, als habe man ihr mit dem Mord an Jesus das Herz heraus gerissen und ihr stattdessen einen wütenden Quälgeist in die Brust gepflanzt, der sie immerfort daran erinnerte, wie sehr der Meister ihr fehlte und den Rest ihres Lebens fehlen würde.
Maria von Bethanien merkte nicht, dass seit geraumer Zeit die Blicke eines Mitjüngers auf ihr ruhten. Jakobus, der Sohn des Alphäus, Bruder des Levi, den sie auch Matthäus nannten, gehörte zu ihren stillen Verehrern. Ihre tiefe Freundschaft und Verbundenheit mit Jesus erfüllte ihn mit großem Respekt, aber aufgefallen war ihm vor allem die keusche Schönheit dieser starken und klugen Frau. Jakobus hatte noch nie zu den Privilegierten und Bewunderten gehört. Er war schon froh, wenn er einfach dazugehören durfte und man ihn nicht wie einen Hund vor die Tür schickte. Dass Jesus auch ihm damals die Macht gegeben hatte, unreine Geister auszutreiben, war fast schon zu viel der Ehre für ihn. Wären da nicht elf andere gewesen, die diese Fähigkeit genauso erhalten hatten, wäre ihm diese Gabe zu Kopf gestiegen. Er war der Mitläufer eines Mitläufers, ein Niemand im Schatten eines zwielichtigen Mittelmäßigen, der ihm vor allem eins beigebracht hatte: sich das Fleisch nicht aus der Suppe fischen zu lassen.
Dann war Jesus gekommen, hatte Levi umgekrempelt und ihn gleich mit. Er hatte sich gefühlt, als hätte man ihn von innen und außen mit der Wurzelbürste geschrubbt. Er fand es nicht schlimm, keiner von den ganz großen Lichtern zu sein. Mutig vortreten, erste Schritte ins Unbekannte wagen, Verantwortung für andere übernehmen, dazu fehlte ihm einfach die Kraft. Sich anschließen und auf Ansage handeln, das war da schon eher seine Sache. Doch während die meisten Menschen nur denen Respekt und Anerkennung zollten, die durch besondere Leistungen hervorstachen, hatte Jesus ihm immer das Gefühl gegeben, genau richtig zu sein, nützlich und wertvoll, so wie er war. Er erinnerte sich noch, wie Levi einem Markthändler frischen Fisch abgekauft hatte und anschließend festgestellt hatte, dass der Preis viel zu hoch gewesen war. Jakobus hatte einen uralten Witz darüber gerissen: "Wer an die eigne Klugheit glaubt, der wird vom Klügsten ausgeraubt."
Die anderen Jünger hatten blasiert mit den Augen gerollt, Jesus dagegen hatte herzlich gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. "Jakobus", hatte er gesagt, "du sprichst weise Worte, die viel zu oft unbedacht verlautbart wurden, in diesem Fall aber ihr Ziel nicht verfehlen. Dieses Erlebnis wird deinem älteren Bruder sein Leben lang eine Lehre sein."
Die anderen Jünger hatten beschämt den Blick gesenkt, weil sie eigentlich aus alter Gewohnheit auf jede Bemerkung des Jakobus mit Verachtung reagierten und nun erkennen mussten, dass auch der Geringste manchmal etwas Wertvolles beizutragen hatte. Ob sie sich wohl an Jesu Worte erinnern würden, wenn er künftig einen Gedanken oder einen kleinen Scherz von sich gab? Oder ob sie ihn wieder mit der gleichen Geringschätzung behandeln würden, wie er es von Kindesbeinen an gewohnt war? Jesus hatte ihn beschirmt, ihm den Rücken gestärkt, ihn spüren lassen, dass er etwas wert war. Wer würde das jetzt noch tun?
Salome entgingen die Blicke des Jakobus nicht. Sie stieß Maria Klopas sanft in die Seite und flüsterte: "Ist dir das auch aufgefallen? Jakobus hat scheinbar ein Auge auf Maria von Bethanien geworfen."
"Was du immer gleich denkst.", erwiderte die gutmütige Maria Klopas. "Vermutlich nimmt er nur Anteil an ihrem großen Schmerz. Vergiss nicht, wie eng verbunden Jesus mit den Geschwistern in Bethanien war. Für sie ist nicht nur der Rabbi gestorben, sondern auch ein sehr guter Freund."
"Das ist natürlich wahr, aber ich glaube trotzdem Regungen bei Jakobus zu erkennen, die weitergehen, als geschwisterliches Mitgefühl."
