Samstag, 10. September 2022
Gene werden überschätzt
Wie kommen Menschen eigentlich darauf, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation, die Geburt in einem bestimmten Landstrich, die familiäre Herkunft irgendetwas darüber aussagt, wie viel sie wert sind, ob sie auf der richtigen Seite stehen, ob sie zu den Guten gehören?
Ich weiß es nicht, aber diese Vorstellung scheint so alt wie die Menschheit zu sein und bereits Jesus von Nazareth (und vor ihm schon alttestamentarische Autoren) hat dem widersprochen.
Der Predigttext des kommenden Sonntags ist hinlänglich bekannt:
Jesus wird von einem Mann angesprochen, der wissen will, was er tun muss, um in den Himmel zu kommen. Jesus erklärt: An die Gebote halten und seinen Nächsten lieben. Der Mann fragt, wer denn sein Nächster sei. Daraufhin erzählt Jesus ihm diese Geschichte:
Auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem wird ein reisender Geschäftsmann überfallen und ausgeraubt. Er liegt schwer verletzt am Straßenrand. Ein Priester kommt vorbei und kümmert sich nicht, weil er keine Zeit hat, denn er muss in die Synagoge / den Tempel und predigen. Danach kommt ein Levit (ein Tempeldiener, eine Art Küster) und eilt auch vorbei, weil er keine Zeit hat. Schließlich kommt ein Samariter, der einer anderen Religionsgemeinschaft angehört als die Juden. Der Samariter versorgt die Wunden des Verletzten, bringt ihn in ein Wirtshaus und zahlt im Voraus Unterkunft, Essen und weitere Pflege. Er kündigt außerdem an, dass er in einigen Tagen nach dem Mann sehen will.
Jesus fragt den Mann, wer von den Dreien, also Priester, Levit und Samariter, richtig gehandelt hat. Der Mann sagt: "Der, der ihm geholfen hat."
"Richtig", sagt Jesus. "Also geh hin und mache es genauso."

Hier der Originaltext:

https://www.bibleserver.com/LUT/Lukas10%2C25-37
Die Botschaft ist denkbar einfach: Wer zu den Guten gehören will, muss bedingungslos helfen. Und ob jemand zu den Guten gehört, entscheidet nicht, welcher Gruppe er angehört, sondern wie er sich verhält. Ein muslimischer Helfer ist also ein besserer Christ als ein Pfarrer/Küster/Presbyter, der wegsieht und die Hilfe verweigert.

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Samstag, 3. September 2022
Arschlochkinder
Simon war eine Plage. In der Kindergruppe nervte er die Ehrenamtlichen mit ständigem Genörgel, alles war doof, langweilig, schlecht vorbereitet, ungerecht? alle wünschten sich, dass er einfach weg bliebe, aber er kam immer wieder. Als er dann endlich zu alt für die Gruppe war, musste er verabschiedet werden, damit er nicht einfach weiter kam.

Zwei Jahre später tauchte er wieder auf. Nahm an einem Trainee-Kurs teil. Danach an einer Jugendleiter-Schulung, unterstützte den neuen Leiter der Kindergruppe übernahm die Gruppe, fuhr auf Freizeiten mit, half bei der Gestaltung von Festen und Jugend-Events, übernahm Verantwortung, war immer da, wo helfende Hände gebraucht wurden, wurde Vorstandsmitglied im Trägerverein, wurde unverzichtbar.

Solche Geschichten sind kein Einzelfall. Oft sind es die nervigen, quengeligen, renitenten, auffälligen Kinder, aus denen später die besten Mitarbeitenden werden.

Woran liegt das? Vielleicht, weil sie noch etwas wollen vom Leben, weil ihnen nicht alles egal ist, weil diejenigen, die als Kinder nicht überall so problemlos durchgeflutscht sind, viel mehr Verständnis haben für die Sorgen und Nöte der nächsten Generation. Weil Menschen, die sich verirrt haben und dann auf den richtigen Weg zurück gefunden haben, viel klarer sind und viel deutlicher wissen, warum sie tun, was sie tun. Solche Menschen sind keine leidenschaftslosen Mitläufer, solche Menschen heben die Welt aus den Angeln. Manchmal zum Leidwesen aller, aber wenn sie wieder in die Spur kommen, werden sie zu Säulen einer Gemeinschaft.

Es gab da in den Anfängen des Christentums einen brutalen Christenverfolger, einen jüdischen Dschihadisten, ein Riesenarschloch. Dem wurde eines Tages klar, dass er total daneben lag, dass er die falschen Leute bekämpfte.
Ein berühmter Predigttext am 04. September. Quelle eines geflügelten Wortes. Vom Saulus zum Paulus werden.
https://www.bibleserver.com/NG%C3%9C/Apostelgeschichte9%2C1-20

Ich mag den Paulus ja noch immer nicht. Er konnte das Fanatische und das Exklusive nie ganz ablegen. Aber das ist meine persönliche Meinung.
Diese Geschichte hingegen steht beispielhaft für die guten Mächte, die sogar aus Verbrechern Heilige machen können. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch so etwas Gutes, Helles und Lebensbejahendes in sich trägt. Sogar Putin.

Und wenn ihr ein Kind seht, bei dem ihr glaubt, da sei "Hopfen und Malz verloren", gebt es nicht auf. Vielleicht wird es eines Tages die Welt retten.

