Samstag, 19. Februar 2022
Was Worte vermögen
Worte können vernichten und aufrichten, verletzen und trösten, beleidigen und schmeicheln, erniedrigen und stärken. Sie können uns wütend machen, aber auch unser Herz anrühren. Sie sind Ausdruck unseres Denkens und sie beeinflussen unser Denken und Fühlen.

Im Predigttext für den 20.02. ist vom Wort Gottes die Rede. Ein Kurzer Text aus dem Hebräerbrief: ?Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam. Es ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch und durch. Es durchdringt Seele und Geist, Mark und Bein. Es urteilt über die Gedanken und die Einstellungen des Herzens. Kein Geschöpf bleibt vor Gott verborgen. Nackt und bloß liegt alles offen vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schuldig sind.? (Hebräer 4, 12-13)

Wenn in der Bibel vom Wort Gottes die Rede ist, dann sind immer die Schriften des Alten und Neuen Testamentes gemeint. In der jüdischen Tradition haben die schriftlichen Überlieferungen einen besonders hohen Stellenwert, Schriftrollen werden mit besonderer Sorgfalt und Ehrfurcht behandelt und die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam gelten auch als die Buchreligionen.
Was ist das herausragende aus den von religiös motivierten Menschen verfassten und überlieferten Texten? Kann nicht auch profane Literatur lebendig, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert sein?

Ich jedenfalls habe schon manche gute Bücher gelesen, in denen ich Sätze wie Perlen gefunden habe. Ich kenne Gedichte und Lieder von so gewaltiger poetische Größe, die so anrühren oder treffen, dass sie etwas auslösen, etwas bewirken, auch wenn sie nicht beanspruchen, das Wort Gottes zu sein.

In dem Buch ?Gott ist schön?, Navid Kermanis Dissertation über das ästhetische Erleben des Koran, wird die Wirkung traditioneller Koranrezitationen eindrucksvoll beschrieben. Worte die so schön sind, dass sie ergreifen, zu Tränen rühren, die Seele erreichen, nachhaltig beeindrucken, nicht durch ihre Bedeutung sondern allein durch die Schönheit ihres Klangs.
In abgemilderter Form kenne ich das auch. Gerade die Luther-Übersetzung der biblischen Texte, so schwer verständlich und unzeitgemäß sie auch ist, übt auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Luther war ein Wortkünstler, bediente sich eines Versmaßes und erschuf Bilder, Assoziationen, Gefühle.
Mir geht es allerdings nicht so wie den strenggläubigen Muslimen, dass die Worte mich in Verzückung geraten lassen. Ob die islamischen Überlieferungen von zutiefst ergriffen Zuhörenden ins Reich der Legenden gehören oder sich tatsächlich so ereignet haben, sei dahingestellt, vielleicht sind diese Geschichten die Ursache dafür, dass der Koran als über jeden Zweifel erhabenes Wort direkt von Allah gilt, das nicht verändert, gekürzt oder erweitert werden darf. Vielleicht unterstreichen die Legenden aber auch diese theologische Intention.
Juden, Jüdinnen und Christ*innen gehen mit ihren Texten etwas freier um, obwohl es auch in manchen biblischen Texten heißt, man dürfe nichts weglassen oder hinzufügen.
Aber in der christlichen Tradition herrscht das Bewusstsein, dass biblische Texte von Menschen zusammengestellte uralte Quellen sind, die von Personen verfasst wurden, die von göttlichen Eingebungen inspiriert waren. Auch in unserer Glaubensgemeinschaft gibt es Vertreter*innen des über jeden Zweifel erhabenen Gotteswortes. Aber es gibt auch die Theologie der historisch-kritischen Perspektive, die Frage nach dem warum, nach dem Zusammenhang.
Im Islam ? da ist diese Religion m.E. der jüdischen und christlichen überlegen ? hat die verpflichtende Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte eines koranischen Textes von Anfang an Tradition, hier dürfen Verse oder Suren nicht einfach isoliert betrachtet werden, um sie absichtlich misszuverstehen und für persönliche oder politische Zwecke zu missbrauchen. Von den Islamisten wird das nicht beherzigt, was sie als Muslime eigentlich disqualifiziert. Es gibt auch eine Fraktion der sogenannten ?Verbalinspirierten? unter den Christ*innen, die jeden Vers wortwörtlich nehmen, aus dem Zusammenhang reißen und den politischen und kulturgeschichtlichen Kontext ausblenden.

Warum können wir biblische Texte nicht das sein lassen, was sie sind? In Form gebrachte Gedanken von Menschen mit großen spirituellen Erfahrungen, die uns anregen, inspirieren, berühren, bewegen und verwandeln? Die uns in Kontakt, ins Gespräch und in Beziehung bringen, die uns unsere Verantwortung bewusst machen. Und das alles im Angesicht einer Schöpfung, die größer und gewaltiger ist, als wir erfassen können, aber von der wir ein Teil sind und in der wir sein dürfen wer wir sind, unverfälscht und unverstellt, aufrecht, klar, schwach oder stark, offen und frei.

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