"Na und? Warum sollten die beiden nicht Trost beieinander finden? Sie sind nicht verheiratet und gehören beide zu Jesus. Was wäre schlimm daran?"
"Nichts. Es fiel mir nur auf."
Andreas saß neben seinem Bruder Simon Petrus und kaute lustlos auf einem Stück ungesäuerten Brotes herum. Er aß, weil er essen musste, nicht weil es ihm schmeckte oder er etwa hungrig gewesen wäre, zumindest fühlte er keinen Hunger. Eine großartige Zeit war zu Ende gegangen, ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Gestern noch hatten sie mit Jesus ausgiebig zu Abend gegessen, jetzt war er fort, für immer. Es war so ein erhebendes Gefühl gewesen, zum Kreise der Auserwählten zu gehören, von Jesus selbst zur Nachfolge berufen, er und sein Bruder waren die ersten gewesen; das Ansehen, das sie alle genossen hatten, weil sie frühzeitig in das Gefolge des Messias eingetreten waren.
Wie sollten sie weiterleben? Was konnten sie noch tun? Simon saß wie ein halb leerer Getreidesack auf seiner Matte und starrte auf seinen Teller, den er nicht einmal anrührte. Das war eigentlich das Schlimmste, den großen Bruder so leiden zu sehen. Er war immer der Macher gewesen, der Starke, der Entscheider. Er hatte Andreas Sicherheit gegeben, wenn seine raue Art auch nicht immer angenehm gewesen war. Genau wie ihr Vater neigte Simon zu impulsiven Entscheidungen und unberechenbaren Gefühlsausbrüchen. Oft hatte Andreas sich wegducken müssen und er hatte gelernt, wachsam zu sein, aufkommenden Ärger frühzeitig zu wittern, um sich aus dem Staub zu machen oder mit besänftigenden Methoden dagegen zu halten. Er hatte stets im Schatten des Erstgeborenen gestanden, aber das hatte ihn nie gestört, er nahm es als gegeben, denn es bot ja auch erhebliche Vorteile.
"Iss, Bruder.", wandte er sich an Petrus. "Es steht mehr als genug auf dem Tisch und es wäre eine Schande, es morgen wegzuwerfen. Hier sind heute Abend keine 5000 Menschen, mit denen wir es teilen könnten."
"Wie viel hatten wir damals?", fragte Petrus.
"Fünf Brote und zwei Fische.", antwortete Andreas. "Ich weiß es noch genau. Der Meister hatte uns aufgetragen, wir sollten den Leuten zu Essen geben. Da war ein Kind, das die Gerstenbrote und den Fisch bei sich hatte. Ich machte Jesus klar, dass man aus so einer Menge keine 5000 Portionen zaubern könne, aber er bestand darauf, einfach alles auszuteilen, was da war. Er fragte nie ob etwas funktioniert, er machte einfach, was er für richtig hielt."
"Ja, so war er.", sagte Petrus. "Er machte einfach und hatte vor nichts Angst."
"Ich habe bis heute nicht verstanden, wie wir die Leute damals alle satt bekommen haben." sagte Andreas. "So viele Menschen. Wie hat er das nur gemacht?"
"Das war ein verdammtes Wunder, Bruder.", antwortete Petrus.
"Aber wozu?", fragte Andreas. "Um uns Menschen zu beweisen, dass er sogar Fisch und Brot vermehren kann?"
"Vielleicht um uns zu zeigen, dass wir uns nicht immer solche Sorgen machen sollen.", überlegte Petrus. "Dass Gott uns schon irgendwie satt macht. Wir sollen uns lieber um unsere Seelen sorgen als um unsere Mägen."
"Ach", meinte Andreas. "Um unsere Seelen wird der Herr sich auch kümmern. Weißt du, was ich denke? Ich vermute, alle hatten etwas dabei, aber keiner wollte seine Vorräte hervorholen, weil er Angst hatte, dass er der einzige war und dass ihm dann alle gierig aufs Essen starrten, so dass er hätte teilen müssen und kaum etwas für sich übrig behalten hätte. Als alle gesehen haben, dass wir unser Essen verteilten, obwohl wir eigentlich nicht genug hatten, waren sie beschämt und haben auch ihre Beutel geöffnet und so wurden alle satt und am Ende blieb sogar noch für jeden von uns ein Korb voll übrig, sodass wir uns auch um den folgenden Tag keine Gedanken machen mussten. - Aber nun ist er fort. Wer wird jetzt für uns sorgen?"