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Samstag, 27. August 2022
Publikumsbeschimpfung - frei nach 2. Samuel 12, 1-15
Eine Kabarettistin begann, nachdem sie die Zuhörenden bereits zwanzig Minuten zum Lachen gebracht hatte mit folgender Geschichte:
"Das, was ich Ihnen jetzt erzähle hat sich zugetragen in einem armen Land, so eines, was man früher Dritte Welt nannte. Es gab dort einen reichen Großgrundbesitzer, der auf seinem Land einige Pächter beschäftigte. Natürlich beutete er sie aus, aber sie konnten leidlich überleben. Eines Tages bekam er überraschend hohen Besuch, so Leute, die man fürstlich bewirten muss, damit man bei ihnen etwas gilt und sie einen in ihrer Liga mitspielen lassen. Er besaß reichlich Vieh: eine ansehnliche Schafherde und einige Rinder. So ein geschmortes Lamm war genau das richtige, aber die Lämmer der Herde waren schon verplant und ein ganzes Rind zu schlachten, wäre Verschwendung gewesen. Es gab auch gerade keine Möglichkeit, Schafe zu kaufen, also suchte er einen seiner Pächter auf, der ein einziges Schaf besaß, ein Lamm, das schon ordentlich Fleisch angesetzt hatte. Der Mann hatte das Tier von Hand aufgezogen und liebte es wie eine Tochter. Das mag befremdlich klingen, aber er war einsam und lebte mit dem Tier wie mit einem Familienangehörigen.
Der Großgrundbesitzer faselte etwas von Pachterhöhung wegen explodierender laufender Kosten, schickte zwei Angestellte, ließ das Schaf abholen, schlachten und zubereiten. Wie finden Sie das? Alle, die meinen, der Großgrundbesitzer müsse dem armen Mann das Lamm ersetzen, heben bitte die Hand."

Nahezu alle Hände gingen nach oben.
Die Kabarettistin fragte weiter: "Alle, die meinen, der Großgrundbesitzer müsse dem armen Mann das Lamm vierfach ersetzen, heben bitte die Hand."
Es bot sich das gleiche Bild.
"Alle, die meinen, der Großgrundbesitzer verdiene die Todesstrafe, heben bitte die Hand."
Tatsächlich gingen immer noch etliche Hände hoch, nur nicht mehr so viele.
"Soso.", sagte die Kabarettistin. "So seht ihr das also. Interessant. Wisst ihr was? Ihr seid dieser Großgrundbesitzer. Ihr als Angehörige einer reichen Industrienation. Ihr als Gruppe, aber auch jede und jeder Einzelne von Euch, bis auf wenige Ausnahmen, die sich redlich um etwas Anderes bemühen. Ihr seid reichlich gesegnet mit sauberem Trinkwasser, fruchtbarem Boden, ansehnlichen Getreideernten, Kartoffeln und Futterpflanzen auf den Feldern, Äpfel, Birnen, Pflaumen, Beeren, Kohl, Karotten, Spinat, Bohnen, Erbsen, Kürbissen, Nüssen und noch viel mehr in den Gärten. Menschen, die satt werden, die arbeiten können, gut ausgestattete Industrieanlagen, funktionierende Infrastruktur - auch wenn die Bahn deutlich nachgelassen hat - ein demokratisches System, in dem man sich einbringen kann, ohne um seine Freiheit fürchten zu müssen.
Aber ihr kriegt den Hals nicht voll. Ihr braucht unbedingt Orangen, Avocados, Mangos, Papayas, Kokosmilch, Basmati-Reis, Tofu, Sojamilch? und das ist erst der Anfang einer schier unendlichen Lebensmittelliste. Dazu kommen all die mit geringsten Lohnkosten unter menschenunwürdigen Bedingungen produzierten Konsumgüter, die ihr gierig zusammenkauft: Berge von Klamotten, die ihr nicht braucht, Unterhaltungselektronik, ständig neue Mobiltelefone, irrwitzige Ausstattungen für eure halbherzigen, sportlichen Bemühungen.
Das, was der Schöpfer Euch reichlich geschenkt hat, habt ihr mit Geringschätzung behandelt und gierig nach dem gegriffen, was euch nicht gehört. Ihr habt Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage gestohlen, ihre Kraft, ihre Lebenszeit, ihre Würde. Darum wird der Schöpfer euch so bestrafen, wie ihr es eben gefordert habt: Alles zurückzahlen. Vierfach. Und sogar mit dem Leben bezahlen. Denn von nun an wird sich die Schöpfung gegen euch richten. Ihr werdet kämpfen müssen gegen die feindliche Natur, die täglich euer Leben bedroht, bis sie euch dahinrafft mit Hitze, Dürre, Überflutungen, Stürmen, klirrenden Frösten, Insekten, Viren und Bakterien. Das habt ihr euch verdient."

Eine Weile herrschte betretene Stille im Saal. Da erhob sich eine Frau aus dem Publikum. Sie sprach etwas zaghaft, aber alle konnten sie hören: "Wir haben uns strafbar gemacht gegenüber der Schöpfung und gegenüber unseren Mitmenschen. Kein Wunder, dass wir jetzt unser Fett weg kriegen."

Die Kabarettistin antwortete: "Es ist noch nicht zu spät. Wir können unser Verhalten ändern. Wir werden grausame Verluste hinnehmen müssen, aber wir müssen nicht untergehen. Wenn wir jetzt anfangen, Menschen in ärmeren Ländern zu unterstützen und den Raubbau an dieser Erde zurückzufahren. Wenn wir unsere Energie in die Lösung der anstehenden Probleme investieren, statt in die Entwicklung von Accessoires für verrückte und ressourcenintensive Freizeitaktivitäten. Unser Leben hat einen Sinn. Wir haben ihn nur verloren und müssen ihn wiederfinden und in diesem Sinne leben. Dann haben wir noch eine Chance."

Im Predigttext für den kommenden Sonntag geht es vordergründig um ein anderes Fehlverhalten, aber unterm Strich ist es das Gleiche. Lesen Sie selbst:

https://www.bibleserver.com/LUT/2.Samuel12%2C1-15

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