"Das werden wir schon schaffen.", antwortete Simon Petrus. "Wir haben es zuvor hinbekommen und genaugenommen haben wir Jesus versorgt, wenn es um das leibliche Wohl ging und nicht umgekehrt."
"Wir haben Jesus versorgt?", protestierte Martha von Bethanien die gerade eine neue Schüssel mit Kräuteröl auf den Tisch gestellt und den jüngsten Wortwechsel zufällig mitangehört hatte. "Welcher von euch Männern hat sich jemals um irgendetwas Praktisches gekümmert? Das haben wir Frauen getan und zwar nur wir Frauen!"
"Lass es gut sein, Martha.", suchte Andreas sie zu beschwichtigen. "Mein Bruder hat das nicht so gemeint. Wir - das ist die Gemeinschaft. Und ihr Frauen seid Teil der Gemeinschaft."
"Sind wir das?", fauchte Martha und ging zurück an ihren Platz.
"Wir müssen Jesus rächen!", tönte es vom anderen Ende der Tafel aus dem Mund des Simon Kananäus.
"Und wie stellst du dir das vor?", fragte Thomas
"Wir überfallen den Sanhedrin und schneiden ihnen die faltigen Kehlen durch. Und direkt danach knöpfen wir uns Pilatus vor."
"Du sehnst dich wohl nach dem Kreuzestod.", erwiderte Thomas lakonisch.
"Das hätte Jesus nicht gewollt.", erklärte Johannes.
Im Kopf des Andreas beschworen Simon Kananäus Worte Bilder des Schreckens und der Gefahr herauf. Vor diesem folgenschweren Fehler musste er ihn unbedingt bewahren.
"Wir sollten eine Weile gar nichts tun.", sagte er bestimmt. "Wir stehen ohnehin im Visier des Hohen Rates und der römischen Truppen. Sie halten uns für gefährlicher, als wir in Wahrheit sind und wenn wir nur unsere Nase aus der Tür stecken, werden sie uns den Kopf abschlagen. Jesus hat an den Säulen ihrer Macht gesägt und sie werden alles tun, um zu verhindern, dass wir sein Werk vollenden. Wir sollten uns tagsüber verstecken, nachts fischen gehen und die Frauen bitten, uns mit dem Notwendigsten zu versorgen. Vielleicht müssen einige von uns von hier verschwinden, irgendwohin, wo man uns nicht kennt. Aber für einen gewaltsamen Aufstand fehlen uns die Waffen und wir sind zu wenige."
"Und Jesus hätte es nicht gewollt.", wiederholte Johannes eindringlich.
"Genau.", bestätigte ihn Andreas
"Aber ich werde verrückt, wenn ich nicht irgendetwas tue.", sagte Simon Kananäus.
"Dann flick ein paar Netze.", schlug Andreas vor. "Oder repariere eins von den Booten, die undichte Stellen haben."
Zwei Straßen weiter saß Susanna einsam in ihrem Haus, stumm vor Angst, dass nun alles wieder so würde wie zuvor. Jesus von Nazareth hatte ihrem Leben eine Richtung gegeben. Sie fand die Kraft, sich morgens zeitig von ihrem Lager zu erheben, die Dinge zu tun, die getan werden mussten und noch vieles darüber hinaus. Sie hatte viel geleistet, viel gelacht und viele Freundinnen gefunden. Bevor Jesus in ihr Leben getreten war, war sie vollkommen am Ende gewesen. Dabei hatte einmal alles so vielversprechend angefangen. Ihre Eltern hatte eine gut gehende Töpferei gehabt und als Susanna im heiratsfähigen Alter gewesen war, hatte sich eine Hochzeit mit Benjamin, dem Gerber ergeben und sie hatten zusammen einen lukrativen Marktstand betrieben, mehrere Töchter bekommen und ein fröhliches Leben gehabt. Die Töchter hatten nacheinander das Haus verlassen, um selbst zu heiraten und dann war Benjamin eines Tages plötzlich gestorben und hatte sie mit allem allein gelassen. Sie hatte sich versorgen können, war keine mittellose Witwe, aber sie war so unglücklich und einsam gewesen und schon bald hatten sich die ersten Beschwerden hinzugesellt. Schweißausbrüche, schlaflose Nächte, rasende Kopfschmerzen, Tage entsetzlicher Schwäche, dann wieder Tage mit schlimmen Krämpfen in den Muskeln. Nach ihren monatlichen Blutungen sah ihr Lager meist aus wie ein Schlachtfeld und sie hatte sich müde und kraftlos gefühlt, gefröstelt und gezittert. Irgendwann hatten sie Zweifel beschlichen, ob sie so noch lange würde weiterleben können. Sie schaffte kaum etwas, so hatte sie auf dem Markt nicht viel anzubieten und bald würde es an allen Ecken fehlen. Ihren Töchtern wollte sie nicht zur Last fallen, keine von ihnen hatte sich wirklich gut verheiratet, sie kämpften allesamt um das Überleben ihrer zahlreichen Kinder.
Dann hatte Susanna von Jesus gehört, der eine Frau von ihrem pausenlosen Blutfluss geheilt hatte, nachdem sie nur den Saum seines Gewandes berührt hatte. So war sie zu einer der Versammlungen gegangen, bei denen Jesus als Redner angekündigt war.
Sie hatte sofort gespürt, welche Kraft von dem jungen Mann mit den sanften Augen ausging. Nur ihn zu sehen und ihm zuzuhören, brachte vieles in ihrem Inneren, das seit dem Tod ihres Mannes gründlich durcheinander geraten war, wieder in Ordnung. Als habe jemand das Haus ihrer Seele aufgeräumt und gründlich gefegt. Als sich die Gelegenheit dazu geboten hatte, war sie zu ihm gegangen und hatte ihm ihr Leid geklagt: Die Alpträume, die Schmerzen, das Frauenleiden, die Krämpfe, die Schwäche. Er hatte ihr geduldig zugehört und immer wieder bestätigt, dass all dies bedauernswerte Leiden seien. Er hatte Fragen gestellt. "Wie lange musst du das schon ertragen?" "Wie schaffst du es, trotz allem noch immer für dich zu sorgen?" "Gibt es niemanden, den du um Hilfe bitten kannst, an den Tagen, an denen es dir schlecht geht?" Sie hatte sich kraftlos, zerschlagen, ausgelaugt und sterbenskrank gefühlt, als sie ihn aufgesucht hatte. Nach dem Gespräch war sie plötzlich voller Freude und Energie und frei von Schmerzen gewesen. Zu allem Überfluss hatte Jesus vorgeschlagen: "Wenn du so allein bist, schließe dich doch unserer Gemeinschaft an. Du kannst für andere etwas tun und wenn du nicht mehr kannst, helfen die anderen dir."
Das war der Start gewesen und seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie nicht teilgenommen hatte am Leben des Meisters und der Gemeinschaft. Noch nie in ihrem Leben war es ihr so gut gegangen. Doch jetzt war der Meister tot und die Gemeinschaft? Was würde aus seinen Gefolgsleuten werden? Sie waren bei seiner Verhaftung auseinandergelaufen, hatten sich in alle Winde verstreut und nun saß sie wieder hier, allein in ihrem Haus und die Schwermut kam zurück und mit ihr sicher bald wieder die Schmerzen, die Schwäche, die Mutlosigkeit.
Im Hause Zebedäus war der zeremonielle Teil des Schabbatmahls längst beendet und man war beim geselligen Teil angekommen. Aber es verlief nichts wie gewohnt an diesem Freitagabend, niemand langte tüchtig zu oder machte fröhliche Scherze. Es herrschte Schweigen und die schlichten Gespräche, die man sonst zu solchen Gelegenheiten führte, erstarben bereits nach wenigen Wortwechseln. Sie standen alle noch unter Schock, fühlten sich, als seien sie nicht selbst Bewohnerinnen und Bewohner ihrer sterblichen Hüllen, als habe jemand Anderes die Führung übernommen, während ihre eigenen Seelen im Nirgendwo herumirrten, auf der Suche nach Ruhe, Trost und Heilung.
"Wie geht es deinem Mann, Johanna?", fragte Zebedäus. "Ist er nicht ungehalten, wenn du am Schabbatabend nicht zu Hause bist?"
"Nein.", antwortete Johanna. "Er hat bei Hof zu tun. Herodes Antipas ist kein frommer Mann, er lässt seine Diener auch am Tag des Herrn arbeiten, wenn er meint, dass er sie braucht."
"Aber was hat ein Verwalter des Königs ausgerechnet am Schabbat zu tun?", fragte Maria Alphäus verwundert.
"Herodes hat eine kostspielige Gemahlin. Herodias verbraucht mehr Gold für Salböle, Kleider und Geschmeide in einem Monat, als der Hof für Essen und Trinken zur Verfügung hat. Chuzas muss ständig neue Berechnungen anstellen, Einsparungen vornehmen und neue Quellen für Einkünfte erschließen."
"Dann ist er sicher froh, dass er dich in guter Gesellschaft weiß.", meinte Maria Magdalena schmunzelnd. "hatte er eigentlich jemals Schwierigkeiten, weil seine Frau einem Freund und Verwandten eines Feindes des Königs folgt?"
"Du meinst die Verwandtschaft mit Johannes dem Täufer? Ich glaube Herodes Antipas ist sich dieser Verbindung gar nicht bewusst. Er hat Johannes aus dem Weg geräumt, weil er ihm lästig war. Jesus hat ihn nicht weiter gestört. Wenn ihm jedoch jemand etwas darüber erzählt hätte, hätte Chuzas zumindest seinen Posten verloren, wenn nicht Schlimmeres. Anfangs habe ich ja auch nur von Jesus gehört und ihn mal bei großen Menschenansammlungen aus der Ferne gesehen. Oft bin ich gar nicht aus dem Haus gegangen. Ich hatte ja dauernd diese berstenden Kopfschmerzen, dazu Schnupfen und Niesattacken und tränende Augen, ich konnte oft gar nicht unter Leute gehen. Das war zuerst der Grund, warum ich seine Nähe gesucht habe. Er war ein großer Heiler, das hatte ich gehört und ich war von einer gewissen Hoffnung beseelt, dass er mein Leiden lindern könnte."
"Und? Hat er es gelindert?", fragte Frau Zebedäus.
"Gelindert?", erwiderte Johanna. "Nein. Er hat mich vollständig geheilt. Er fragte mich nach meinem Namen. Dann sagte er: 'Johanna, du bist sehr krank. Willst du gesund werden?' Ich antwortete: 'Auf jeden Fall, das ist mein größter Wunsch, damit ich meinen Mitmenschen von Nutzen sein kann, statt tagelang auf dem Lager zu greinen'. Er legte eine Hand auf meine Stirn und sprach ein Gebet. Und sofort spürte ich eine Leichtigkeit und Klarheit in meinem Kopf, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr kannte. Meine Nase war frei, meine Augen trocken. Da habe ich mich entschlossen, ihm künftig zu folgen, mich nützlich zu machen, ihn nach allen Kräften zu unterstützen. Darum bin ich zu Eurer Gemeinschaft gestoßen, weil ich Jesus helfen wollte bei seinem guten Werk."
"Und dein Mann war damit einverstanden?", fragte Frau Zebedäus.
"Anfangs nicht.", antwortete Johanna. "Zuerst habe ich es sogar vor ihm geheim gehalten. Ich war mir nicht sicher, was er davon hielt und wollte keinen Streit oder es mir am Ende von ihm verbieten lassen. Eines Abends kam ich später heim als er und es war noch kein Essen vorbereitet. Da war er sehr ungeduldig und außerdem zweifelte er an meiner ehelichen Treue, darum musste ich alles zugeben, sonst hätte er mir nicht geglaubt, dass ich keinen Liebhaber hatte. Einerseits war er erleichtert, dass ich tatsächlich das treue Eheweib war, für das er mich bis dahin gehalten hatte, andererseits, war er wütend, dass ich ohne sein Wissen solch ein Risiko einging. Er hatte Sorge um seine Stellung und auch vor schlimmeren Strafen. Doch ich konnte ihn überzeugen. Es ist schön, eine gute Arbeit zu haben, von der man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, aber wenn man dafür seine Seele verkaufen und den Speichel seiner Herren lecken muss, dann ist es keine gute Arbeit mehr. Ich sagte ihm, dass Herodes viel zu eingebildet sei, um sich auch nur einen Augenblick mit Jesus von Nazareth zu beschäftigen und falls er ihn doch des Palastes verweise, dann würde Jesus uns schon helfen, einen neuen Platz für ihn zu finden. Er hatte mich geheilt, er hatte sogar Tote auferweckt. Was konnte uns da ein machtloser Stellvertreter-König wie Herodes schon anhaben?"
"Aber jetzt ist Jesus tot.", sagte Maria Magdalena. "Will dein Mann dich da nicht ganz und gar zurück haben?"
"Ich bleibe Jesus treu.", antwortete Johanna. "Auch über den Tod hinaus. Wir müssen sein Werk vollenden."
"Bleib den Schabbat über bei uns und sei unser Gast.", sagte Frau Zebedäus lächelnd.
"Und kommst du Sonntagmorgen mit zum Grab des Meisters?", fragte Maria Magdalena.
"Um den Leichnam zu salben?", fragte Johanna. "Auf jeden Fall."
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